LYDA

Kleine blaue Schachtel

Um die Zeit totzuschlagen, flicht Lyda ihre Sitzmatte wieder und wieder neu, doch das Ergebnis stellt sie nie zufrieden. Sie summt die Melodie von »Morgen kommt der Weihnachtsmann«.

Niemand ist sie besuchen gekommen, nicht ihre Mutter, keine Ärzte, niemand. Die Wachen bringen Essen auf Tabletts, das ist alles.

Die Rothaarige ist verschwunden, nachdem sie ihre Botschaft in das kleine rechteckige Fenster in der Tür getippt hatte. Vielleicht war sie ja doch verrückt gewesen. Wer hätte gedacht, dass es so viele Leute gab, die glaubten, sie könnten das Kapitol stürzen? Sag es ihm. Wem – Partridge? Denkt sie vielleicht, Lyda könnte mit ihm kommunizieren? Und warum sollte Lyda ihm diese Nachricht überbringen, selbst wenn sie könnte? Die Rothaarige muss verrückt sein. Manche Leute hier sind tatsächlich verrückt. Deshalb gibt es diese Anstalten. Lyda ist eine Ausnahme, nicht die Regel.

Am nächsten Morgen war ein anderes Mädchen in der Zelle der Rothaarigen. Eine neue, gelähmt vor Angst. Und Lyda war insgeheim erleichtert – was hätte sie der Rothaarigen nach dieser Botschaft schreiben sollen? Wenn sie jemals wieder hier rauswollte, dann durfte sie sich nicht dabei sehen lassen, wie sie sich mit Irren verbrüderte, ganz bestimmt nicht mit revolutionären Irren. Es gab keine Revolutionäre im Kapitol. Sie existierten nicht. Das war eine der schönen Seiten am Leben hier. Sie mussten sich keine Gedanken machen über diese Art von Konflikten, wie in der Zeit vor den Bomben – nicht mehr.

Lyda ist auch nicht mehr zur Beschäftigungstherapie abgeholt worden. Sobald man ihr das Privileg geschenkt hat, hat man es ihr auch schon wieder genommen. Sie hat die Wachen gefragt, wann sie wieder hin darf, doch die Wachen wissen nichts. Sie hätte nach weiteren Informationen fragen können, doch das scheint ihr zu gefährlich. Damit würde sie zugeben, dass sie nichts weiß. Und sie will den Eindruck machen, dass sie Bescheid weiß.

Heute jedoch erscheinen zwei Wachen vor dem Essen und nehmen sie mit zum Medizinischen Zentrum.

»Ist meine Verlegung durch?«, fragt Lyda.

»Das wissen wir nicht«, antwortet eine der beiden. Lyda hat die Frau noch nie gesehen. Ihre Partnerin wartet draußen vor der Tür. »Im Augenblick haben wir keine weitergehenden Informationen. Wir wissen lediglich, wo wir dich abliefern sollen.«

Bevor sie gehen, legen sie Lyda eine Plastikfessel an. Sie ziehen die Fessel so fest, dass Lyda ihren Puls spürt.

Dann begegnen sie zwei Ärztinnen draußen auf dem Gang. »Ist das wirklich nötig?«, flüstert die eine der anderen zu. »Denk doch an Jillyce.« Jillyce ist Lydas Mutter. Es kommt ihr unwirklich vor, andere mit solcher Intimität über ihre Mutter reden zu hören. Sie wollen nicht, dass ihre Mutter Lyda gefesselt sieht. Die Schande, die Peinlichkeit. Bedeutet das, dass sie ihre Mutter noch einmal sieht, bevor sie weggebracht wird?

Aus Barmherzigkeit befehlen sie den Wachen, die Handschellen abzunehmen. Die Wache ist nur ein paar Jahre älter als Lyda. Für einen Moment fragt sich Lyda, ob sie früher auch die Akademie besucht hat und ob sie sich vielleicht schon einmal in den Gängen begegnet sind. Die Wache zieht ein großes Messer mit roten Griffen hervor und schiebt es zwischen Lydas Handgelenken unter die Fessel. Für einen Moment stellt sich Lyda vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sie ihr die Handgelenke aufschlitzt. Sie trägt immer noch den weißen Overall und das Kopftuch. Das Blut würde hellrot leuchten auf dem Gewebe. Sie wird angewiesen, die Hände vor dem Körper zu verschränken, und Lyda gehorcht. So geht es weiter.

Sie hält nach ihrer Mutter Ausschau, als sie das Therapiezentrum verlassen, doch die ist nirgendwo zu sehen.

Die Wachen begleiten sie in einem einzelnen Waggon zum Medizinischen Zentrum, wo sie aussteigen und Lyda durch weitere Gänge führen. Sie war noch nie im Medizinischen Zentrum, außer als ihr die Mandeln rausgenommen wurden und einmal wegen einer leichten Grippe. Die Akademie-Mädchen bekommen keine Codierung. Die Gefahr ist zu groß, dass ihre Fortpflanzungsorgane Schaden nehmen könnten, und die sind wichtiger als ein schärferer Verstand oder ein stärkerer Körper. Ihre Chancen auf eine Zulassung zur Fortpflanzung gehen allerdings inzwischen gegen null. Die etwas Älteren, die sich nicht fortpflanzen dürfen, können für eine Hirncodierung herangezogen werden. Doch auch dafür ist sie wohl keine geeignete Kandidatin. Warum ein Gehirn verbessern, das psychisch beeinträchtigt ist? Sie weiß allerdings auch, dass es eine Chance gibt, dass das Neue Eden noch zu ihren Lebzeiten Wirklichkeit wird. Wird an diesem Punkt nicht jeder, der sich noch fortpflanzen kann, für die Neubesiedlung gebraucht? Selbst diejenigen, die eine Zeit lang im Therapiezentrum gesessen haben, wie sie? Sie hat noch Hoffnung.

Die Tapete hat ein Blumenmuster wie in der Eingangshalle eines Privathauses im Davor. Es gibt sogar zwei Schaukelstühle, wie eine Einladung, sich hinzusetzen und eine Weile zu plaudern. Vermutlich soll es die Leute beruhigen, denkt Lyda. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die im Small-Talk-Unterricht gut waren, musste Lyda die Liste mit den angemessenen Fragen auswendig lernen, um ein Gespräch in Gang halten zu können. Unterhaltungen sind für sie eine Qual, und sie fürchtet das Ende, als ginge etwas Bedeutsameres, Wichtigeres zu Ende. Sie muss daran denken, was Partridge zu ihr gesagt hat, als er vorgeschlagen hat zu tanzen. Machen wir das, was normale Leute machen. Damit niemand Verdacht schöpft. Sie ist nicht normal. Genauso wenig wie er.

Aber dieser kurze Eindruck von gemütlichem, häuslichem Leben täuscht niemanden. Nicht angesichts der summenden, flackernden Leuchtstoffröhren an der Decke. Nicht mit den fahlen Zimmern, in die man manchmal hineinspähen kann, wenn eine Tür aufgeht, in denen eine Mumienform auf einer flachen Pritsche liegt, mit Gittern zu beiden Seiten. Ist jemand in der Form? Sie kann es nicht sagen, nicht mit dem Krankenhauspersonal mit seinen Masken und Handschuhen und Kitteln, das unablässig hin und her rennt.

Ein Stück voraus steht eine lange Schlange von Akademie-Jungen. Ihre Augen huschen die Reihe entlang. Einige erkennen sie – ihre Augen weiten sich, als sie sie erkennen. Einer grinst sie an. Sie weigert sich, den Blick abzuwenden. Sie hat nichts Falsches getan. Sie hebt den Kopf und sieht starr geradeaus, richtet den Blick auf eine Telefonzelle, die am Ende des Ganges an die Wand montiert ist.

Sie hört jemanden ihren Namen flüstern. Sie hört Partridges Namen. Sie will die Jungen fragen, was man ihnen erzählt hat, welche Geschichte, irgendetwas, selbst die Lüge, die gestreut wurde, ist besser als nichts.

Am Ende des Korridors bleiben sie vor einer Tür stehen. Neben der Tür hängt ein Namensschild: ELLERY WILLUX. Ihr stockt der Atem. »Warten Sie«, sagt sie zu den Wachen. »Das … das habe ich nicht gewusst.«

»Wenn man dich nicht informiert hat, sollte es wohl eine Überraschung sein«, sagt die Wache, die ihre Fessel durchgeschnitten hat.

»Geben Sie mir eine Minute«, bittet Lyda. Ihre Handflächen sind plötzlich verschwitzt. Sie wischt sie an den Beinen des weißen Overalls ab.

Die andere Wache klopft. »Wir sind pünktlich«, sagt sie.

»Herein«, ruft eine Männerstimme.

Willux ist kleiner, als sie ihn in Erinnerung hat. Seine Schultern sind rund und nach vorn gebeugt. Sie kennt ihn als robusten, energischen Mann. Er war derjenige, der die Ansprachen gehalten hat bei öffentlichen Versammlungen und Gedenkfeiern. Dann hat Foresteed vor ein paar Jahren diese Aufgabe übernommen, ohne weitere Erklärung. Vielleicht, weil er jünger ist und weil seine Zähne strahlen, als hätte er den Mond verschluckt. Willux ist alt geworden. Viele der wichtigsten Männer im Kapitol wirken glatt und durchtrainiert, doch Willux sieht geradezu gebrechlich aus mit seinem weichen Spitzbauch.

Er dreht sich um auf seinem Sessel vor einer Batterie von Monitoren und Tastaturen und lächelt zurückhaltend. Er setzt seine Brille ab – er trägt tatsächlich eine Brille. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden mit einer Brille gesehen hat. Er faltet die Brille und hält sie vor seine Brust. »Lyda«, sagt er.

»Guten Tag«, sagt sie und streckt die Hand aus.

Er schüttelt den Kopf. »Lassen wir die Förmlichkeiten«, sagt er, doch es fühlt sich an wie Ablehnung. Oder Zurückweisung? Ist sie unsauber, nachdem sie Patientin im Therapiezentrum war? »Setz dich.« Er deutet auf einen kleinen schwarzen Hocker. Sie nimmt darauf Platz, vorn auf der Kante. Er nickt den Wachen zu. »Wir unterhalten uns allein«, sagt er. »Danke, dass Sie sie heil und wohlbehalten hergebracht haben.«

Die Wachen verneigen sich leicht. Diejenige der beiden, die ihre Fesseln durchgeschnitten hat, sieht sie ein letztes Mal an, als wollte sie ihr Mut zusprechen. Dann gehen sie. Die Tür schließt sich hinter ihnen.

Willux legt seine Brille auf den Schreibtisch neben eine kleine blaue Schachtel. Sie ist gerade groß genug für einen Napfkuchen. Lyda erinnert sich an den Napfkuchen vom Ball, die weiche, schwammige Struktur, die beinahe zu große Süße eines jeden Happens und daran, wie sie über die großen Bissen gestaunt hat, mit denen Partridge seinen Kuchen verschlungen hat. Er hat mit Hingabe gegessen. Was wohl in der Schachtel sein mag?

»Ich nehme an, du hast gehört, dass mein Sohn verschwunden ist?«, beginnt Willux ohne Umschweife.

Lyda nickt.

»Vielleicht weißt du noch nicht, dass er wirklich gegangen ist.«

»Gegangen?« Lyda ist nicht sicher, was er meint. Ist Partridge tot?

»Er hat das Kapitol verlassen«, sagt Willux. »Und ich würde gerne dafür sorgen, dass er sicher hierher zurückkehrt, wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst.«

»Oh«, sagt Lyda. Selbst die im Therapiezentrum eingesperrten Mädchen wussten es. Er ist irgendwo da draußen. Soll sie sich überraschter zeigen? »Natürlich wollen Sie ihn zurück. Selbstverständlich.«

»Es gibt Gerüchte, dass er recht angetan war von dir.« Willux hebt die Hand und streicht sich über das dünne Haar. Sein Kopf ist nahezu kahl und erinnert sie an einen Babykopf und das Wort Fontanelle – die weiche Stelle oben auf dem Kopf eines Babys, wo man den Puls sehen kann.

Sie hatten viel Unterricht über die richtige Versorgung von Säuglingen. Sie dachte immer, das Wort Fontanelle wäre passender gewesen für etwas Exotisches, einen italienischen Brunnen zum Beispiel. Seine Hand zittert. Ist er nervös? »Ist das zutreffend? War er verliebt in dich?«

»Ich weiß nicht, was er empfunden hat. Ich kenne nur mein eigenes Herz«, sagt Lyda.

»Dann lass mich einfacher anfangen«, sagt er. »Wusstest du Bescheid über seine Pläne?«

»Nein.«

»Hast du ihm bei der Flucht geholfen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Hat er ein Messer aus der Ausstellung gestohlen, und hast du dies zugelassen?«

»Möglicherweise hat er etwas gestohlen, als ich nicht hingesehen habe. Ich weiß es nicht. Wir waren zusammen in der Ausstellung.«

»Doktorspiele?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagt Lyda. »Nein.«

»Ich denke doch, dass du es weißt.« Er tippt mit drei Fingern auf die hellblaue Schachtel.

Sie hat plötzlich Angst vor dem Inhalt der Schachtel. »Nein, weiß ich nicht.«

Er beugt sich vor, senkt die Stimme. »Bist du jungfräulich?«

Sie spürt, wie die Hitze in ihre Wangen steigt. Ihre Brust ist wie zugeschnürt. Sie weigert sich zu antworten.

»Ich kann jederzeit eine Frau kommen lassen, die dich untersucht«, sagt er. »Oder du sagst mir einfach die Wahrheit.«

Sie starrt auf den gefliesten Boden.

»War es mein Junge?«, fragt er.

»Ich habe Ihre Frage nicht beantwortet«, sagt Lyda. »Und ich werde es auch nicht.«

Er beugt sich vor und tätschelt ihr Knie, dann lässt er die Hand dort liegen. »Keine Angst«, sagt er.

Ihr ist übel. Sie will ihn treten. Sie schließt die Augen, kneift sie zusammen. Seine Hand gleitet von ihrem Knie. Sie blickt zu Boden.

»Wenn es mein Sohn war, können wir es immer noch so arrangieren, dass alles seine Richtigkeit hat. Wenn wir ihn finden, heißt das, und ihn nach Hause zurückbringen können.«

»Ich muss ihn nicht unbedingt heiraten«, sagt Lyda. »Falls es das ist, was Sie meinen.«

»Aber vielleicht wäre es schön? Ich meine, nach den jüngsten Ereignissen und deiner Vorgeschichte wird es nicht einfach werden für dich, einen Platz zu finden.«

»Ich werde schon überleben.«

Für einen Moment herrscht Stille im Raum. »Meinst du?«, fragt Willux dann beinahe gelangweilt.

Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Sie merkt, dass sie die Hände im Schoß ineinander verschränkt hat, so fest, dass die Nägel sich in die Haut drücken.

»Wir haben einen Plan, und deine Mitwirkung ist erforderlich«, sagt Willux. »Du wirst nach draußen gehen.«

»Wohin nach draußen?«

»Aus dem Kapitol. Auf die andere Seite.«

»Aus dem Kapitol?« Das ist die Todesstrafe. Sie wird ersticken. Man wird sie angreifen. Die Unglückseligen werden auftauchen, sie vergewaltigen, sie zerreißen. Draußen, außerhalb des Kapitols, haben die Bäume Augen und Zähne. Das Erdreich verschlingt jedes Mädchen, das noch eine halbwegs menschliche Gestalt hat. Sie jagen und fangen dich und grillen dich bei lebendigem Leib und fressen dich auf. Dorthin schickt er sie. Nach draußen.

»Die Spezialkräfte werden dich zu einem bestimmten Ort bringen, und du wirst meinen Sohn dazu bringen, dass er zu uns zurückkehrt.«

»Sind Sie sicher, dass er noch lebt?«

»Ja. Zumindest bis vor ein paar Stunden, und seither ist nichts vorgefallen, das eine Änderung dieses Zustands vermuten lässt.«

Sie spürt eine gewisse Erleichterung. Vielleicht kann sie Partridge tatsächlich zur Rückkehr bewegen. Vielleicht würde Willux sie sogar heiraten lassen. Aber was wird aus ihr, wenn sie herausfinden, dass Partridge sie nicht liebt? Dass er lediglich freundlich sein wollte, nachdem sie den Diebstahl des Messers geduldet hat?

Willux verschränkt die Hände und ruft nach einem unsichtbaren Assistenten. »Spiel Sektion Eins-siebenundzwanzig ab. Partridge«, befiehlt er, und an Lyda gewandt. »Damit du dich selbst überzeugen kannst.«

Das Display flammt auf, und Partridge erscheint. Er ist schmutzig, erschöpft, zerschrammt, doch es ist Partridge, kein Zweifel. Seine hellgrauen Augen, seine starken Schneidezähne, von denen der eine ein Stückchen vor dem anderen steht. Der Blickwinkel ist der einer anderen Person. Die Augen von jemand anderem – die Augen eines Mädchens. Lyda sieht es, als sie an sich herunterblickt und dann wieder auf Partridge. »Ich wusste es nicht«, flüstert Partridge ihr zu. »So etwas hätte ich nie verheimlicht. Nicht vor dir, meine ich.« Der Blick geht wieder zu Boden.

Was verheimlicht?, fragt sich Lyda. Es ist offensichtlich, dass Partridge dieses Mädchen gut kennt. Lyda wünschte, sie könnte ihr Gesicht sehen. Das Mädchen sieht Partridge nicht mehr an. Ihre Augen gleiten über die Wand, vollgestellt mit alten, geborstenen, rostigen Maschinen. Sie befinden sich außerhalb des Kapitols, kein Zweifel.

»Ich wollte nur, dass du das weißt«, sagt Partridge, und dann kommt sein Gesicht wieder ins Blickfeld, und seine Hand ist in einen blutigen Verband gehüllt. Er hält sie gegen die Brust gedrückt. Partridge lächelt das Mädchen an.

Das Mädchen nickt – es wird offensichtlich, weil der Blickwinkel der Kamera kurz auf und ab schwankt.

»Was denkst du jetzt über sie?«, fragt das Mädchen. Reden die beiden über sie, fragt sich Lyda unwillkürlich. Warum sonst sollte Willux ihr diesen Clip zeigen?

»Ich weiß es nicht«, sagt Partridge.

Der Bildschirm wird schwarz.

»Er ist verletzt«, sagt Lyda. »Was ist mit seiner Hand passiert?«

»Eine unbedeutende Verletzung. Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest. Wir können so gut wie alles korrigieren, wenn er wieder hier ist.«

»Warum haben Sie mir diesen Ausschnitt gezeigt?«

»Damit du sehen kannst, dass er lebt und wohlauf ist, was denn sonst?«, entgegnet Willux.

Sie traut ihm nicht. Er hat ihr den kurzen Film gezeigt, um sie eifersüchtig zu machen. Tatsache ist, sie hat nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst belogen. Sie hat Partridge geküsst, nicht umgekehrt. Er hat ihr nie gesagt, dass er sie liebt. Es ist alles eine einzige Lüge. Er kann versuchen, sie eifersüchtig zu machen, wenn er will – es ist ihr egal. Sie war nie wirklich mit Partridge zusammen, deswegen kann sie ihn auch nicht verlieren.

Doch da ist noch etwas anderes. Partridge hat ihren Kuss erwidert, und als sie sich von ihm gelöst hat, war auf seinem Gesicht ein Ausdruck … er war unerklärlich. Erstaunt und glücklich. Sie denkt an sein Gesicht und lächelt. Soll Willux doch machen, was er will mit all seinen Informationen. Sie erinnert sich wieder an Partridges Worte: Machen wir das, was normale Leute machen. Damit niemand Verdacht schöpft. Er war derjenige, der es gesagt hat. Sie haben nur so getan, als wären sie normal. In Wirklichkeit waren sie anders als die anderen. Es war eine Art Geständnis, ein geteiltes Geheimnis.

»Warum lächelst du?«, reißt Willux sie aus ihren Erinnerungen.

»Es ist eine gute Nachricht«, antwortet Lyda. »Ihr Sohn ist am Leben.«

Willux mustert sie abschätzig, dann nimmt er die hellblaue Schachtel und schiebt sie ihr hin. »Du wirst diese Schachtel einer Soldatin übergeben«, sagt er. Wieder zittert seine Hand. »Wir hatten gehofft, sie würde mit uns zusammenarbeiten, doch sie hat sich bereits an der Ermordung eines unserer Agenten beteiligt.« Er atmet tief ein und seufzt. »Ich habe sie seit vielen Jahren beobachtet. Ein strahlender Lockvogel für jemanden, von dem ich hoffte, er würde sie eines Tages holen. Leider hat sie sich als ziemlich wertlos erwiesen.«

Ein strahlender Lockvogel, mit dem er jemandem in der Welt draußen eine Falle stellen wollte? Wem? »Darf ich fragen, was in der Schachtel ist?«, fragt Lyda schließlich zurückhaltend.

»Aber natürlich«, sagt er, und jetzt bemerkt sie auch ein Zittern in seiner Stimme, wenngleich kaum merklich, ein Tremor seines Kopfes. »Wirf einen Blick hinein. Ich denke nicht, dass du viel damit anfangen kannst, aber die Soldatin, Pressia Belze, wird die Botschaft verstehen, die wir ihr senden. Es könnte hilfreich sein, wenn es sie überzeugt, ihre Loyalitäten neu zu überdenken. Du kannst ihr sagen, dass das alles ist, was wir noch haben.«

Wovon noch haben?, fragt sie sich, doch sie sagt nichts. Sie will die Schachtel nicht öffnen, doch die Neugier lässt ihr keine Ruhe. Sie legt die Hand auf den Deckel und hebt ihn, und im Innern raschelt blaues Papier. Sie zieht es beiseite, und dort, eingebettet in ein Tuch, liegt ein kleiner schwarzer Ventilator mit durchgebranntem Motor.