PARTRIDGE

Pulse

Die Zikaden haben sich wieder zerstreut und sind verschwunden, mit Ausnahme der einen, die Pressias und Partridges Retinae gescannt hat. Es ist ein eigenartiges Gefühl, an seiner Netzhaut erkannt zu werden. Vermutlich hat Partridges Mutter so weit vorausgeplant vor den Bombenangriffen, dass sie seine Retinamuster aufgezeichnet hat. Wie sonst sollte es funktionieren? Die Präzision ihrer Voraussicht macht ihn fassungslos. Wenn sie so viel vorbereiten konnte, hätte sie dann nicht auch die Familie zusammenhalten können? Er muss wissen, was in den letzten Tagen vor dem Ende passiert ist.

Andererseits ist ihr Plan auch löchrig. Sie hätten an so vielen Stellen die Fährte verlieren können, dass er sich fragt, ob seine Mutter jemals ernsthaft geglaubt hat, er wäre imstande, all diese Puzzleteile zusammenzusetzen. Hatte es in seiner Kindheit nicht oft auch Geschenke gegeben, die er nur mit ihrer Hilfe gefunden hatte? Der Plan muss aus purer Verzweiflung geboren worden sein. Sie muss mit dem gearbeitet haben, was sie hatte, unter Bedingungen, die er sich nicht vorstellen kann.

Das Insekt schwirrt vor ihnen her, zwischen den Bäumen hindurch, viel schneller als sie. Es ist eigenartig zu sehen, wie jemand, der so schroff ist wie El Capitán, einem zierlichen geflügelten Ding folgt, als wäre er ein begeisterter Schmetterlingssammler.

Bradwell, Pressia, El Capitán und Helmud – sie sind jetzt Partridges Freunde, seine Horde. Er denkt an die Horde der Akademie-Jungs zurück, die er zum letzten Mal im Codierungszentrum gesehen hat. Vic Wellingsly, Algrin Firth, die Elmsford-Zwillinge, breitschultrig mit tiefen Männerstimmen. Sie schubsten sich gegenseitig umher und gingen dann ihrer eigenen Wege. Plötzlich vermisst Partridge Hastings. Hat er sich mit Arvin Weed zum Essen verabredet, wie Partridge es ihm geraten hat? Oder hat er versucht, sich der Horde anzuschließen? Hat einer von ihnen seit Partridges Verschwinden mal an ihn gedacht? Er fragt sich, welche Geschichte man ihnen erzählt hat. Vielleicht denken sie, dass man ihm einen Ticker eingesetzt und irgendjemand den Schalter umgelegt hat, um ihn von seinem Elend zu erlösen, wie sie es vorgeschlagen haben.

Vor ihnen bleibt El Capitán unvermittelt stehen. Er hebt einen Finger und zeigt nach vorn in den Wald. Alle erstarren und sehen in die angegebene Richtung. Partridge blinzelt aus zusammengekniffenen Augen in die Schatten. Er bemerkt eine schnelle Veränderung des Lichts. Ein Ast wippt. Blätter rascheln. Doch niemand ist zu sehen.

»Das sind sie«, sagt El Capitán. »Spezialkräfte. So verständigen sie sich. Spürt ihr die Elektrizität? Wie Echolot-Ortung.«

»Spezialkräfte?«, fragt Partridge.

»Aber woher wissen sie, dass wir hier sind?«, fragt Bradwell.

»Der Chip ist weg«, sagt Pressia. »Das ergibt keinen Sinn!«

Ein elektrischer Puls kitzelt auf Partridges Haut und knistert wie Statik. Die Luft scheint aufgeladen. Er versucht dem Puls zu folgen, der sich wie eine Welle bewegt.

»Sie sind teils Tier, teils Maschine«, sagt El Capitán. »Sie können dich riechen.«

»Aber nicht aus vielen Meilen Entfernung«, sagt Pressia. »Sie haben einen Tipp bekommen.«

Partridge sieht Pressia an. »Deine Augen«, sagt er. »Der Retina-Scan hätte dich genauso identifizieren müssen wie mich. Ich meine, sie hat uns doch wahrscheinlich beide gescannt, richtig?«

»Ich weiß es nicht.«

»Interferenzen«, sagt Partridge. »Das ist es.«

Eine rasche Serie von Pulsen jagt zwischen den Bäumen hin und her.

»Wovon redest du eigentlich?«, fragt Bradwell.

»Wo warst du?«, fragt Partridge seine Halbschwester. »Dieser Wagen – er hat nicht die Bomben überstanden. Er kommt aus dem Kapitol. Also ist auch noch anderes Zeug aus dem Kapitol hier, richtig? Was haben sie mit dir gemacht?«

»Sie haben mir was zu essen gegeben im Hauptquartier der OSR, mich in eine Uniform gesteckt und versucht, mich dazu zu bringen, Leute zu erschießen. Dann haben sie mich zu der Farm gebracht und vergiftet.«

»Vergiftet?«

»Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich wurde bewusstlos. Sie haben mich mit Ether oder so was betäubt, und ich bin im Wagen wieder zu mir gekommen. Ich hatte Kopfschmerzen, und mir war schlecht. Alles war verschwommen. Meine Ohren rauschten.«

»Du bist verwanzt«, sagt Partridge.

»Was meinst du damit?«, fragt Bradwell.

»Ihre Augen, ihre Ohren. Scheiße!«, sagt er. »Sie sehen alles, was sie sieht, und sie hören alles, was sie hört.« Er sieht Pressia an und fragt sich für einen Moment, ob sein Vater ihn in diesem Moment beobachtet. Er stellt sich vor, wie er durch ihre Augen hindurch direkt in das Kapitol blickt.

»Ich habe mir den Chip für nichts und wieder nichts rausschneiden lassen?«, flüstert Pressia.

»Nein«, sagt Bradwell. »Das ist vorübergehend, richtig? Wir können sie von alledem befreien, oder?«

»Keine Ahnung«, gesteht Partridge.

»Die elektrischen Pulse werden stärker«, sagt El Capitán. »Sie kommen schnell näher.«

»Okay, bleiben wir ruhig«, sagt Bradwell. »Sie ist verwanzt. Das ist alles.«

»Es ist genaugenommen noch viel schlimmer«, sagt Partridge. Er will die nächsten Worte nicht aussprechen, doch er muss es tun. »Deine Kopfschmerzen. Hast du einen Schnitt oder eine Schwellung?«

»Ich glaube, ich habe mir irgendwo den Kopf angeschlagen, als ich mit Ingership gekämpft habe.«

Partridge denkt an Hastings und seine Panik wegen des Tickers. Partridge hat ihm gesagt, dass es nicht stimmt, dass es nur ein Märchen ist. Doch das stimmt nicht.

»Was ist?«, fragt Bradwell. »Was stimmt nicht? Los, rede mit uns!«

Die Pulse kommen jetzt in immer schnellerer Folge. Die knisternde, knackende Elektrizität scheint rings um sie zwischen den Bäumen hin und her zu springen.

»Sie hat eine Bombe im Kopf«, sagt Partridge.

»Was? Was zum Teufel redest du da?«, fragt Bradwell.

Pressia sieht zu Boden, als würde sie sich erinnern, was im Farmhaus passiert ist, als würde sie die Puzzleteile zusammensetzen.

»Sie haben einen Schalter, den sie jederzeit umlegen können«, sagt Partridge. »Und wenn sie es tun, explodiert ihr Kopf.«

Alle starren Pressia an. Für einen Moment befürchtet Partridge, sie könnte in der nächsten Sekunde anfangen zu weinen. Er kann es ihr nicht verdenken. Stattdessen erwidert sie ihre Blicke ernst, als würde sie diese Tatsache akzeptieren. Partridge wird bewusst, dass er sich immer noch gegen die Vorstellung sträubt, dass Menschen zu etwas derart Teuflischem fähig sind.

Pressia wendet den Blick ab, den Hügel hinauf. Sie scheint etwas zu bemerken.

»Sie hat angehalten«, sagt sie. »Sie schwebt an Ort und Stelle.«

Und tatsächlich, dort ist die Zikade. Sie schwebt über einem Punkt im Gelände.

El Capitán rennt hin und gräbt mit bloßen Händen im Dreck. Er wischt eine halbmondförmige Scheibe aus dickem Glas frei. »Hier ist es!«

Partridge rennt zu El Capitán und legt sich auf den Bauch, um einen Blick ins Innere zu werfen. Es ist dunkel dort unten, doch er bemerkt ein schwaches Leuchten tief im Inneren der Erde.

Die Pulse sind inzwischen nahezu konstant. Das elektrische Summen ist höher und höher geworden. Keine Zeit mehr, sich hinter einem Fels in Deckung zu werfen.

Die Kreaturen tauchen eine nach der anderen unter den Bäumen auf, fünf insgesamt. Sie sind grotesk – monströse Oberschenkel und gewaltige Brustkörbe, ihre muskelbepackten Arme sind mit Waffen verschmolzen. Ihre Gesichter sind verzerrt, dicke Knochenwülste über den Augen, breite Kiefer, vorspringende Knochen. Ist es möglich, dass diese Soldaten früher die Akademie besucht haben, dass sie auf dem Rasen herumgetollt sind, dass sie Walchs Kunstgeschichteunterricht verfolgt und Glassings’ gefährlichen Randbemerkungen gelauscht haben? Wie viele von ihnen hat das Kapitol auf diese Weise verwandelt? Wie vielen haben sie das angetan? Ist es das, was sie mit Sedge vorhatten? War diese Zukunft der Grund dafür, dass er sich das Leben genommen hat?

Einer von ihnen schlägt El Capitán mit dem Ellbogen ins Gesicht. El Capitán fällt hart und landet auf Helmud. Der Soldat reißt El Capitán das Gewehr aus der Hand.

Ein weiterer Soldat kommt dazu, teilweise verborgen unter weißem, wehendem Stoff. Dann sieht Partridge, dass es ein Overall ist. Eine kleine Gestalt, rasierter Kopf, das Gesicht hinter einem weißen Schal verborgen. Es ist eine Frau. Der Soldat – wenn es denn einer ist – hält sie um die Taille. Er reißt ihr den Schal herunter.

Lyda – ihre zarten Wangenknochen ascheverschmiert, ihre verblüffend blauen Augen, ihre Lippen, die freche Nase. »Was machst du hier?«, fragt Partridge verwirrt, doch er kennt die Antwort, wenigstens zum Teil. Sie ist eine Geisel. Sie ist hier, um ihn zu einer Entscheidung zu zwingen. Aber was für eine Entscheidung?

»Partridge«, flüstert sie, und er sieht, dass sie eine blaue Schachtel in der Hand hält. Für einen Moment fragt er sich, ob sie den ganzen Weg hierhergekommen ist, um ihm etwas zu geben, das er vergessen hat – eine Ansteckblume für den Ball vielleicht? Er weiß, dass der Gedanke blödsinnig ist, aber er kann ihn nicht abschütteln.

Sie hebt die Schachtel. »Das hier ist für jemanden namens Pressia Belze«, sagt sie und sieht alle der Reihe nach an, die vor ihr stehen.

Pressia tritt vor. Es ist offensichtlich, dass sie die Schachtel nicht nehmen möchte.

Auch Lyda zögert. »Bist du der Schwan?«, fragt sie.

»Was hast du gesagt?«, fragt Partridge.

»Wer von euch ist der Schwan?«, fragt Lyda.

»Hat dir jemand etwas von einem Schwan erzählt?«, fragt Partridge.

»Sie warten auf den Schwan«, antwortet Lyda und drückt Pressia die Schachtel in die Hand. »Das ist alles, was ich weiß.« Sie will das Geschenk endlich loswerden. Es macht ihr Angst.

Pressia sieht Lyda an und dann die Soldaten ringsum. Die roten Laserpunkte ihrer Waffen sind ausnahmslos auf Pressias Brust gerichtet. Pressias Hände zittern. Sie öffnet die Schachtel, zupft an dem Papier, sieht, was darin liegt, und Partridge sieht, dass sie nichts damit anfangen kann, zumindest im ersten Augenblick. Doch dann blickt sie auf und lässt die Schachtel fallen. Sie ist blass geworden. Sie stolpert rückwärts, dann fällt sie auf die Knie.

Lyda greift nach ihr oder vielleicht der Schachtel, doch der Soldat reißt sie zurück.

»Steh auf!«, herrscht er Pressia an. Pressia blickt zu ihm auf. Der Soldat zielt mit einer Waffe auf ihre Stirn. Dann wiederholt er in ruhigerem Ton: »Los, steh auf. Komm jetzt. Es ist Zeit.«

Und in dieser weicheren, sanfteren Stimme – vielleicht im Rhythmus der Worte – erkennt Partridge die Stimme seines Bruders. So hat er mit ihm gesprochen, als Partridge ein kleiner verschlafener Junge war, eben erst aus dem Schlaf erwacht, noch mit den Laken kämpfend.

Los, steh auf. Komm jetzt. Es ist Zeit.

Sedge.