PRESSIA

Schwarm

El Capitán parkt den Wagen im Unterholz am Fuß der Hügel. Mit Ästen und Zweigen und ganzen Pflanzen, die er mitsamt Wurzeln aus der Erde reißt, deckt er die schwarze Limousine zu, so gut es geht, während er den anderen sagt, welche Pflanzen sie nicht berühren dürfen.

»Die da mit den Stacheln am Ende der dreizackigen Blätter sind voller Säure. Sind mit einem dünnen Säurefilm bedeckt. Sie verätzen die Haut.« Er zeigt auf eine Ansammlung weißer Pilze. »Die da machen krank. Wenn man auf sie tritt oder sie aufbricht, versprühen sie Sporen.« Eine Gruppe ist fleischfressend. »Zum Teil Wirbeltier«, sagt er. »Sie haben Beeren, mit denen sie Tiere anlocken, die sie dann erwürgen und fressen.«

Sie gehen in einer Reihe. El Capitán geht voran, den giftigsten Pflanzen ausweichend, gefolgt von Partridge, Pressia und Bradwell als Letztem. Er hat darauf bestanden, »um hinten zu sichern«, wie er sagt, doch Pressia fragt sich, ob er sich insgeheim um sie sorgt. Sie erinnert sich sehr genau an das Gefühl seiner Hand, als er den Chip aus ihrer Haut geschnitten hat, und an die sanfte Berührung seiner Finger, als er die Narbe am Handgelenk ihrer Puppenkopffaust gestreichelt hat. Und seine Augen, die goldenen Pünktchen darin. Woher sie wohl kommen? Es war, als wären sie ganz plötzlich aufgetaucht. Schönheit kann man überall finden, wenn man nur genau hinsieht. Immer wieder und in unregelmäßigen Abständen muss sie daran denken, wie er sie angesehen hat, als wollte er ihr ganzes Gesicht in sich aufnehmen. Der Gedanke macht sie nervös. Es ist das gleiche Gefühl wie bei einem Geheimnis, von dem man hofft, dass niemand es je herausfindet.

Sie schlagen sich durch das Dickicht den Hügel hinauf, über dornige Ranken und stachlige Reben hinweg. Sie versuchen, die Richtung des weißen Lichts beizubehalten. Pressia fühlt sich unsicher auf den Beinen wie ein neugeborenes Fohlen. Der Boden besteht aus tückischem, lockerem Geröll. El Capitán schnauft, und Helmud auf seinem Rücken murmelt leise vor sich hin. Jeder stolpert in unregelmäßigen Abständen. Der Wind ist frisch und kalt. Das hilft ihr, wachsam zu bleiben. Hinter ihnen erstrecken sich die Deadlands.

Sie kann ihren Körper wieder besser spüren. Ihre Sicht ist immer noch ein bisschen verschwommen und ihr Gehör gedämpft. Die Wunde in ihrem Nacken pocht, und sie hat Kopfschmerzen.

Wenn sie ihre Mutter finden – bedeutet das nicht ihren Tod? Und wenn sie ihre Mutter finden und irgendwie an einen sicheren Ort schaffen und nicht dem Kapitol übergeben, werden sie dann nicht selbst zu Zielen, sie alle? Was ist, wenn sie versagen, wenn die Spezialkräfte ihre Mutter zuerst finden? Dann ist Pressia nicht länger nützlich, und man wird sie töten.

Angst wallt in ihr auf, und ihr Magen krampft sich zusammen. Sie sollte froh sein, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, dass ihre Mutter in einem Bunker in den Hügeln überlebt hat. Aber wenn das so ist – warum ist sie nicht gekommen, um Pressia zu holen? Der Bunker ist schließlich nicht am anderen Ende der Welt. Er ist gleich hier. Warum hat sie den Bunker nicht verlassen, nach ihrer Tochter gesucht und sie mitgenommen in ihren Bunker? Was, wenn die Antwort einfach lautet: Weil es das Risiko nicht wert war? Was, wenn die Antwort lautet: Weil ich dich nicht genug geliebt habe?

Partridge bleibt so abrupt stehen, dass sie fast in ihn reinläuft. »Wartet«, sagt er.

Alle bleiben stehen und verstummen.

»Ich höre was.«

Es ist ein schwaches Summen im Unterholz. Es wird lauter und lauter, und plötzlich schwirren Flügel über ihren Köpfen.

Eine dunstige goldene Wolke senkt sich zwischen den Bäumen auf sie herab. El Capitán schlägt wild um sich. Es scheint ein Schwarm großer Bienen mit starken Körperpanzern wie bei Käfern zu sein. Das Summen ihrer Flügel erfüllt Pressias Kopf und ihre Brust. Es vibriert in den umgebenden Bäumen. Die Insekten sind wie ein ganzes Volk, das um Pressias Kopf kreist. Partridge erwischt ein paar von ihnen. Sie fallen ins Gebüsch.

Dann sieht Pressia eines der Insekten deutlich – nur ein einziges, das am Boden hockt. Es sieht aus wie Freedle – mit dem Unterschied, dass es nicht rostig und fleckig ist. Sie hebt es auf, vorsichtig, in der hohlen Hand, damit es nicht wegfliegen kann. Sie erkennt das Gefühl augenblicklich wieder. Ohne auch nur noch einen Blick darauf zu werfen, weiß sie, dass es ein fettes, glänzendes, halb mechanisches Insekt ist. Die Flügel liegen ganz eng am Körper an wie bei einer Zikade, mit dem Unterschied, dass dieses hier aus filigranem Metall gemacht ist, federleicht und kunstvoll. Es hat feine Drahtrippen und Zahnrädchen, die sich langsam drehen, einen Wespenstachel – eine goldene Nadel am hinteren Ende – und kleine Augen auf beiden Seiten des Kopfes.

»Wartet!«, sagt Pressia. »Sie tun uns nichts.« Das Insekt gibt ein vertrautes lautes Klicken und Surren von sich.

»Woher willst du das wissen?«, fragt Partridge.

»Ich hatte eines als Haustier, seit ich denken kann.«

»Und woher hattest du es?«, will Bradwell wissen.

»Ich weiß es nicht. Es war schon immer da.«

»Die Geburtstagskarte«, sagt Partridge. »Folge deiner Seele. Möge sie Flügel haben.«

»Was soll das bedeuten?«, fragt El Capitán. »Folge deiner Seele?«

»Seele«, sagt Helmud.

»Es bedeutet, dass wir nah dran sind«, sagt Partridge.

»Glaubst du, sie hat sie geschickt?«, fragt Pressia.

»Falls sie sie geschickt hat, weiß sie, dass wir auf dem Weg zu ihr sind«, sagt Bradwell. »Und das ist völlig unmöglich.«

»Wie sonst sollen wir rausfinden, welche Richtung wir hier in den Hügeln einschlagen müssen?«, sagt Partridge. »Sie sind hier, um uns die restliche Wegstrecke zu führen. Es ist Teil ihres Plans. Es hat nur sehr, sehr lange gedauert, bis es so weit war.«

»Aber … jeder hätte diesen Anhänger finden und hochhalten können«, wirft Bradwell ein. »Diese Insekten könnten genauso gut den Feind zu ihr führen.«

Die Zikade in ihrer Handfläche zuckt. Sie beugt sich vor, öffnet die Hand eben weit genug, um durch den Schlitz zwischen ihren Fingern sehen zu können.

Die Zahnräder kreisen schneller. Das Tierchen hebt den Kopf. Aus einem seiner Augen fährt ein Lichtblitz direkt in Pressias linkes Auge. Sie blinzelt. Ihre Augen tränen. Die Zikade unternimmt einen zweiten Versuch.

»Ein mechanisches Insekt mit eingebautem Retina-Scanner«, sagt Partridge staunend.

»Es ist aus dem Davor«, sagt Bradwell. »Abgesehen davon scheint es Pressias Retina nicht zu erkennen.«

Pressia sieht Partridge an. »Versuch du es. Wenn sie von ihr geschickt wurden, wird es dich erkennen.«

Eine Perle in der Mitte seiner Brust flackert. Die Flügel schlagen aufgeregt.

»Es weiß, wer du bist«, sagt Bradwell.

Die mechanische Zikade macht Anstalten abzuheben. Pressia macht ihre Handfläche gerade und hält sie in die Höhe. »Lasst uns sehen, wohin es uns führt.« Wenn diese Insekten in der Tat von ihrer Mutter geschickt wurden – war Freedle dann auch ein Geschenk von ihr?

Das Insekt leuchtet inzwischen hell. Es erhebt sich in die Luft und flitzt zwischen den Zweigen entlang, um ihnen den Weg zu zeigen.