PRESSIA

Märchen

Sie werden zu einem kleinen Raum mit zwei Paletten auf dem Fußboden gebracht. Die Frau verschließt hinter ihnen die Tür. Partridge gleitet an der Wand zu Boden und setzt sich auf seine Palette. Er hält die verletzte Hand an die Brust gedrückt.

Pressia kann sich nicht setzen. In ihrem Kopf rauscht es. Jemand soll ihr den Chip aus dem Nacken schneiden, der nicht mal Metzger ist? »Ich kann nicht glauben, dass du mir den Chip rausschneiden willst«, sagt sie zu Bradwell. »Das lasse ich nicht zu. Das weißt du, oder? Ich lasse dich nicht mal in die Nähe von meinem Hals.«

»Sie wissen, wo du bist, zu jeder Zeit. Ist es das, was du willst? Aber so wie du das Kapitol liebst, sollte es mich wohl nicht wundern, dass du so gerne ihre Marionette bist.«

»Ich bin nicht ihre Marionette! Du bist paranoid! Verrückt!«

»Verrückt genug, um nach dir zu suchen.«

»Ich habe dich nicht gebeten, mir irgendwelche Gefallen zu tun!«

»Dein Großvater hat es getan, und jetzt habe ich meine Schuld bezahlt.«

Pressia fühlt sich, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ist das der Grund, warum Bradwell nach ihr gesucht hat? Weil er ihrem Großvater noch etwas schuldig war für das Nähen seines Halses? »Schön, betrachte die Schuld als bezahlt. Ich habe nicht darum gebeten, irgendjemandem zur Last zu fallen.«

»Das habe ich damit nicht sagen wollen«, widerspricht Bradwell.

»Hört auf«, sagt Partridge. »Hört einfach auf, okay?« Er sitzt blass und zitternd in seiner Ecke.

»Es tut mir leid wegen deinem Finger«, sagt Pressia.

»Wir haben alle Opfer gebracht«, sagt Bradwell. »Es wurde Zeit, dass er auch eins bringt.«

»Nett von dir«, sagt Pressia. Sie hasst Bradwell in diesem Moment. Er hat sie nur gesucht, weil er ihrem Großvater etwas schuldig war. Nichts weiter. Warum musste er ihr das so unter die Nase reiben? »Wirklich sehr verständnisvoll.«

»Es ist lustig, dich in einer OSR-Uniform zu sehen«, sagt Bradwell. »Sieh sich einer diese Armbinden an. Bist du jetzt Offizier? Die OSR – das sind wirklich nette Leute. Sie sind diejenigen, die wirklich verständnisvoll sind!«

»Ich wurde entführt, und sie haben mich gezwungen, diese Uniform anzuziehen!«, faucht Pressia. »Glaubst du vielleicht, sie gefällt mir?« Ihre Stimme ist schwach, weil ihr die Uniform in der Tat gefällt – und weil Bradwell es wahrscheinlich weiß.

»Aufhören«, sagt Partridge. »Bradwell hat recht, Pressia. Sie haben uns vor sich hergetrieben, damit wir uns finden. Die Frage ist nur, warum?«

Pressia setzt sich neben Partridge an die Wand. »Es ergibt keinen Sinn«, sagt sie. »Ich verstehe das nicht.«

»Eine Sache verfolgt mich, die die Gute Mutter erwähnt hat«, sagt Bradwell. Er geht in die Hocke und starrt Partridge in die Augen. »Du verheimlichst uns irgendwas. Du bist nicht aufrichtig.«

»Was verheimliche ich?«, entgegnet Partridge aufgebracht. »Ich habe euch alles erzählt! Ich habe mir sogar den Finger abschneiden lassen! Warum hörst du nicht endlich auf?«

Pressia erinnert sich an die Halskette. Sie sucht in ihren Taschen und spürt die harte Form des Schwans, die Umrisse der Flügel. Hatte sie Zeit, den Anhänger zu sichern, bevor sie das Bewusstsein verloren hat? Hat jemand die Kette in ihrer Hand gefunden und sie in ihre Tasche gesteckt? Sie ist erleichtert, dass sie immer noch da ist. Sie angelt sie hervor und hält sie in der Hand. »Habt ihr die hier für mich zurückgelassen? Als Zeichen?«

Partridge nickt. »Du hast sie gefunden!«

Sie hat Ich-erinnere-mich mit ihm gespielt und Erinnerungen mit ihm ausgetauscht. Sie hat ihm von dem Pony zu ihrem Geburtstag erzählt und er hat ihr von einer Gutenachtgeschichte erzählt über einen bösen König und seine Schwanenfrau. Eine Schwanenfrau … wie der Anhänger mit dem blauen Juwelenauge. Pressia sieht Bradwell an. »Vielleicht hält er nicht absichtlich was vor uns zurück. Vielleicht weiß er einfach nicht, was wichtig ist und was nicht.«

»Und was ist wichtig?«, fragt Bradwell. »Das würde ich zu gerne wissen.«

»Was ist mit der Schwanenfrau?«, fragt Pressia. »Erzähl mir diese Geschichte.«

***

Partridge hat die Geschichte von der Schwanenfrau nicht mehr laut erzählt, seit er es einmal bei seinem Bruder Sedge versucht hat, kurz nachdem die Bomben gefallen waren. Damals konnte er sich noch genau an das Lachen ihrer Mutter erinnern, doch mit der Zeit wurde die Luft im Kapitol so leer, so hohl, dass er meinte, die Gerüche und Geschmäcke und selbst Erinnerungen würden von einem Schwarzen Loch in seinem eigenen Kopf verschlungen. Aribelle Cording Willux – sämtliche noch so kleine Spuren seiner Mutter verschwanden nach und nach. Er wusste es. Schon eine Woche nach den Explosionen fing er an, den Klang ihrer Stimme zu vergessen. Jetzt hingegen ist er sicher, dass alles wieder zurückkommt, wenn er auch nur einen Ton hört.

»Die Geschichte geht so«, sagt er und erzählt, was seine Mutter ihm selbst erzählt hat vor vielen Jahren, ihm allein. »Bevor sie eine Schwanenfrau wurde, war sie ein Schwanenmädchen. Sie hat einen jungen Mann vor dem Ertrinken gerettet, und er stahl ihr die Flügel. Es war ein junger Prinz. Ein böser Prinz. Er zwang sie, ihn zu heiraten. Er wurde zu einem bösen König.

Der König dachte, er wäre ein guter König, doch das war ein Irrtum.

Es gab auch einen guten König, doch der lebte weit entfernt in einem anderen Land. Die Schwanenfrau wusste noch nicht, dass es ihn gibt.

Der böse König schenkte ihr zwei Söhne. Einer war wie der Vater, ehrgeizig und stark. Der andere war wie sie.«

Partridge ist nervös, und obwohl er sich schwach fühlt, muss er aufstehen und auf und ab gehen. Er ist sich kaum seiner selbst bewusst. Mit seiner unverletzten Hand berührt er Dinge – den Griff einer Schubkarre, eine Rille und Risse in den Wänden aus Betonsteinen. Er hält inne und bittet Pressia um die Kette. Er hält sie, genau wie seine Mutter es ihm gezeigt hat, als sie ihm die Geschichte erzählt hat. Er spürt die scharfen Kanten der Flügel. Er spricht weiter.

»Der böse König nahm die Flügel des Schwans und warf sie in einem Eimer in einen alten, dunklen, vertrockneten Brunnen, und der Junge, der wie die Schwanenfrau war, hörte das Rascheln der Schwingen in der Tiefe. Eines Nachts kletterte er in den Brunnen hinunter und fand die Flügel seiner Mutter. Sie zog sie an, und dann nahm sie den Jungen, der wie sie war und ihr nicht widerstand, und flog mit ihm davon.«

Partridge hält inne. Ihm ist schwindlig.

»Was ist denn?«, fragt Pressia.

»Erzähl weiter«, muntert Bradwell ihn auf.

»Er braucht Zeit, um sich zu erinnern«, sagt Pressia.

Doch das ist es nicht. Nein. Partridge erinnert sich ganz genau an die Geschichte. Der Grund, dass er aufhört zu erzählen, ist der, dass er seine Mutter fast spüren kann. Die Geschichte, laut vorgetragen, hat einen Teil von ihr freigesetzt. Er hält inne mit Reden, damit er den Augenblick in sich aufnehmen kann, bevor er vorbei ist. Er erinnert sich, wie es war, ein kleiner Junge zu sein. Er erinnert sich an seine jungenhaften Arme und seine ruhelosen Beine. Er erinnert sich an die Knöpfe der blauen Decke, unter der sie im Haus am Strand gesessen haben, an das Gefühl des Anhängers in seiner Faust – wie ein großer scharfer Zahn.

»Die Schwanenfrau wurde zu einer geflügelten Botin«, fährt er schließlich fort. »Sie nahm ihren einen Sohn mit sich in das Land eines guten Königs. Sie erzählte ihm von den Plänen des bösen Königs, das Land des guten Königs zu erobern, und dass er Feuer von den Bergen herabrollen lassen wollte, das alles und jeden zerstörte, was in seinen Weg geriet. Alle Untertanen des guten Königs würden in einem Feuerball sterben, und das neue Land – gereinigt vom Feuer – würde dem bösen König gehören.

Der gute König verliebte sich in die Schwanenfrau. Er zwang sie nicht, ihre Flügel abzulegen. Bei ihm konnte sie beides sein, Frau und Schwan. Und aus diesem Grund verliebte sich die Schwanenfrau in den guten König. Er schenkte ihr eine Tochter – so schön wie die Schwanenfrau selbst.

Und er baute einen großen See, um das Feuer zu löschen, sobald es vom Berg herabrollte. Doch weil er durch seine Liebe zu ihr abgelenkt war, waren die Wasser noch nicht bereit, als der böse König zuschlug.«

Übelkeit steigt in Partridge auf. Sein Herz schlägt wild in seiner Brust. Er hat das Gefühl, außer Atem zu sein, kann kaum ruhig reden. Er weiß, dass die Geschichte eine Bedeutung hat. Warum hat er Bradwell und Pressia nichts vom Strand erzählt und von den Pillen? Er weiß, was das alles zu bedeuten hat, richtig? Seine Mutter hat ihnen immer Rätselreime gegeben mit Hinweisen, wo sie ihre Geburtstagsgeschenke finden konnten, oder? Sein Vater hatte diese Tradition begründet, als er und seine Mutter sich kennengelernt hatten, als sie noch ineinander verliebt waren. Die Familie liebte diese Rätsel. Was also bedeutet dieses Rätsel hier?

»Und als das Feuer von den Bergen rollte, suchte die Schwanenfrau mit ihren Kindern Sicherheit. Sie trug beide zurück in das Land des bösen Königs. Sie gab die Tochter – von der niemand wusste – in die Hände einer unfruchtbaren Frau, die sie aufzog. Sie brachte ihren Sohn zurück in sein Zuhause, weil er dort immer wie ein Prinz behandelt werden würde.

Und dann war es Zeit für sie davonzufliegen und sich dem guten König anzuschließen – der böse König würde sie umbringen. Doch als sie von ihrem Sohn wegschlich, streckte er die vom Feuer rußigen Hände nach ihr aus und packte sie und wollte sie nicht gehen lassen, bis sie ihm versprach, nicht davonzufliegen. ›Vergrab dich unter der Erde‹, bettelte er. ›Damit du zusehen kannst.‹ Sie stimmte zu. ›Ich lege eine Fährte, damit du mich finden kannst‹, sagte sie. ›Viele, viele Spuren, die alle zu mir führen. Wenn du alt genug bist, wirst du ihnen folgen.‹

Sie legte ihre Flügel ab und grub sich in die Erde. Und wegen der rußigen Hände des Jungen hat der Schwan schwarze Füße.«

Seine Mutter war eine Heilige.

Partridge liebt diese Version der Geschichte.

Seine Mutter starb als Heilige – nur, dass er inzwischen weiß, dass sie überlebt hat. Er weiß es, seit er seinen Vater hat sagen hören: Deine Mutter ist immer problematisch gewesen. Er weiß es wegen der Worte der alten Frau, die beim Kesseltreiben getötet wurde: Er brach ihr das Herz. Er weiß es hier und jetzt.

Der Schwan ist nicht nur ein Schwan.

Er ist ein versiegeltes Medaillon. Mein Phoenix.

Er wiederholt die Worte: »Sie brachte ihren Sohn zurück in sein Zuhause, weil er dort immer wie ein Prinz behandelt werden würde.«

Was waren die kleinen blauen Pillen? Warum hat sie ihn gezwungen, die Pillen zu schlucken, obwohl sie sicher war, dass er davon nur noch kranker wurde? Keine Pillen mehr, bitte!, erinnert er sich, sie weinend angefleht zu haben. Bitte nicht. Doch sie ließ sich nicht erweichen. Er musste sie alle drei Stunden nehmen. Sie weckte ihn mitten in der Nacht dafür. Warum gab sie ihm diese Pillen, die ihn unempfindlich machten? Wollte sie ihn retten? Wusste sie, dass er eines Tages eine Chance bekommen würde, eine bessere Version von sich selbst zu werden, Teil einer Superspezies, und wollte sie, dass diese Chance nutzlos verstrich? Wie machten ihn die Pillen unempfindlich gegen die Veränderungen in seiner Verhaltenscodierung? Warum die und nur die?

Wenn sie keine Heilige war, was dann?

Eine Verräterin?

»Und das ist der Grund, warum die Schwanenfrau schwarze Füße hat«, sagt er, doch diesmal klingt es wie eine Frage.

Pressia ist nicht ganz sicher, ob sie versteht, was Partridge erzählt hat. Ein Märchen. Das ist alles. Hat sie auf mehr gehofft? Nein. Es ist bedeutungslos.

Partridge sieht Bradwell an. »Du denkst über meine Mutter nach. Was denkst du?«, fragt er.

»Aribelle Cording Willux«, sagt Bradwell langsam, als würde ihm allmählich etwas dämmern.

»Los, sag schon!«, ruft Partridge.

»Was soll ich sagen?«, fragt Bradwell, und Pressia erkennt, dass Partridge recht hat. Bradwell hält etwas zurück, wie die Gute Mutter sagen würde. Nicht Partridge, sondern Bradwell.

»Du weißt was«, sagt sie zu Bradwell. »Willst du uns jetzt damit auf die Folter spannen? Müssen wir betteln?«

Bradwell schüttelt den Kopf. »Der Schwan mit den schwarzen Füßen – das ist ein japanisches Märchen. Ich wurde von Leuten aufgezogen, die sich auskannten mit diesen Märchen, und die alte Geschichte geht nicht so. Es gibt keinen zweiten König. Es gibt auch kein drittes Kind, keine wunderschöne Tochter. Es gibt kein Feuer, das von den Bergen rollt. Und am Ende benutzt der Schwan seine Flügel, um davonzufliegen. Er geht nicht unter die Erde.«

»Und?«, fragt Partridge.

»Und deswegen ist es keine einfache Gutenachtgeschichte. Deine Mutter hat dir eine verschlüsselte Botschaft mitgegeben. Du musst herausfinden, was sie bedeutet.«

Pressia spürt ein Kitzeln im Puppenkopf. Sie reibt ihn mit der gesunden Hand, um die Nerven zu beruhigen. Sie will wissen, was diese Geschichte bedeutet, doch sie hat auch Angst davor. Warum? Sie weiß es nicht genau.

»Ich verstehe das nicht«, sagt Partridge, doch die Geschichte hat etwas, das Pressia tief unter die Haut geht. Es ist eine Geschichte über Trennung und Verlust.

»Aber du wirst es verstehen«, sagt Bradwell gleichmütig.

Pressia erinnert sich an das, was Partridge ihr über das Märchen erzählt hat. »Du hast gesagt, du hättest gedacht, dein Vater wäre der böse König, der deiner Mutter die Flügel weggenommen hat …«, sagt sie zu Partridge. Ihr Kopf fühlt sich schwer an. Ihr Herzschlag rast. Das ist noch nicht alles. Sie spürt förmlich, dass es nur die Oberfläche ist.

»Ich dachte, es müsste einen Grund geben, warum sie die Geschichte so gerne mochte, irgendetwas Persönliches«, sagt Partridge. »Meine Eltern haben sich nicht gut verstanden.«

»Und?«, fragt Bradwell.

»Sag du es mir«, erwidert Partridge. »Du scheinst es ja bereits alles herausgefunden zu haben, wie üblich.«

»Sie hatte zwei Söhne«, sagt Bradwell. »Dann nahm sie dich mit nach Japan, als Baby, und dort hat sie sich in den guten König verliebt und mit ihm eine Tochter gezeugt. Wer genau ist der gute König? Ich weiß es nicht. Aber er muss mächtig gewesen sein. Er hatte Informationen.«

Pressia sieht zu Partridge, der sich versteift zu haben scheint – aus Angst oder Ärger? Bradwell scheint aufgeregt, vielleicht sogar aufgepeitscht von der Wucht dessen, was er gehört und herausgefunden hat. Er sieht Pressia an, dann Partridge, dann wieder Pressia. Sie müsste wissen, was in seinem Kopf vorgeht, heißt das. Sie weiß es nicht. Warum ist er so aufgeregt?

»Komm schon, Pressia«, sagt Bradwell beinahe flehend. »Du bist nicht einfach nur ein kleines Mädchen, das sich wegen seiner Puppe geniert. Du hast es längst begriffen. Du weißt es.«

»Ein kleines Mädchen? Ich dachte, ich wäre eine von der Sorte oder besser noch, eine Schuld, die du bezahlt hast?« Sie berührt den Puppenkopf. »Du musst mir nicht sagen, wer ich bin.« Noch während sie das sagt, fragt sie sich, ob nicht doch auf die eine oder andere Weise ein kleines Mädchen in ihr steckt. Erst vor ein paar Tagen hatte sie vor, ihr ganzes restliches Leben in einem Schrank im Hinterzimmer eines Friseurladens zu verbringen. Sie war willens, sich zurückzuziehen und nur noch über Ausschnitte aus Zeitschriften und Träume vom Davor und über das Kapitol am Leben teilzuhaben.

»Du warst nie eine von der Sorte und du warst auch keine Schuld, die ich beglichen habe. Lass mich ausreden, okay?«

»Dann bleib bei der Geschichte«, sagt Pressia.

»Sag uns, was du wirklich denkst«, fordert Partridge ihn auf.

»Okay«, sagt Bradwell. »Hier ist mein Standpunkt: Der Mann, mit dem deine Mutter ein Kind hatte, wusste über alles Bescheid, was die Japaner machten – oder ungeschehen zu machen versuchten. Strahlungsresistenz. Deine Mutter hat ihm Informationen geliefert. Ich stimme deiner Mutter in diesem Punkt zu – einige von den Japanern waren wirklich die Guten, wenn du mich fragst. Meine Eltern waren übrigens der gleichen Meinung.« Er hält für einen Moment inne. »Ich erinnere mich kaum noch an ihre Gesichter.« Er sieht Partridge an. »Warum hast du nicht mehr Codierungen bekommen? Warum warst du ungeeignet?«

»Sie haben ja versucht, mich mehr zu codieren. Ich war immun. Es schlug bei mir nicht an«, sagt Partridge ausdruckslos.

»Und wie hat dein Daddy darauf reagiert?«

»Nenn ihn nicht so!«

»Ich wette, er war stinkwütend«, sagt Bradwell.

»Hör mal, ich hasse meinen Vater mehr als irgendjemand sonst, okay? Ich bin sein Sohn. Ich kann ihn auf eine Weise hassen, wie niemand sonst es kann.«

Im Raum wird es still.

»Ich hasse seine herablassende Art, seine Reserviertheit«, sagt Partridge. »Ich hasse ihn, weil ich ihn niemals habe lachen oder weinen sehen, richtig lachen oder weinen. Ich hasse seine Scheinheiligkeit. Seinen Kopf, dieses ständige leichte Kopfschütteln, als würde er mich ununterbrochen missbilligen. Ich hasse die Art, wie er mich ansieht – als wäre ich vollkommen wertlos.« Partridge sieht sich in der Zelle um. »Ob er sich gefreut hat, dass mein Körper die Codierungen nicht annahm? Nein. Nein, er hat sich ganz bestimmt nicht gefreut.«

»Weil?«, fragt Bradwell.

»Weil er dachte, dass meine Mutter was damit zu tun hat.«

»Er hat sie unterschätzt«, sagt Bradwell. »Ich denke, sie wusste alles über Operation Phoenix, genau wie die Person, die ihr die Kette gab. Sie wusste, was ihr Mann und seine Leute im Schilde führten. Massenvernichtung, Überleben im Kapitol, und schließlich, nachdem die Erde sich genügend regeneriert hat, die Rückkehr der Superspezies. Und vielleicht hat sie der anderen Seite erzählt, was er vorhatte. Die Schwanenfrau wurde zu einer geflügelten Botin, richtig? Die andere Seite versuchte, dem Plan Einhalt zu gebieten, einige Menschen zu retten. Doch an einem bestimmten Punkt wurde deiner Mutter klar, dass ihnen die Zeit ausgegangen war. Ich glaube nicht, dass Willux sich dafür interessiert, ob sie am Leben ist oder nicht – er hat sie längst als tot zurückgelassen. Ob er bedauert, sie nicht selbst umgebracht zu haben? Ist das alles, was dahintersteckt – Rache? Benutzt er seinen einzigen Sohn, nur um sicherzugehen, dass seine Frau tot ist? Oder bedeutet ihr Überleben, dass sie etwas weiß, dass sie über Informationen verfügt, die er haben will?«

»Du kennst ihn nicht«, sagt Partridge, doch seine Stimme ist so leise, dass es nach Aufgabe klingt.

Bradwell starrt zu Boden und schüttelt den Kopf. »Sieh dir doch an, was er uns angetan hat, Partridge. Wir sind diejenigen, die ihn auf eine Weise hassen, wie du es niemals kannst.«

Pressia starrt auf ihre Puppenkopffaust, eine Erinnerung an die Kindheit, die sie niemals wirklich hatte.

»Was hat das alles mit mir zu tun?«, fragt sie. Sie kann immer noch nicht klar denken. Ihr Kopf dröhnt. Sie weiß, dass ihr Leben im Begriff ist, sich zu verändern, doch sie weiß nicht wie. Sie starrt auf die Plastikwimpern der Puppe, das kleine Loch zwischen ihren Lippen. Ihre Wangen brennen. Alle um sie herum scheinen etwas zu wissen, und keiner will es aussprechen. Weiß sie es nicht längst selbst? Es ist alles da, in der Gutenachtgeschichte, dem Märchen, aber sie kann es nicht sehen. »Warum wollten die OSR und das Kapitol, dass ich Partridge finde? Woher wussten sie überhaupt von mir?«

Partridge hält seine verletzte Hand an die Brust und starrt zu Boden. Ist er schon zu einem Ergebnis gekommen? Vielleicht hat er mehr Grips, als Bradwell ihm zutraut.

»Du bist das kleine Mädchen«, sagt Bradwell schließlich. »Das kleine Mädchen aus dem Märchen. Du bist das Baby des guten Königs.«

Pressia hebt den Kopf und starrt Partridge fragend an.

»Du und Partridge …«, flüstert Bradwell.

»Du bist mein Halbbruder?«, fragt Pressia. »Meine Mutter und deine Mutter …«

»… sind ein und dieselbe Person«, vollendet Partridge den Satz.

Pressia hört das Schlagen ihres eigenen Herzens. Das ist alles.

Pressias Mutter ist die Schwanenfrau. Sie ist vielleicht noch am Leben.