PARTRIDGE

Pfeile

Die Gefängnisse, Sanatorien, Anstalten sind alle zusammengefallen, ein Koloss nach dem anderen, wie ausgebrannte Haufen schmiedeeiserner Knochen, und die Häuser in den abgeschirmten Gemeinden sind verkohlt oder ganz verschwunden. Die Klettergerüste und Piratenschiffe und Minischlösser aus Plastik haben sich als dauerhafter erwiesen. Sie überziehen das dem Erdboden gleichgemachte Gelände aus Staub und Asche wie große undefinierte bunte Klumpen – wie Skulpturen, von denen Partridge im Kunstgeschichteunterricht Bilder gesehen hat.

Eine »Installation«, so hat Mr Welch es genannt. Und auf eine seltsame Art erfreuen sie Partridge jetzt. Er stellt sich Welch vor, der ihn an eine verschrumpelte Ausgabe von Glassings erinnert, wie er dozierend im bunten Licht des Projektors steht mit seiner schmächtigen Gestalt, der eingesunkenen Brust, der glänzenden Glatze. Er war einer der Preisrichter, die Lydas Vogel ausgewählt haben. Lyda … Partridge wird sie wohl niemals wiedersehen, genauso wenig wie Welch oder Glassings oder den Vogel. Und Pressia?

Bradwell geht vor Partridge her, die Hand auf dem Griff des Messers in der Jacke. Partridge hat einen Fleischerhaken und ein Schlachtermesser von Bradwell sowie das alte Messer aus der Ausstellung, mit dem er sich durch die Filter gehackt hat, doch er fühlt sich trotzdem verwundbar hier draußen und ein wenig unsicher in seinen Bewegungen. Die Codierungen greifen allmählich. Manchmal spürt er den Ansturm, wenn sie sich in seine Muskeln und Knochen drängen und durch seine Synapsen feuern. Es ist ein Gefühl, das er nicht beschreiben kann – ein Dickerwerden des Blutes, das durch seinen Körper kreist, wie etwas Fremdes, das Besitz von ihm ergreift. Wegen der blauen Pillen, die seine Mutter ihm am Strand gegeben hat, war er immun gegen die Verhaltenscodierung, doch der Rest schwimmt weiterhin in seiner Hirnflüssigkeit. Kann er seinem eigenen Kopf vertrauen? Gegenwärtig fühlt er sich benommen, alles ist undeutlich und verschwommen. »Wie ist eigentlich diese vertrauenswürdige Person?«, fragt er.

»Schwer zu sagen«, antwortet Bradwell.

»Bist du ihr noch nicht begegnet?«

»Nein«, antwortet Bradwell. »Ich kenne die Gerüchte, das ist alles.«

»Gerüchte?«

»Ja. Sie ist unsere einzige Chance«, sagt Bradwell. »Das heißt, wenn ihre Beschützer uns nicht vorher umbringen.«

»Ihre Beschützer könnten uns umbringen?«

»Es wären keine Beschützer, wenn sie sie nicht beschützen würden.«

»Verdammt«, flucht Partridge. »Du schleppst mich wegen irgendwelcher Gerüchte hier raus?«

Bradwell wirbelt zu ihm herum. »Damit wir uns richtig verstehen«, sagt er. »Du hast mich hier rausgeschickt, auf die Suche nach Pressia, die du auch aus ihrer Deckung geholt hast!«

»Tut mir leid«, sagt Partridge.

Bradwell geht weiter. »Es sind eigentlich keine Gerüchte. Eher ein Mythos. Hast du eine bessere Idee?«

Er weiß, dass Partridge keine bessere Idee hat. Er ist fremd in dieser Welt. Er hat gar nichts.

Manchmal kommt Partridge das alles so unwirklich vor, wie eine szenische Wiederaufführung der Katastrophe und nicht die Katastrophe selbst. Er erinnert sich an einen Klassenausflug in ein Museum. Dort gab es in den verschiedenen Abteilungen Miniatur-Displays mit Schauspielern dazu, die erzählten, wie es vor der »Rückkehr des Anstands« zuging. Jede Darstellung war einem Thema gewidmet: Vor dem Bau des außerordentlichen Gefängnissystems; vor der flächendeckenden medikamentösen Versorgung schwererziehbarer Kinder und Jugendlicher; bevor der Feminismus die Weiblichkeit förderte; als die Medien der Regierung noch feindselig gegenüberstanden, anstatt gemeinsam mit ihr auf ein übergeordnetes Wohl hinzuarbeiten; bevor Menschen mit gefährlichen Ideen rechtzeitig identifiziert werden konnten; als die Regierung noch um Erlaubnis fragen musste, um ihre treuen Bürger vor dem Übel der Welt und den Kriminellen zu beschützen; bevor die Tore rings um die Wohnsiedlungen elektronisch abgeriegelt wurden und freundliche Wachposten jeden mit Namen kannten.

Tagsüber hatte es auf dem weitläufigen Rasen des Museums auch Nachstellungen der Straßenschlachten gegeben, die im Zuge der Proteste gegen die »Rückkehr des Anstands« und die entsprechende Gesetzgebung aufkamen. Mit dem Militär im Rücken konnte die Regierung Aufstände – meist politische Demonstrationen, die in Gewalt umschlugen – ganz einfach niederschlagen. Die Hausmiliz der Regierung – die Rechtschaffene Rote Welle – kam dazu, um die Lage zu retten. Der aufgezeichnete Lärm war ohrenbetäubend, Uzis und Angriffsignale kamen aus den Lautsprechern. Die Kids in Partridges Klasse kauften im Souvenirshop Megafone, ziemlich echt aussehende Handgranaten und Aufbügelembleme der Rechtschaffenen Roten Welle. Partridge hatte sich einen Sticker gewünscht mit der Aufschrift: RÜCKKEHR DES ANSTANDS – DIE BESTE FORM DER FREIHEIT über einer wehenden amerikanischen Flagge, mit der Unterzeile BLEIB WACHSAM, doch seine Mutter hatte ihm kein Geld für den Souvenirladen gegeben, kein Wunder.

Heute weiß Partridge, dass das Museum nichts als Propaganda war. Trotzdem, er könnte für einen Moment so tun, als seien die Meltlands genau das – ein Museum, aufgebaut mit größtmöglicher Authentizität. »Weißt du, wie es hier vor dem Bombardement war?«, fragt er Bradwell.

»Ich habe eine Zeit lang hier gewohnt, bei meiner Tante und meinem Onkel.«

Partridge, dessen Mutter sich geweigert hatte, die Stadt zu verlassen, hatte hier nur mal seine Freunde besucht. Er erinnert sich an das Geräusch der Tore – das leise elektrische Summen, die knirschenden Zahnräder, die lauten metallischen Schläge. Und obwohl die Häuser in den geschlossenen Wohnanlagen dicht an dicht gestanden hatten, jedes mit einem winzigen Fleckchen Rasen, überzogen von einem samtigen, chemischen Glanz, hatten sie einsam und trostlos ausgesehen. »Hast du noch Bilder davon im Kopf?«, fragt er Bradwell.

»Keine, die ich haben will.«

»Warst du hier, als es zu Ende ging?«

»Ich war unterwegs«, sagt Bradwell. »Ich war eins von den Kindern, die immer rumstreunen und nie da sind, wo sie sein sollen.«

»Die meisten Kinder durften nicht raus, mussten weg aus den Augen der Öffentlichkeit«, sagt Partridge. »Ich weiß jedenfalls, dass es bei mir so war.« Kinder redeten. Man konnte ihnen nicht vertrauen, und sie wiederholten die Worte ihrer Eltern wie Papageien. »Wenn dich jemand fragt, was ich von irgendetwas halte«, hatte Partridges Mutter zu ihm gesagt, »dann sag, dass du es nicht weißt.« Sie hatte ihn nie lange allein gelassen, wenn er bei einem Freund war. Außerdem war da die ständige Angst vor Viren, irgendwas Ansteckendem. Die Umwelt war verseucht. Die Wasserversorgung war dubios, das Trinkwasser oft verunreinigt, die Nahrungsmittel nicht mehr einwandfrei. Es gab Rückrufaktionen. Auch ohne die Bombenangriffe, das hatte Partridge in der Akademie gelernt, hätten sie das Kapitol gebraucht. Es hatte sich als weise Voraussicht erwiesen. Die Explosionen – war es möglich, dass sein Vater von Anfang an Bescheid gewusst hatte? Er hatte selten über die Bomben gesprochen, doch wenn er es tat, dann hatte er sie immer fast als Naturkatastrophe dargestellt. Mehr als einmal hatte Partridge ihn sagen hören, sie wären »ein Akt Gottes« gewesen. »Und Gott war uns gnädig. Danke, Vater, denn wir sind gesegnet.«

Partridge erinnert sich, dass er und seine Mutter mal einen seiner Freunde besuchten und die Mutter dieses Freundes verschwunden war. Er fragt sich, ob die Überreste dieses Hauses noch irgendwo in dieser ausgedehnten kahlen Trümmerlandschaft zu finden sind. »Mrs Fareling«, sagt er zu sich selbst, als ihm der Name wieder einfällt.

»Was?«, fragt Bradwell.

»Mrs Fareling war eine Freundin meiner Mutter. Wir haben manchmal eine Fahrgemeinschaft gebildet. Meine Mutter mochte sie. Sie hatte einen Sohn in meinem Alter, Tyndal. Wir waren zum Spielen bei ihnen zu Hause verabredet, in einer bewachten Wohnanlage, und sie war verschwunden. Eine fremde Frau machte uns auf. ›Sozialarbeiterin‹, sagte sie. Sie war übergangsweise da, während Mr Fareling nach einem Ersatz für die Frau in seinem Heim suchte.«

»Was hat deine Mutter gesagt?«, fragt Bradwell.

»Sie wollte wissen, was passiert wäre, und die Frau meinte, dass Mrs Fareling erst nicht mehr zu den FF-Treffen gegangen sei und dann auch nicht mehr zu den Kirchenversammlungen.«

»Feminine Feministinnen«, sagt Bradwell.

»War deine Mutter dadrin?«

»Natürlich nicht! Sie hat keinen altmodischen Idealen nachgeeifert. Sie hielt das für Schwachsinn, genauso wie zu sagen: Sind wir nicht großartig, so wie wir sind? Hübsch, fraulich, nicht bedrohlich. Volksverdummung.«

»Meine Mutter hatte ebenfalls nichts für diese Bewegung übrig. Sie hat sich mit meinem Dad darüber gestritten.« Die Mütter von Partridges Freunden waren allesamt Mitglieder der Bewegung gewesen. Sie trugen alle immer Lippenstift – das sah gut aus, auch wenn er manchmal an ihren Zähnen klebte.

»Was wurde aus Mrs Fareling?«, fragt Bradwell.

»Keine Ahnung.« Die fremde Frau hatte gesagt, dass die Therapie nicht immer dauerhaft wäre. Sie hatte Seelsorge angeboten. Manchmal können wir helfen, wenn jemand einen plötzlichen Verlust erlitten hat. Seine Mutter hatte abgelehnt. Partridge meint fast noch ihren festen Griff um seinen Oberarm zu spüren, als sie ihn zum Wagen gebracht hatte, als wäre er derjenige gewesen, der etwas falsch gemacht hatte. »Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir, dass die Regierung ihre Gefängnisse, Sanatorien und Therapiezentren aus einem bestimmten Grund so groß gebaut hatte. Damit jeder wusste, dass es nur die Wahl gab, unter ihrem Dach zu leben oder in ihrem Schatten.«

Die Dämmerung hat eingesetzt, und die Schatten werden tiefer. Überall könnten Bestien lauern. Sie umrunden eine Reihe geschmolzener Klettergerüste und steigen über ein Band aus umgefallenem Maschendrahtzaun.

»Deine Eltern«, sagt Partridge zu Bradwell. »Wie haben sie das alles rausgefunden, wenn sie doch Nein gesagt hatten zu den Besten und Klügsten in den Red-Lobster-Restaurants? Sie waren außen vor.«

»Glück«, sagt Bradwell. »Rückblickend bin ich allerdings nicht sicher, ob es nicht eigentlich Pech war. Mein Dad bekam ein Stipendium; er sollte bestimmte Rituale in einem abgelegenen japanischen Fischerdorf untersuchen, und eine Familie gab ihm eine Videoaufzeichnung von einer Frau, die Hiroshima überlebt, aber Verformungen erlitten hatte. Ihr Arm war mit einer Taschenuhr verschmolzen. Sie lebte im Verborgenen, weil es auch andere wie sie gegeben hatte – Menschen, die auf seltsame Weise mit Tieren, dem Land oder miteinander verschmolzen waren –, die von der Regierung abgeholt und nie mehr gesehen wurden.«

»Im Kapitol haben sie uns lieber was über die alten Kulturen beigebracht. Höhlenzeichnungen, Tonscherben, hin und wieder Mumien und so was. Ist einfacher, schätze ich.«

»Ja, vermutlich.« Bradwell sieht Partridge an, als würde er das Eingeständnis akzeptieren. »Wie dem auch sei, viele Historiker glaubten genau wie mein Vater nicht, dass die Atombomben der einzige Grund für die japanische Kapitulation waren. Bis zu diesem Augenblick zeigten die Japaner keinerlei Furcht vor Verlusten. Meine Eltern fragten sich, ob es nicht die Angst des Kaisers vor diesen Absonderlichkeiten war, die die Bomben erschaffen hatten. Die Japaner waren ein sehr gleichartiges Volk. Eine Inselkultur. Möglich, dass es zu viel war für den Kaiser – nicht die Angst, dass sie vernichtet würden, sondern verformt, entstellt, mutiert. Er zwang die Generäle zur Kapitulation, und die vielen Menschen, die durch die Bombe verschmolzen waren, wurden weggesperrt und studiert. Wegen der Zensur durch den amerikanischen Machthaber MacArthur über die Auswirkungen der Bomben, der Unterdrückung von Augenzeugenberichten und mündlichen Erzählungen und selbst wissenschaftlicher Beobachtungen – was alles in allem praktisch einem Maulkorberlass für die Japaner gleichkam – plus ihre eigene Scham … gelang es, das wahre Ausmaß des Entsetzens zu verschleiern und die Mutationen geheim zu halten.«

Sie haben einen Gitterabschnitt erreicht, der noch steht. Bradwell klettert zuerst rauf. Partridge folgt ihm. Beide springen zu Boden. Vor ihnen erstrecken sich weitere ausgebrannte Ruinen und geschmolzene Plastikhügel.

»Was ist mit den Vereinigten Staaten?«, fragt Partridge.

»Willst du das wirklich wissen? Mir wurde gesagt, ich wäre zu pedantisch.«

»Ich will es wissen.«

»Die Vereinigten Staaten wussten um die unbeabsichtigten, zufälligen Nebenwirkungen der Bombe und entwickelten im Geheimen neue Techniken – das waren die Steckenpferde deines Vaters. Irgendwann wollten sie Gebäude bauen können, durch die keine Radioaktivität dringen kann und die Auswirkungen der Strahlung kontrollierbar machen. Statt unbeabsichtigter und zufälliger Verschmelzungen wollte die US-Regierung geplante Verschmelzungen, um eine Superspezies zu erschaffen.«

»Die Codierungen. Ich habe ein paar mitgemacht. Sie haben bei mir nicht gut angeschlagen.« Partridge ist stolz auf diese Feststellung, auch wenn es nicht so ist, als hätte er sich jemandem widersetzt. Es ist lediglich eine Tatsache, mehr nicht.

»Ehrlich?«

»Sedge war ideal. Ich nicht«, sagt Partridge. »Aber wie sind deine Eltern an die ganzen Infos gekommen?«

»Einer der Genetiker, Arthur Walrond, war ein Freund meiner Mutter, Silva Bernt. Walrond führte ein abgedrehtes Single-Leben, fuhr Cabrio, hatte ein loses Mundwerk und ein schlechtes Gewissen. An einem Wochenende kam er bei meinen Eltern zu Besuch, betrank sich und erzählte ihnen einige Geheimnisse der Neuen Wissenschaften. Es passte – war ja klar – bestens zu den Theorien, die meine Eltern entwickelt hatten. Von da an lieferte er ihnen Informationen.« Bradwell hält inne und blickt suchend über die Schuttfelder der ausgebrannten Siedlung. Er reibt sich den Nacken. Er sieht müde aus.

»Was ist los?«, fragt Partridge.

»Nichts. Mir fällt nur gerade ein, wie er meine Eltern überredet hat, mir einen Hund zu schenken. ›Bradwell ist ein Einzelkind, und ihr seid beide Workaholics! Kauft dem Kleinen endlich einen Köter!‹ Walrond war ein kleiner, dicklicher, o-beiniger Schnellredner mit einem schicken Auto, ein Playboy, so seltsam das klingt. Er war für dieses Leben einfach nicht gemacht. Er wusste genau, was sie mit seinen Forschungen anstellen konnten. Die Regierung nannte es ›Unbegrenztes Potenzial‹, aber er fügte immer noch ›für Vernichtung‹ hinzu.

Er war nachlässig. Als die Regierung dahinterkam, dass er Geheimnisse ausplauderte, stellten sie ihn zur Rede und gaben ihm genug Zeit, um Selbstmord zu begehen, bevor sie ihn verhafteten. Er gehorchte. Eine Überdosis.« Bradwell seufzt. »Ich nannte meinen Hund Art, nach Arthur Walrond. Ich musste ihn weggeben, nachdem meine Eltern gestorben waren. Meine Tante war allergisch gegen Hunde. Ich habe dieses dumme Tier geliebt.«

Bradwell hält inne und sieht Partridge an. »Dein Vater hat meine Eltern getötet. Wahrscheinlich gab er sogar den Befehl dazu. Sie wurden im Schlaf erschossen, noch bevor die Bomben fielen, aus nächster Nähe, mit Schalldämpfern. Ich schlief in meinem Bett. Ich wurde morgens wach und fand sie.«

»Bradwell …«, sagt Partridge. Er streckt die Hand nach ihm aus, doch Bradwell weicht zurück.

»Weißt du, was ich manchmal denke, Partridge?« Nicht weit entfernt sind die Geräusche von Tieren zu hören. Geheul. Ein vogelartiges Krächzen. »Ich denke, wir waren schon krank. Die Menschen starben an Superseuchen. Die Krankenhäuser waren voll. Gefängnisse wurden umgebaut, um die Kranken aufzunehmen. Das Wasser war mit Öl verseucht. Und wenn nicht das, dann gab es massenhaft Munition und Aufstände in den Städten. Die Luft war vergiftet, überall Strahlung. Wären wir uns selbst überlassen gewesen, wir hätten uns gegenseitig niedergeschossen und abgeschlachtet. Auch ohne die Explosionen wären wir immer weniger geworden, und schließlich hätten sich die letzten Überlebenden mit Keulen totgeschlagen. Also haben sie diesen Niedergang letztendlich nur beschleunigt, richtig? Das ist alles.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Nein«, erwidert Bradwell. »Wenn ich optimistischer drauf bin, denke ich, wir hätten das Blatt noch wenden können. Es gab eine Menge Leute wie meine Eltern, die für das Gute gekämpft haben. Am Ende ist ihnen die Zeit davongelaufen.«

»Ich schätze, das könnte man Optimismus nennen.«

»Es war nicht schlecht, von Feinden des Staates aufgezogen zu werden. Ich bin abgestumpft. Nachdem die Bomben gefallen waren, wusste ich, dass es keinen Sinn hatte, zu den Supermärkten zu rennen wie alle anderen. Ich wusste auch, dass keine Hilfe kommen würde, womit alle rechneten, worauf alle warteten. Wasser und Decken und Nahrungsmittel und erste Hilfe von der Armee. Ich hatte von meinen Eltern genug gehört, um zu wissen, dass ich niemandem trauen konnte. Dass es besser war, offiziell als tot zu gelten. Deswegen bin ich tot – und es ist gar nicht so schlecht, als Toter.«

»Es ist schwieriger zu sterben, wenn man schon tot ist.«

»Weißt du, was mich seitdem immer beschäftigt hat?«

»Was?«

»Ich fand einen Brief von Walrond zwischen den Sachen meiner Eltern. Betrunkenes Gekritzel: Die Sache ist die – sie könnten alle retten, aber sie wollen nicht. Die Worte sind mir nie aus dem Kopf gegangen. Und dann gibt es noch einen Artikel, wo ein Reporter Willux nach der Widerstandsfähigkeit des Kuppelbaus gegen Strahlung fragte. Willux antwortet, dass die Strahlenresistenz unbegrenztes Potenzial für uns alle böte.«

»Aber so war es nicht. Nicht für alle.«

»Dein Vater wollte die nahezu vollständige Vernichtung, damit er noch mal von vorne anfangen konnte. War es ein Rennen gegen andere, die näher dran waren als er? Oder gegen jene, die Strahlungssicherheit für alle entwickelten? War er wie der Erfinder der Rüstungen, der die Armbrust entwickelte, als alle anderen auch Rüstungen hatten – die Steigerung von Waffe, Abwehr, bessere Waffe, bessere Abwehr?«

»Ich weiß es nicht. Er ist mir fremd geworden.« Für einen kurzen Augenblick wünscht Partridge sich, sein Vater wäre tot. Böse, denkt er. Sein Vater ist nicht einfach nur zu Bösem fähig, er hat etwas Böses getan, mit voller Absicht. Warum? »Es tut mir leid wegen deinen Eltern«, sagt er. Er blickt sich um, mustert die Zerstörung, so weit das Auge reicht. Er wankt unsicher, als er das Ausmaß der Verluste zu begreifen versucht. Dann verfängt sich sein Fuß in etwas, er stolpert.

Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hat, bückt er sich und findet einen metallenen Gegenstand, der aussieht wie ein überdimensionaler Dartpfeil. Bradwell kommt zu ihm und starrt auf das Ding in Partridges Hand.

»Ist das ein Dartpfeil?«, fragt Partridge. »Ich erinnere mich an ein Spiel, bei dem mit Pfeilen auf eine Zielscheibe geworfen wurde, aber sie waren viel kleiner.«

»Es ist ein Pfeil für Rasendarts«, sagt Bradwell.

Partridge hört das Geräusch, bevor er etwas sieht – ein Surren, fast ein Brummen. Er stößt Bradwell zur Seite. Beide landen unsanft auf dem Boden, nach Luft ringend, als ein weiterer Dartpfeil hinter Bradwell in den Boden schlägt. Bradwell rappelt sich hoch. »Hier lang!«, ruft er. Beide rennen in Richtung eines blau-roten Haufens aus geschmolzenem Plastik und gehen dahinter in Deckung.

In schneller Folge surren weitere Pfeile heran. Zwei der schweren Wurfgeschosse bohren sich in das Plastik auf der anderen Seite. Dann ist alles ruhig.

Partridge späht um den Plastikhaufen herum und entdeckt eine einfache Behausung aus Steinen und noch mehr Plastik, das aus anderen Gärten herangeschleppt wurde. »Ein Haus«, sagt er. »Mit einem kleinen Zaun davor.« Partridge erinnert sich an die Jägerzäune mit kleinen aufschwingenden Törchen und an Hunde, die auf den Wiesen der Vorgärten herumtollten. Doch dieser Zaun besteht aus in den Boden gerammten Pfosten, und auf jedem Pfosten steckt etwas. Er kann im ersten Moment nicht erkennen, was das für seltsame Gebilde sind, doch dann entdeckt er einen verbrannten Brustkorb – einen Satz weit auseinanderstehender Rippen, manche fehlen, andere gebrochen. Zwei Pfosten weiter ein breiter Schädel. Mensch. Ein Teil des Schädels fehlt. Vor dem Eingang des Hauses stehen zwei weitere Schädel, von innen erleuchtet mit Kerzen wie Kürbislaternen. Halloween. Partridge erinnert sich an ein Kostüm, in dem er ausgesehen hat wie ein Roboter. Die Meltlands waren einst berühmt für ihre Feiertage, Geister in den Bäumen und Weihnachtsmänner auf den Dächern. Er sieht, was ein Garten zu sein scheint, umgegrabener Dreck mit Pfosten, doch es sind nur noch mehr Knochen. Sie sind dekorativ verteilt, Handknochen ausgebreitet wie Blüten. In einer anderen Welt hatten diese Dinge – Jägerzaun, Kürbislaterne, Gärten – Zuhause bedeutet. Heute nicht mehr.

»Was ist?«, fragt Bradwell.

»Sieht nicht gut aus«, antwortet Partridge. »Sie sind stolz auf ihre Trophäen.« Ein weiterer Pfeil gräbt sich mit dumpfem Geräusch in das Plastik. »Und sie zielen ziemlich gut. Sind das die Beschützer?«

»Kann schon sein«, sagt Bradwell. »Falls ja, ergeben wir uns. Wir lassen uns fangen und nach drinnen bringen. Ich kann nicht sagen, ob sie es sind, bevor ich sie nicht sehe. Ich brauche einen besseren Blickwinkel. Ich laufe zu dem anderen Haufen dort.« Bradwell zeigt weiter nach vorn.

»Pass auf, dass sie dich nicht treffen.«

»Wie viele Dartpfeile können sie schon haben?«

»Ich möchte lieber nicht wissen, was sie einsetzen, wenn sie keine mehr haben. Du etwa?«, sagt Partridge kopfschüttelnd.

Bradwell sprintet los. Die Darts fliegen ihm entgegen. Er stößt einen Schrei aus, stolpert, packt seinen linken Ellbogen. Er wurde in die Schulter getroffen. Er rennt weiter und wirft sich hinter den nächsten Plastikhaufen.

Partridge sprintet ihm nach, bevor Bradwell ihm zurufen kann, dass er bleiben soll, wo er ist. Er wirft sich neben Bradwell in Deckung. Bradwells Jackenärmel ist voller Blut. Partridge sucht nach dem Dartpfeil in Bradwells Schulter.

»Nicht!«, stöhnt Bradwell und rollt sich von ihm weg.

»Wir müssen ihn aber rausziehen«, sagt Partridge. »Was denn, hast du etwa Angst vor dem bisschen Schmerzen?« Er hält seinen Arm am Ellbogen fest. »Ich mache schnell.«

»Warte! Warte!«, ächzt Bradwell. »Wir machen es bei drei, okay?«

»Bei drei, okay.« Partridge beugt sich vor, drückt Bradwells Arm nach unten, fest gegen den Boden, und packt den Pfeil. Er sitzt tief. »Eins … zwei …« Er zieht mit aller Kraft, reißt den Pfeil heraus und ein Stück der Jacke gleich mit.

»Scheiße!«, schreit Bradwell. Aus der Wunde sprudelt Blut. »Warum hast du nicht bis drei gewartet?«

Rache, denkt Partridge. Ein Impuls, es Bradwell heimzuzahlen. Die Verachtung, die er ihm entgegengeschleudert hat, der gemeine Angriff, als Pressia verschwunden ist. Irgendwie hasst er Bradwell – aber vielleicht nur, weil Bradwell ihn zuerst gehasst hat. »Wir müssen die Wunde verbinden«, sagt Partridge.

»Verdammt!«, ächzt Bradwell und hält seinen Arm gegen die Brust gedrückt.

»Zieh deine Jacke aus.« Partridge hilft Bradwell beim Ausziehen. Er benutzt den kleinen Riss, um den Ärmel abzureißen, und wickelt ihn fest um den Schultermuskel. »Ich wünschte nur, ich hätte was gesehen«, sagt Partridge.

»Ach, weißt du was? Ich glaube, du kriegst deine Gelegenheit«, sagt Bradwell und deutet nach vorn.

Und dort sind zwei Augen, dicht über dem Boden. Ein Kind späht hinter dem Bein eines größeren Geschöpfes hervor – eines Geschöpfes in einer Art Rüstung. Es ist eine Frau. Ein metallener Brustpanzer aus Rasenmäherflügeln, ein Helm. Ein langer Zopf reicht über eine Schulter. Ihre Waffen sind Teile von irgendwas – einer Fahrradkette, einer Bohrmaschine, einer Kettensäge.

»Das sieht doch gar nicht so schlecht aus«, sagt Partridge. »Nur sie und ihr Kind. Wir sind zu zweit.«

»Warte«, sagt Bradwell.

Andere nähern sich lautlos hinter ihr. Es sind ebenfalls Frauen, die meisten haben Kinder, entweder im Arm oder neben sich. Weitere Waffen – Küchenmesser, Grillgabeln, Spieße, Rasentrimmer. Ihre Gesichter sind gesprenkelt mit Glas, Fliesensplittern, Spiegelscherben, glänzendem Plastik. Viele tragen Schmuck, der mit ihren Handgelenken, Ohrläppchen oder Hälsen verschmolzen ist. Sie scheinen an der Haut zu picken, damit sie nicht über den von dunkelrotem, überkrustetem Schorf eingerahmten Schmuck wächst.

»Haben sie uns gefunden?«, fragt Partridge. »War das die Gruppe, die du gesucht hast?«

»Jepp«, antwortet Bradwell. »Ich denke schon.«

»Sie sehen aus wie Hausfrauen«, flüstert Partridge.

»Hausfrauen mit ihren Kindern«, sagt Bradwell.

»Warum sind die Kinder nicht gewachsen seit damals?«

»Sie können nicht. Sie werden von den Körpern ihrer Mütter in der Entwicklung gehemmt.«

Partridge kann sich kaum vorstellen, dass die Menschen, die hier draußen gewohnt haben, überlebensfähig waren. Sie waren nie etwas anderes als Mitläufer, ohne jeden Mut, für ihre Überzeugungen einzustehen. Diejenigen, die Mut aufbrachten, vielleicht wie Mrs Fareling, verschwanden. Sind dies die Mütter und Kinder der bewachten Wohnanlagen, die Plastikzeug so toll fanden?

Als die Menge näher kommt, erkennt Partridge, dass die Kinder nicht nur an ihre Mütter angeheftet sind. Sie sind mit ihnen verschmolzen. Die erste Frau, die sie gesehen haben, zieht ein Bein etwas nach. Das Kind, das sich an ihrem Bein festzuklammern scheint, ist dort mit ihr verschmolzen. Der Junge hat keine Beine und nur einen Arm, Rumpf und Kopf ragen aus ihrem Oberschenkel. Bei einer anderen Frau starren Augen aus einem knolligen Babykopf, der wie ein Kropf aus ihrem Hals ragt.

Die Gesichter der Frauen sind hager, ihre Blicke finster. Ihre Haltung ist leicht vornübergebeugt, bereit zuzuschlagen.

Partridge zieht den Schal fester, um sein Gesicht zu verbergen.

»Zu spät«, sagt Bradwell. »Nimm einfach die Hände hoch und lächle.«

Noch immer auf den Knien, heben sie die Hände.

»Wir ergeben uns«, sagt Bradwell. »Wir sind hergekommen, um Eure Gute Mutter zu sprechen. Wir brauchen ihre Hilfe.«

Eine Frau mit einem an der Hüfte verschmolzenen Kind tritt vor. Sie schiebt einen mit Messern bewehrten Kinderwagen bis dicht vor Partridges Gesicht. Eine andere Frau mit einer großen Heckenschere geht zu Bradwell und tritt ihm mit voller Wucht gegen die Brust. Sie hält die Schere vor Bradwells Gesicht, und die scharf glitzernden Klingen öffnen und schließen sich bedrohlich. Ein Griff der Schere ist mit ihrer Hand verschmolzen, den anderen bedient sie mit der unversehrten anderen. Schließlich stellt sie den nackten Fuß auf Bradwells Brust, öffnet die Schere weit und hält sie über seinen Hals.

Partridges Arm wird nach hinten gerissen. Er zieht seinen Fleischerhaken, wirbelt herum, schlägt über den Kopf eines verkrüppelten Kindes hinweg ins Leere. Die Hand der Mutter ist mit dem Rücken des Mädchens verschmolzen. Er stolpert mit dem Schwung vorwärts, die Frau rammt ihm ein Knie in den Unterleib, schlägt ihm eine Faust gegen das Kinn und hält ihm ein Küchenmesser an die Brust.

Ihre Tochter lacht.

Partridge wird klar, dass diese Frauen und ihre mit ihnen verschmolzenen Kinder taktisch vorgehen. Sie sind brutal. Sie sind Soldaten. Durch seine Codierung kann er es zwar mit einem halben Dutzend von ihnen gleichzeitig aufnehmen, doch jetzt sieht er, dass es wohl mehr als hundert sind. Andere Frauen kommen schnell dazu, nehmen ihnen ihre Messer, Haken und die Rasendarts ab, die sie eben erst eingesammelt haben.

Die Frau mit dem Küchenmesser packt Partridge mit einem Griff am Arm, der sich anfühlt, als würden sich scharfe Zähne in sein Fleisch senken. Sie zerrt ihn mit überraschender Kraft auf die Beine. Er sieht an seinem Arm herunter und bemerkt, dass er blutüberströmt ist, dann erhascht er einen Blick auf ihre Handfläche, die mit Spiegelscherben übersät ist. Sie zieht einen alten dunklen Kopfkissenbezug aus dem Gürtel. Eine andere Frau tritt hinter ihn, biegt seine Arme nach hinten und bindet seine Handgelenke so fest, dass sich seine Ellbogen hinter dem Rücken fast berühren. Er wirft einen Blick zu Bradwell, der inzwischen ebenfalls wieder auf den Beinen ist und gefesselt wird.

Das Letzte, was Partridge sieht, bevor ihm der Kopfkissenbezug übergestülpt wird, ist ein goldenes Kreuz an einer dünnen Kette, eingebettet in eine verbrühte Brust.

Und dann umfängt ihn Dunkelheit. Sein eigener feuchter Atem, eingehüllt in die dunkle Haube.

Er denkt an das Meer. Hat seine Mutter ihn damals in eine Decke gehüllt? Hat der Wind den Stoff an seinem Ohr flattern lassen? Hat es das ständige Rauschen des Ozeans übertönt? Was ist aus dem Meer geworden? Er hat Bilder gesehen, in Graustufen. Es ist aufgewühlt, schäumt. Doch Graustufen verfälschen es. Genauso wie ein unbewegtes Bild. Er schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, dass sein Kopf in einer Decke und das Meer nicht weit entfernt und seine Mutter ganz nah ist. Er hofft, dass er nicht sterben muss.

Ein Kind schreit auf. Es klingt wie der klagende Ruf einer Möwe.