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Lampert war so schnell gelaufen, wie er konnte. Das war nicht einfach mit auf den Rücken gefesselten Händen. Er war in einer ordentlichen körperlichen Verfassung, aber nicht fit genug für einen Kampf. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine Waffe abgefeuert. Er beschäftigte andere, um das für ihn zu erledigen. Und er hatte noch nie um sein Leben laufen müssen.

Dafür bezahlte er jetzt.

Der Gefechtslärm war verstummt. Jetzt hörte Lampert nur noch das Rauschen der Wellen am Strand.

Sein Schiff lag eine Viertelmeile entfernt vor Anker.

Er würde überleben und weiterkämpfen.

Nur nicht in diesem Land. Aber das war in Ordnung. Das Leben hier wurde ohnehin langweilig.

Er drückte den Unterarm gegen seine stechende Seite und eilte weiter auf den Pier zu.

Dort wartete sein Sechs-Meter-Boot.

Draußen auf dem Meer konnte er seine Jacht sehen.

Er war sicher, das Boot selbst zur Jacht steuern zu können. Wenn Landry es in einem Tropensturm bis zur Bohrinsel schaffte, würde er es bei ruhigerer See auch bis zu seiner Jacht schaffen.

An Bord des Zubringerbootes befand sich ein Messer, mit dem er die Plastikfesseln durchschneiden konnte. Wenn er das geschafft hatte, war es eine problemlose Fahrt. Das Boot war stabil, und die Wellen wurden harmloser, weil der Wind nachließ.

Ja, er konnte es schaffen.

Er hatte den Pier fast erreicht, als er es sah.

Im ersten Augenblick begriff er nicht, worum es sich handelte, aber dann verstand er.

Es war der Kommandoturm eines U-Boots.

Rojas’ U-Boot. Er hatte es während der Besprechung auf der Jacht erwähnt. Es konnte viele Menschen an Bord nehmen.

So also waren die Killer auf sein Anwesen gekommen. In einem Unterseeboot.

Plötzlich erschien es Lampert problematisch, das Zubringerboot zu nehmen. Was, wenn sie ihn verfolgten? Das Meer war noch immer unruhig. Was, wenn das U-Boot sein Sechs-Meter-Boot rammte und zum Kentern brachte? Wenn er ins Wasser stürzte? Er würde jämmerlich ertrinken.

Lampert blieb stehen, drückte noch immer gegen den dumpfen Schmerz in seiner Seite. Er hätte mehr Sport treiben sollen. Sein Problem war, dass seine körperliche Betätigung vor allem aus Sex bestand. Und das bereitete einen nicht auf lange Läufe in unebenem Gelände vor.

Verzweifelt suchte er nach einem anderen Ausweg.

Wenn nicht das Boot, was dann?

Die Straße, die von seinem Grundstück führte, kam nicht infrage, denn von dort waren Sirenen zu hören, die näher kamen.

Lampert ging parallel zum Strand weiter und dachte angestrengt nach.

Es musste einen Weg geben.

Vielleicht sollte er es einfach mit dem Boot riskieren. Es war auf jeden Fall besser zu manövrieren und wendiger als ein U-Boot.

Oder nicht?

Er wusste es nicht. Aber ihm wollte keine Alternative einfallen.

Dann versank das U-Boot langsam im Wasser. Es wendete und nahm mit wachsender Geschwindigkeit Kurs aufs Meer hinaus. Nur der Turm war noch immer zu sehen.

Vielleicht hatten auch sie die Sirenen gehört. Oder sie hatten einfach angenommen, dass die Sache schlecht lief und dass es besser war, den Rückzug anzutreten.

Was immer der Grund sein mochte, Lampert hatte jetzt seine Chance.

Die Lady Lucky hatte einen Stahlrumpf. Sie konnte es mit dem Ansturm des Meeres aufnehmen. Lampert hatte mit der Jacht schon einmal den Atlantik überquert. In internationalen Gewässern würde er sich viel sicherer fühlen. Landry und die anderen würden erst ihre Aussagen bei der Polizei machen müssen, und das kostete Zeit. Haftbefehle mussten ausgestellt werden, Fahndungen ausgeschrieben. Man würde die Polizei losschicken. Bis dahin konnte er weit weg sein.

Hinter Lampert ertönten Geräusche.

Er drehte sich um. Als er sah, was auf ihn zukam, rannte er verzweifelt auf sein kostbares Boot und aufs offene Meer zu.

Es sah aus, als wäre der Teufel persönlich hinter Lampert her.

Und in gewisser Weise stimmte das.

Puller hatte Mecho eingeholt, und nun liefen die beiden hünenhaften Männer Seite an Seite.

Mecho schaute nicht zu Puller hinüber und sagte auch nichts. Seine Konzentration war ganz und gar auf den Mann vor ihnen gerichtet.

Puller und Mecho liefen wie die Soldaten, die sie waren. Auch wenn sie nicht die Schnellsten waren, liefen sie mit geübten Bewegungen und einer Kraft und Geschmeidigkeit, die es ihnen erlaubte, mit dem geringsten Einsatz von Energie maximale Resultate zu erzielen. Im Kampf musste man oft laufen. Bewegliche Ziele überlebten eher. Stehende Ziele starben oft.

Sie lagen noch immer Kopf an Kopf, als sie sich ihrem Ziel näherten. Doch es war schließlich Puller, der sich im letzten Moment nach vorn warf und Lampert erwischte.

Der Mann ging zu Boden.

Mecho bückte sich und riss Lampert mit einem wilden Ruck in die Höhe.

Puller stand langsam auf und beobachtete die beiden.

Mecho starrte Lampert schweigend an. Seine Züge waren wie aus Stein gemeißelt.

Auf Lamperts Gesicht spiegelte sich Furcht. »Was haben Sie eigentlich gegen mich, verdammt?«, rief er.

Mecho stieß ihn zu Boden, griff in die Tasche, holte ein Foto hervor und hielt es Lampert vors Gesicht.

»Erinnerst du dich an sie?«, fragte er mit angespannter Stimme.

Puller wartete weiterhin ab. Er war sich nicht sicher, wie er reagieren würde, falls Mecho den Versuch unternahm, Lampert zu töten. Lampert war Pullers Gefangener – ein potenzieller Zeuge gegen einen der größten Verbrecher der Welt. Mecho war verwundet, aber das war Puller ebenfalls. Kam es zum Zweikampf zwischen den beiden Riesen, war der Ausgang völlig offen. Puller kannte seine Stärken, aber auch seine Grenzen; er war sich nicht sicher, den größeren Mann besiegen zu können.

Andererseits würde er sich vielleicht selbst überraschen.

Dabei gab es nur ein Problem.

Puller wollte es gar nicht erst so weit kommen lassen.

Mecho war nicht sein Feind.

Lampert blickte verwirrt auf das Foto. »Muss ich diese Person kennen?«

»Ihr Name ist Rada. Du hast sie aus einem Dorf im Rila-Gebirge entführen lassen, in Bulgarien. Sie und viele andere. Das war mein Dorf.«

Lampert warf Puller einen Blick zu. »Meint er das im Ernst? Glauben Sie, ich würde mich an so jemanden erinnern?«

Puller starrte ihn mit steinerner Miene an. »Falsche Antwort, Pete.«

Wieder zerrte Mecho den Mann aus dem Sand, hielt ihn mit einer Hand fest, nahm den anderen Arm zurück und versetzte Lampert einen so harten Schlag, dass mehrere seiner Zähne aus dem Mund flogen. Er wurde anderthalb Meter nach hinten geschleudert und prallte mit solcher Wucht auf die im Rücken gefesselten Arme, dass er sich beide Schultern ausrenkte.

Vor Schmerzen brüllend versuchte er, sich nach hinten wegzuschieben.

»Sei still«, sagte Mecho.

»O Gott!«, kreischte Lampert. »O Gott!«

»Halt die Klappe.«

Mecho trat ihn. »Du erinnerst dich nicht an sie? Du erinnerst dich nicht an Rada?«

»O Gott …« Lampert spuckte Zahnsplitter aus und wälzte sich im Sand.

Puller ging neben ihm auf die Knie, durchtrennte die Fesseln und renkte ihm mit zwei schnellen, energischen Bewegungen beide Schultern ein.

Leise schluchzend blieb Lampert auf dem Rücken liegen.

Mecho starrte auf ihn hinunter. Seine riesigen Fäuste öffneten und schlossen sich unablässig. Seine gewaltige Brust wölbte sich bei jedem Atemzug.

Puller stemmte sich hoch. »Wie soll das hier laufen?«

»Der Kerl kommt mit mir zurück.«

»Er ist in meinem Gewahrsam. Er wird hier wegen Verbrechen gesucht.«

»Er kommt mit mir zurück«, knurrte Mecho.

»Mecho, wir sorgen dafür, dass er nie wieder das Tageslicht sieht.«

»Er hat uns alles genommen, was wir hatten. Ich habe ein Versprechen gegeben.«

Puller zog die Pistole und richtete sie auf den riesigen Mann. Im Magazin waren keine Patronen mehr, aber das wusste Mecho nicht.

»Ich will Sie nicht verletzen, Mecho. Das wäre wirklich das Letzte, worauf ich scharf bin. Aber ich habe einen Job zu erledigen, und das werde ich tun. Dieser Kerl ist verantwortlich dafür, dass meine Tante ermordet wurde. Dafür wird er bezahlen.«

Mecho musterte die Pistole, dann wandte er sich wieder Lampert zu und hielt noch einmal das Foto hoch. »Sag mir, wo sie ist. Sofort.«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte Lampert aus seinem blutigen, zerschlagenen Mund. »Ich schwöre es bei Gott.«

Mecho riss ihn auf die Füße. »Du weißt es. Du wirst es mir sagen.«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht, Herrgott noch mal!«

Mecho ließ ihn los. Lampert fiel schluchzend auf die Seite.

Der Hüne betrachtete das Foto. Plötzlich liefen ihm Tränen über die Wangen, und er zitterte am ganzen Körper.

Puller schaute hinaus aufs Meer, wo Lamperts Jacht zu sehen war. So viel Geld. Begründet auf Not, Schmerz und Elend. Auf Brutalität und nackter Gier. Auf der Zerstörung des Lebens anderer Menschen.

Er warf einen Blick auf Mecho, steckte die Pistole zurück ins Halfter und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was er jetzt tun würde, verstieß gegen sämtliche Regeln, die ihn geleitet hatten, seit er ein erwachsener Mann war.

»Wie wollten Sie ihn hier wegschaffen?«

Mecho hob den Kopf. »Warum?«

»Es interessiert mich.«

»Ich habe einen Freund. Er hat ein Frachtschiff. Er bringt uns nach Hause, ohne Fragen zu stellen.«

»Wo und wann?«

»Heute Abend. In Port Panama City.«

Lamperts Schluchzen war verstummt. Er hörte aufmerksam zu.

»Das … das kann nicht Ihr Ernst sein«, stammelte er mit blutigem Mund und blickte Puller flehend an. »Sie dürfen nicht zulassen, dass dieses Ungeheuer mich nach Bulgarien bringt!«

Puller starrte auf ihn hinunter. »Warum nicht? Sie waren doch schon da. Hatten eine schöne Reise, nicht wahr? Haben alles … nein falsch … haben jeden bekommen, den Sie brauchten, richtig?«

»Das können Sie nicht machen …«

»Können Sie Ihrem Freund vertrauen, Mecho?«

»Ja.«

»Was geschieht mit Lampert in Bulgarien?«

»Wir haben dort eine Justiz, genau wie Sie hier.«

»Haben Sie die Todesstrafe?«

»Wir haben Schlimmeres.«

»Schlimmeres? Und was?«

»Er wird leben. In einem Teil Bulgariens, in dem sich niemals jemand freiwillig aufhalten würde. Dort wird er den Rest seines Lebens verbringen. Und er wird eine jede Minute eines jeden Tages beschäftigt sein, bis er stirbt, weil er sich zu Tode geschuftet hat. Wir Bulgaren sind erbarmungslos, wenn es um Leute geht, die uns Schmerz und Leid gebracht haben.«

Lampert kämpfte sich in eine sitzende Position hoch. Blut strömte aus seinem Mund. »Um Himmels willen, Puller, das können Sie nicht zulassen! Sie sind Cop! Sie müssen Ihre Pflicht erfüllen. Sie dürfen nicht erlauben, dass dieser Kerl mich mitnimmt. Er ist Ausländer. Er entführt einen amerikanischen Bürger. Ich bin Steuerzahler! Ich bezahle Ihr beschissenes Gehalt! Sie arbeiten für mich!«

Puller beachtete ihn gar nicht. »Und Ihr Freund tut das kostenlos? Warum?«

»Nicht gerade kostenlos. Ich habe ihm etwas versprochen, aber ich weiß nicht, wie ich es beschaffen soll. Ich bin nicht mal sicher, was es ist.«

Mecho beschrieb die Bitte seines Freundes.

Puller lächelte und warf einen Blick auf Lampert. »Das ist okay. Ich weiß, was das ist.«

Mecho blickte Puller überrascht, aber auch hoffnungsvoll an. »Dann können Sie diese Sache besorgen?«

»Kann ich«, sagte Puller.

 

Am Limit
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