28

Puller hatte den Laden bereits zuvor entdeckt, eine Hertz-Filiale, die bis elf Uhr abends geöffnet hatte. Er fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Es dauerte nur wenige Minuten, den Wagen gegen einen GMC Tahoe einzutauschen. Es schien den Mann an der Theke zu überraschen, dass Puller die Corvette gegen einen schwerfälligen SUV eintauschte, vor allem in einer Stadt am Strand, aber er lächelte und gab ihm die Schlüssel.

»Ich wünsche Ihnen einen tollen Aufenthalt in Paradise, Sir.«

»Danke«, sagte Puller.

Er fuhr zu einem Geschäft für Strandkleidung, kaufte sich eine Baseballmütze mit »Paradise Forever«-Aufnäher, eine Sonnenbrille und Turnschuhe. Flipflops oder Sandalen wären zwar die typischere Strandkleidung gewesen, nur konnte man damit nicht rennen, jedenfalls nicht weit oder schnell. Außerdem erstand er ein paar T-Shirts und Cargoshorts mit großen Taschen, in denen man Waffen und Ähnliches verstauen konnte. Im Umkleideraum zog er T-Shirt, Shorts und Turnschuhe an, setzte die Mütze auf, schob die Sonnenbrille zusammen mit der M11 in die Tasche und machte sich auf den Weg.

Von der Statur her war er eindrucksvoll genug, dass man ihn in einer Menge kaum übersehen konnte, aber die meisten Leute verfügten über eine schlechte Beobachtungsgabe. So wie Puller jetzt gekleidet war, würde er vermutlich direkt an dem Weißen, dem Schwarzen und dem Latino vorbeigehen können, ohne dass sie einen zweiten Blick für ihn übrighatten. Zumindest konnte er darauf hoffen.

Er parkte zwei Querstraßen vom Sierra entfernt, aber auf derselben Straße. Mittlerweile war es dunkel, doch Ruhe war noch nicht eingekehrt. Hier gab es in der Nacht jede Menge Aktivitäten, und das galt nicht nur für den Strand. Wagen fuhren auf und ab, Menschen riefen, untermalt vom Geräusch rennender Füße. Ob die Leute sich irgendwelchem Ärger näherten oder davor flüchteten, vermochte Puller nicht zu sagen, und es war ihm auch egal.

Diego hatte behauptet, seine casa, in der er mit seiner abuela wohnte, befände sich links ein Stück die Straße hinunter.

Puller schaute auf die Uhr. Dann ließ er den Blick schweifen. Vermutlich waren der Weiße, der Schwarze und der Latino mittlerweile aufgewacht, hatten sich vergewissert, dass ihr Gehirn – sofern vorhanden – noch im Schädel steckte, und befanden sich auf dem Pfad der Vergeltung. Möglicherweise hatten sie sich umgehört und herausgefunden, dass Puller im Sierra wohnte und eine auffällige Corvette fuhr. Deshalb der Wechsel zum SUV. Außerdem bot der Tahoe viel mehr Platz, und Puller ging davon aus, dass er diesen Platz noch brauchen würde. Sein Rucksack würde ziemlich groß sein, und der Kofferraum der Corvette war nicht allzu geräumig. Möglicherweise hatten die drei Typen weitere Schläger rekrutiert, um ihre Rache zu bekommen, nachdem sie einsehen mussten, dass sie es allein nicht schafften. Außerdem waren sie angeschlagen und hatten wahrscheinlich Respekt, wenn nicht sogar Angst.

Dieses Mal würden möglicherweise Kugeln statt nur Fäuste fliegen.

Aber bevor Puller sich dem stellte, wollte er erst etwas überprüfen.

Er ging am Sierra vorbei und rannte fast in einen Jungen, der ihm entgegenkam. Puller schnappte sich seinen Arm, damit er nicht stürzte.

»Alles in Ordnung?«

Das kleine Gesicht des Jungen war wutverzerrt. Er schleuderte Puller einen Fluch entgegen.

»Kannst du mir sagen, wo Diego wohnt?«

Diesmal sprudelte der Junge einen Schwall Beleidigungen in einer Mischung aus Englisch und Spanisch hervor.

Puller zog einen Fünfer aus der Tasche. »Du hast die Wahl. Entweder der hier oder ein Stück Seife, mit dem ich dir den Mund auswasche.«

Der Junge zeigte die Straße entlang. »Das Blaue. Erdgeschoss.«

Puller gab dem Jungen das Geld, der sofort losflitzte.

Mit dem »Blauen« war ein kleines Gebäude mit blauem Vordach gemeint. Es schien eine zweistöckige Pension mit acht Zimmern zu sein – vier Zimmer unten, vier oben. Eine Veranda führte um das Gebäude herum.

Puller stieg die Stufen zur Tür hinauf und klopfte an, doch niemand reagierte. Er hob die Hand, um noch einmal zu klopfen, als die Tür sich öffnete.

Diego stand vor ihm und schaute ihn an.

Puller wusste sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Was ist los?«

Hinter Diegos Schulter bewegte sich etwas leicht, und Pullers Frage wurde beantwortet.

Da stand Isabel, Mateo an ihrer Seite. Ihre Gesichter wiesen Blutergüsse auf. Offenbar hatte jemand sie als Sandsack benutzt. Mateo schniefte und hustete. Isabel sagte nichts, starrte Puller nur unfreundlich an.

»Isabel hat mir erzählt, was passiert ist«, sagte Diego. »Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie ihr und Mateo geholfen haben.«

»Sind sie deine Geschwister?«

»Meine Cousins.«

Isabel trat vor. »Wir wohnen alle bei unserer Großmutter.«

»Wo ist sie?«

»Auf der Arbeit«, sagte Diego. »In einem Restaurant am Strand. The Clipper. Sie arbeitet in der Küche.«

»Als Köchin?«

»Nein, als Putzfrau«, sagte Isabel.

Puller zeigte auf ihre verletzten Gesichter. »Wer hat das getan?«

»Was glauben Sie?«, wollte Isabel wissen.

»Tut mir leid, Isabel, aber ich musste eingreifen. Ich konnte nicht zulassen, dass sie dir das antun.«

»Warum nicht? Es wäre nicht das erste Mal gewesen.«

»Du bist keine puta«, erwiderte Diego.

Mateo brach in Tränen aus.

»Vielleicht doch«, sagte Isabel.

»Nein, bist du nicht«, entgegnete Puller. »Diesen Weg willst du nicht gehen.«

»Ja, genau. Ich gehe aufs College und werde Ärztin oder so.«

»Warum nicht?«, fragte Puller.

Sie blickte ihn mitleidig an. »Auf welchem Planeten leben Sie eigentlich?«

»Du bist keine puta«, wiederholte Diego. Isabel schaute zur Seite und streichelte dabei sanft Mateos Kopf in der Hoffnung, dass seine Tränen versiegten.

Puller konzentrierte sich wieder auf Diego. »Hast du das Auto gesehen?«

Diego schaute zu Isabel, die ihn und Puller nicht aus den Augen ließ. Dann trat er auf die Straße und zog die Tür hinter sich zu.

»Was ist mit deinen und Isabels Eltern passiert?«, fragte Puller.

Diego zuckte mit den Schultern. »Sie waren eines Tages verschwunden. Vielleicht sind sie zurück nach El Salvador, keine Ahnung.«

»Weiß deine Großmutter nicht, was geschehen ist?«

»Falls sie es weiß, behält sie es für sich.«

»Würden eure Eltern euch einfach zurücklassen?«

»Wahrscheinlich hielten sie es für besser, uns hierzulassen. Sie wollten immer nur das Beste für uns. Jetzt bin ich der Mann im Haus. Ich kümmere mich um alles.«

»Dein Mut gefällt mir, aber du bist noch ein Kind.«

»Kann sein. Aber ich habe Ihren Wagen gefunden.« Er hielt kurz inne. »Und Sie haben was von mehr Geld gesagt.«

»Habe ich das?« Puller hatte bereits einen Zwanziger gezückt. »Okay, verrate mir die Einzelheiten.«

Diego rückte zuerst mit dem Kennzeichen heraus.

»Woher hast du das? Es war verdeckt.«

»Als die Männer essen waren, hab ich mir einen Lappen geschnappt und den Dreck weggewischt. Ehe sie zurückkamen, hab ich ihn wieder draufgeschmiert.«

»Beschreib mir die Männer.«

Diego tat es.

»Bist du sicher?«

»Ja.«

Puller gab ihm die zwanzig Dollar.

»Was ist mit Isabel und Mateo? Ist jemand gekommen und hat sie verprügelt?«

Diego schüttelte den Kopf. »Hier nicht, sonst sähe ich genauso aus wie sie, weil ich versucht hätte, die Typen aufzuhalten.«

»Erzähl mir von den Männern, die ich bewusstlos geschlagen habe. Gehören sie zu einer Gang?«

»Das würden sie gern, aber sie sind so blöd, dass keiner sie haben will. Sie verticken ein paar Drogen auf eigene Faust, aber nicht viel. Und sie verprügeln Leute gegen Bezahlung. Die Typen sind der letzte Dreck.«

»Haben sie Freunde?«

»Hier hat jeder Freunde, wenn er das Geld hat, sie zu bezahlen.« Während er das sagte, faltete Diego den Zwanziger sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Tasche.

»Glaubst du, sie warten in meiner Unterkunft auf mich?«

Diego zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Sie sollten sehr vorsichtig sein.«

»Danke für deine Hilfe.«

»Ich mache das nur, um Geld zu verdienen.«

»Ich bewundere deine Ehrlichkeit.«

»Vertrauen Sie niemandem in Paradise, Mister, auch mir nicht.«

»Irgendwann kommt man an einen Punkt, Diego, da muss man jemandem vertrauen. Brauchst du mal Hilfe, kannst du zu mir kommen.«

»Wenn Sie dann noch leben, Mister. Wir werden sehen.«

»Du kannst Puller zu mir sagen.«

»Okay, Puller. Buena suerte.«

»Dir auch.«

Puller ging. Ein Teil von ihm dachte darüber nach, sich wieder mit den drei Blödmännern und möglicherweise ihren bezahlten Helfern auseinandersetzen zu müssen. Ein anderer Teil jedoch dachte über Diegos Beschreibung der beiden Männer im Chrysler nach.

Schlank, fit, Kurzhaarschnitt.

Auf sie passte die Beschreibung von Männern, die denselben Arbeitgeber hatten wie Puller.

Das Militär der Vereinigten Staaten.

 

Am Limit
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