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Als Julie Carson die Augen aufschlug, sah sie als Erstes das helle Deckenlicht. Dann erst sah sie Puller, der am Krankenbett saß.
Er nahm ihre Hand.
»Ich habe es geschafft«, sagte sie benommen.
»Da hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Du wirst im Handumdrehen so gut wie neu sein, haben die Ärzte gesagt.«
»In Uniform bin ich noch nie angeschossen worden. Nur wenn ich mit dir rumhänge.«
»Scheint ein berufsbedingtes Risiko bei mir zu sein.«
Sie setzte sich ein Stück auf. »Verstehe das jetzt bitte nicht falsch, aber ich glaube nicht, dass ich noch mal mit dir Urlaub mache.«
»Das ist nur zu verständlich.«
»Was ist mit Landry passiert?«
»Sitzt im Gefängnis. Hört gar nicht mehr auf zu reden. Bullock hat eigentlich über den Ruhestand nachgedacht, aber nach dieser spektakulären Festnahme könnte er für das Amt des Gouverneurs kandidieren.«
»Dann bekommt Bullock sämtliche Lorbeeren?«
»Die Lorbeeren sind mir egal, General.«
Sie drückte seine Hand. »Julie. Wir sind außer Dienst.«
»Julie«, sagte er.
»Was ist mit Diaz?«
»Die Kolumbianer haben bereits ihre sterblichen Überreste abgeholt. Sie starb als Heldin. Das wird man würdigen.«
»Und Mecho?«
»Er hat es mit ein paar Schrammen überstanden. So wie ich.«
Carson betrachtete die Verbände, die Puller an Arm und Bein trug. »O Gott, John, mir ist gerade wieder eingefallen, dass du ja auch verwundet wurdest.«
»Bloß ein paar Narben mehr.«
»Bitte sag mir, dass man Lampert erwischt hat. Meine letzte Erinnerung ist die, dass er mit gefesselten Händen davongerannt ist.«
Puller zögerte. »Wenn ich dir die Wahrheit sage, schwörst du mir dann, es niemals jemandem zu verraten? Selbst wenn man dich in den Zeugenstand ruft?«
Sie setzte sich noch weiter auf und blickte ihm ins Gesicht. »Was?«
»Vielleicht sollte ich es einfach auf sich beruhen lassen. Ich will nicht, dass du irgendwann einen Meineid schwören musst.«
»Wovon redest du?«
Puller betrachtete die Schläuche, die in einem einzigen Zugang mündeten, den man ihr am Schlüsselbein angebracht hatte.
»Ein Morphiumtropf gegen die Schmerzen«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte.
»Morphium beeinträchtigt die Erinnerung.«
»Manchmal. Aber wir sprachen von Lampert.«
»Tatsächlich?«
»John!«
»Er hat sich für eine kleine Auslandsreise entschieden.«
»Er ist davongekommen? Mit seiner Jacht?«
»Nach Bulgarien. Er bleibt für immer dort, weißt du.«
»Wie kann das sein? Hat die Polizei ihn denn nicht verhaftet?«
»Die Polizei war ein bisschen langsam. Wir haben Lamperts Boot zu einer abgelegenen Stelle am Strand gebracht. Von dort fiel es nicht schwer, ihn in einen Wagen zu verfrachten und wegzubringen. Soweit es die Polizei betrifft, ist er entkommen. Zumindest haben wir ihnen das erzählt, als sie gefragt haben.«
Carson starrte ihn lange an. »Ich glaube, ich spüre förmlich, wie das Morphium mein Kurzzeitgedächtnis löscht.«
»Das ist gut.«
»Wann kann ich hier raus?«
»In ein paar Tagen.«
»Kommst du mich besuchen?«
»Ich habe hier gewohnt.« Er zeigte auf einen Stuhl neben dem Bett, auf dem ein Kissen und eine Decke lagen.
Carson lächelte voller Zärtlichkeit. »Diego und Mateo?«
»Sind wieder bei ihrer abuela. Und sie wohnen im Haus meiner Tante. Die anderen Gefangenen werden vernommen und dahin zurückgebracht, woher sie gekommen sind. Das schließt Lamperts Personal mit ein.«
»Rojas?«
Puller schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Aber seine Zeit kommt.«
Das schien Carson aufzuregen, und Puller legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. Ein paar Minuten später wirkte das Morphium, und sie schloss die Augen.
Puller verließ das Zimmer und rief seinen Bruder im USDB an. Er erzählte Robert so gut wie alles und ließ nur Lamperts Schicksal in Bulgarien aus.
»Verdammt, John«, sagte Bobby. »Du brauchst noch einen Monat Urlaub, um dich von den letzten Urlaubstagen zu erholen.«
»Aber nein. Ich glaube, ich bin wieder fit für den Dienst.«
»Und was erzählst du dem alten Herrn?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Wirst du ihm sagen, dass seine Schwester tot ist?«
Puller dachte darüber nach. Schließlich antwortete er: »Nein, werde ich nicht.«
»Da sind wir einer Meinung.«
Puller hatte Sadie, den kleinen Hund, Diego und Mateo überlassen. Die beiden Jungen und der Hund hatten sofort Freundschaft geschlossen. Puller hoffte, dass die Unterbringung in einer besseren Gegend weit weg von den Gangs ein Vorteil für ihr weiteres Leben sein würde. Außerdem hatte Bullock versprochen, sie im Auge zu behalten.
Es gab viel Papierkram und Gespräche mit Bullock, der State Police und den Bundesbehörden. Man hatte betont, dass es die Jagd auf Stiven Rojas beschleunigen würde. Aber hinter Rojas stand die geballte Macht eines riesigen Verbrecherkartells.
»Versuchen Sie es weiter«, sagte Puller, bevor er die letzte Besprechung verließ.
Zwei Tage später wurde Carson aus dem Krankenhaus entlassen – in Verbände gehüllt, zerschunden und müde.
Aber lebendig.
An diesem Morgen flogen sie und Puller in einem Privatjet, den die Army geschickt hatte, nach Hause.
»Eine Gulf Five«, sagte Puller. »In so einer Maschine bin ich noch nie geflogen.«
»Halte dich an einen aufstrebenden General, und sie zeigt dir die tollsten Dinge auf Erden«, erwiderte Carson, während der Steward ihnen zwei Gläser Champagner einschenkte.
Puller fuhr in seine Wohnung, nachdem er Carson versprochen hatte, zum Abendessen zu ihr zu kommen. Während seiner Abwesenheit hatte sich ein Freund um Unab gekümmert, aber er ließ die Katze lange Zeit hinaus und spielte sogar noch länger mit ihr.
Am nächsten Tag fuhr er mit einem kleinen Päckchen nach Pennsylvania. Er parkte in der Nähe eines grünen Feldes, stieg aus und ging bis zur Mitte des Ackers. Dort öffnete er die Urne und nahm sich Zeit, als er die Asche seiner Tante auf dem Boden Pennsylvanias verstreute, so wie sie es gewollt hatte. Dann verschloss er die leere Urne und schaute zum Himmel. »Leb wohl, Tante Betsy. Was immer es wert sein mag, vor langer Zeit hast du einem kleinen Jungen die Welt bedeutet. Und der Mann, zu dem der Junge wurde, wird dich nie vergessen.«
Puller wusste, was er jetzt zu tun hatte. Es war schon lange überfällig.
Er fuhr zurück nach Virginia, duschte, zog seine Ausgehuniform an und begab sich ins Veteranenkrankenhaus.
In kerzengerader Haltung schritt er über die sterilen Flure.
Er hörte seinen Vater, bevor er auch nur in die Nähe seines Zimmers kam.
Auf dem Flur begegnete ihm dieselbe Krankenschwester wie zuvor.
»Die letzten paar Tage war es schlimm«, sagte sie. »Er hat ununterbrochen nach Ihnen gerufen. Dem Himmel sei Dank, dass Sie hier sind.«
»Ja«, sagte Puller. »Es ist ein gutes Gefühl, hier zu sein.«
Die Schwester warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, als er an ihr vorbeiging und die Tür zum Zimmer seines Vaters öffnete.
Puller senior trug wie immer eine blaue Hose und ein weißes T-Shirt. Er sah aufgeregt und verwirrt zugleich aus.
Puller nahm Haltung an und salutierte schneidig. »Ich möchte Bericht erstatten, General.«
Die zittrige Aufregung fiel von Puller senior ab. Er furchte die Stirn und musterte seinen Sohn mit vorwurfsvollem Blick.
»XO, wo haben Sie gesteckt, verdammt noch mal?«
»Draußen im Feld, Sir, wo ich Ihre Befehle ausgeführt habe.« Puller betonte jede Silbe, wie man es ihm in der Army beigebracht hatte.
»Und das Ergebnis?«
»Auftrag ausgeführt, General. Mast- und Schotbruch.«
»Gute Arbeit, XO. Verdammt gut. Rühren.«
»Jawohl, Sir«, sagte John Puller, senkte die Hand und setzte sich neben seinen Vater aufs Bett.
In diesem Moment war er kein Soldat mehr.
Nur noch ein Sohn.