70

Gesättigt lehnten Puller und Carson sich von ihren leeren Tellern zurück und betrachteten einander.

»Du schaust mich an, als hätte sich unsere Beziehung verändert«, sagte Carson.

Puller legte den Kopf schief. »Ist es denn nicht so?«

Sie saßen in der hinteren Ecke eines Restaurants. Es war noch relativ früh, sodass die Flut der Abendgäste noch nicht eingesetzt hatte. Sie hatten den Laden fast für sich allein.

»Warum? Weil wir miteinander geschlafen haben?«

»Ich wüsste keinen anderen Grund.«

»Hat es dir etwas bedeutet?«

»Ich schätze, dir nicht.«

»Sei nicht sauer, John, aber wir schreiben das einundzwanzigste Jahrhundert. Wir Mädels wollen es manchmal aus keinem anderen Grund als ihr Kerle: Wir haben einfach Lust darauf.«

»Okay.«

Sie lächelte. »Fühlst du dich benutzt?«

Puller erwiderte das Lächeln. »Drehst du den Spieß jetzt um, was die männliche Psyche angeht?«

»Wird doch mal Zeit, findest du nicht?«

»Ich bin kein typisches Exemplar eines Mannes.«

»Das mag ich an dir. Nimm zum Beispiel Landry.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist jung und heiß. Sie will dich ins Bett zerren, dazu braucht man kein Detektiv zu sein. Aber zweifellos hat jeder Cop im Revier sie angebaggert.«

»Vermutlich.«

»Glaubst du, im Verteidigungsministerium geht es anders zu?«

»Bitte?«

»Mir haben genug Ein-Sterne und Vier-Sterne in den Hintern gekniffen. In West Point war es das Gleiche. Dozenten und starrköpfige Penner. Und später im Feld, wo alle möglichen Lamettaträger der Ansicht sind, dass es völlig okay ist, wie sie mit den Frauen in den Rängen umspringen. Scheiße, bei meinen Kampfeinsätzen im Nahen Osten hatte ich manchmal den Eindruck, als müsste ich an beiden Flanken kämpfen.« Sie trank einen Schluck Eistee. »Bist du überrascht?«

»Die Antwort der Army sollte wohl lauten, ja, es überrascht mich.«

»Und deine Antwort?«

»Du kennst meine Antwort. Es ist nicht die Antwort der Army.«

»Ständig angemacht, belästigt, bedroht und sogar angegriffen. Willkommen in der Armee des ›Mannes‹, richtig?«

Seine Hände ballten sich auf dem Tisch zu Fäusten, er beugte sich vor. »Für diese Scheiße gibt es Verfahrensweisen, Julie. Das muss man nicht mit sich machen lassen. Wie du gesagt hast, wir schreiben das einundzwanzigste Jahrhundert.«

»Ja. Und Teile dieses Jahrhunderts sehen nicht anders aus als früher. Männer sind noch immer Männer, so aufgeklärt sie auch sein mögen oder wie sehr drohende Disziplinarverfahren, das Kriegsgericht, zerstörte Karrieren oder angepisste Ehefrauen sie an die Kandare nehmen. Trotzdem erlauben sie sich diesen Schwachsinn, weil sie glauben, sie kommen damit durch. Das glauben sie immer.«

»Also nimmst du es einfach hin?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Sie hielt die Faust hoch. »Manchmal habe ich das hier benutzt. Manchmal auch ein Knie in die Nüsse. Manchmal auch nur einen bösen Blick. Und ja, manchmal waren es auch eingereichte Beschwerden und torpedierte Karrieren. Aber manchmal habe ich weder etwas gesagt noch getan. Manchmal bin ich einfach gegangen.«

Puller betrachtete sie. »Du scheinst nicht der Typ zu sein, der einfach geht.«

»Ich hatte langfristige Pläne, Puller. Die Army war nicht nur eine Laune von mir. Ich wollte große Dinge tun. Ich wollte Sterne. Einen habe ich. Ich will noch mindestens zwei mehr.«

»Also macht man mit, um weiterzukommen? Nicht meine Art der Führung.«

»Führung ist eine merkwürdige Sache. Die Parameter verändern sich ständig. Aber bei einer Sache kann man keine Kompromisse eingehen.«

»Und welche Sache ist das?«

»Wenn es um die Frage geht, ob man sich am nächsten Tag noch im Spiegel ansehen kann. Das konnte ich immer. Ganz egal, was geschehen war. Es war nicht mein Problem. Es war ihres. Sie sollten nicht in den Spiegel schauen können. Sie sind diejenigen, die ihren Schwanz nicht unter Kontrolle haben.«

»Und wohin führt uns das?«

»Ich bin nicht hergekommen, um dich ins Bett zu kriegen. Na gut, vielleicht ein Teil von mir. Jetzt, da wir das erledigt haben, kann ich mich auf das konzentrieren, weshalb ich wirklich hergekommen bin.«

»Urlaub?«

»Dir dabei zu helfen, einen Fall zu lösen. Was machen wir als Nächstes?«

»Ich bin nicht daran gewöhnt, dass Generäle mich nach der Richtung fragen.«

»Die besten Anführer lassen ihre Leute das tun, was sie am besten können. Du bist vom CID. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man Verbrechen untersucht. Also, was machen wir als Nächstes?«

»Die Storrows.«

»Die Storrows?«

»Das Paar, das am Strand ermordet wurde. Sie kannten meine Tante.«

»Glaubst du, man hat sie deshalb umgebracht?«

»Ich glaube, die Storrows waren viel unterwegs. Manchmal zu Fuß, manchmal mit dem Wagen.«

»Mit dem Wagen. So wie fünf Meilen hin, fünf Meilen zurück?«

»Vielleicht.«

»Und sie haben deiner Tante erzählt, was sie gesehen haben?«

»Oder zu sehen geglaubt haben. Oder vermutet haben. Also hat sie diesen Brief an meinen Vater geschrieben. Aber eigentlich wollte sie, dass ich komme und es mir ansehe. Sie hätte mir mehr erzählen können, hatte aber nicht mehr die Gelegenheit.«

Puller zog den Brief aus der Tasche und schob ihn Carson zu. Sie las ihn.

»Mysteriöse Geschehnisse in der Nacht … Leute, die nicht sind, was sie zu sein scheinen … Etwas stimmt nicht. Alles ziemlich rätselhaft.«

»Meine Tante neigte nicht zu Übertreibungen. Bei ihr sind diese Worte beinahe so etwas wie ein Hilfeschrei.«

»Wenn deine Theorie stimmt, was ihren Tod angeht, dürfte es tatsächlich ein Hilfeschrei gewesen sein. Aber da die Storrows tot sind … wie machen wir weiter?«

»Der Sohn und die Schwiegertochter. Sie haben sie als vermisst gemeldet. Ich hoffe, sie können ein paar Lücken füllen.« Er stand auf. »Bist du bereit?«

Sie lächelte zu ihm hoch. »Nach der Runde im Bett? Ich bin so gut wie zu allem bereit.«

 

Am Limit
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