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Puller betrat das Sierra weder durch den Vordereingang noch die Hintertür. Stattdessen eilte er die Feuertreppe hinauf und benutzte auf dem Dach eine Zugangstür, die unter anderem für die Wartung der Klimaanlage benutzt wurde. Das alles hatte er bereits früher ausgekundschaftet. Es war ihm wichtig, in jeder Unterkunft mehrere Ein- und Ausgänge zu haben.
Ein paar Treppenabsätze tiefer, in der dritten Etage, verließ er das Treppenhaus. Der Flur war dunkel und menschenleer, nur eine einsame Lampe an der Decke flackerte und pulsierte geisterhaft. Pullers Zimmer war das vorletzte auf der linken Seite hinter einer Biegung. In der Dunkelheit ging er in die Hocke und streifte sich eine Nachtsichtbrille über, die er im Außenbezirk von Paradise in einem Laden für Sicherheitsausrüstung gekauft hatte. Garantiert nicht das beste Nachtsichtgerät, das er je benutzt hatte, aber es war brauchbar.
Er schob es über die Augen, und aus der Dunkelheit wurde Helligkeit, als verschwommene, weiche Schemen sich in harte, scharfkantige Umrisse verwandelten.
Pullers Schätzung nach würden die sechs Kerle sich jetzt ihrem Ziel nähern. Sechs gegen einen – eine überwältigende Streitmacht. Glaubten sie wahrscheinlich. Doch Puller war ein erstklassiger Kämpfer und hatte eine ausgezeichnete Nahkampfausbildung genossen.
Aber er war nicht Superman.
Das hier war kein Film, wo er seinen Weg zum Sieg in der Matrix manipulieren konnte. Es würde ein Kampf furchterfüllter Männer sein, die Fehler machten, aber auch Treffer landeten.
Sehr schmerzhafte Treffer.
Puller brachte ein Gewicht von rund einhundert Kilo auf die Waage. Die Männer, denen er heute Nacht gegenüberstehen würde, brachten zusammen über fünfhundert Kilo auf die Waage. Pullers zwei Fäusten und Beinen standen zwölf Fäuste und ein Dutzend Beine gegenüber.
Sechs gegen einen – das würde bei einem Nahkampf mit ziemlicher Sicherheit in einer Niederlage enden, egal, was für ein Könner man war und wie unfähig das halbe Dutzend Gegner. Drei oder vier würde Puller ausschalten können, aber die restlichen zwei oder drei würden vermutlich einen Glückstreffer landen und ihn zu Boden schicken. Und dann war es vorbei. Baseballschläger und Eisenstangen würden auf ihn herabregnen, bis eine Kugel alles beendete.
Wenn ein wirklich guter Nahkämpfer die Wahl hatte – was manchmal vorkam –, kämpfte er nur, wenn die Bedingungen zu seinem Vorteil waren.
Puller hatte nicht viel Zeit, denn die sechs Typen würden schnell erkennen, dass er nicht in seinem Zimmer war. Dann würden sie abziehen und irgendwann wiederkommen, oder sie stellten ihm eine Falle und warteten. Doch eine Falle machte es erforderlich, dass sie sich aufteilten. Jedenfalls verließ Puller sich darauf. Und dann wurden aus sechs Gegnern vier, drei oder zwei.
Vielleicht sogar nur einer.
Teilen und herrschen.
Das waren die Voraussetzungen, die Puller zum Sieg benötigte. Falls seine Gegner es ihm ermöglichten, umso besser. Irgendetwas sagte ihm, dass es so kommen würde.
Ein gut geplanter Perimeter – eine gute Aufteilung und Absicherung der Räume – konnte die meisten Angriffspläne zunichtemachen, weil ein Angreifer den Perimeter nicht durchdringen konnte. Doch Puller stellte fest, dass der gegnerische Perimeter nicht gut durchdacht war. Deshalb würde er ihn ziemlich leicht durchbrechen können.
Die ersten beiden Gegner standen in der Mitte des Flures. Sie hatten gar nicht erst den Versuch gemacht, ihre Anwesenheit zu verbergen. Einer hielt einen Baseballschläger, der andere eine Pistole. Sie unterhielten sich leise und sahen zufrieden und selbstsicher aus. Der Typ, der den Schläger hielt, ließ ihn durch die Luft sausen. Es würde ein, zwei Sekunden dauern, bis er den Schläger einsatzbereit hatte. Sein Kumpan hielt die Pistole locker zu Boden gerichtet. Vier Finger waren um den Griff gelegt; der Zeigefinger war nicht einmal in der Nähe des Abzugsbügels.
Mit anderen Worten, beide Waffen waren nutzlos.
Die Männer reagierten gar nicht, als Puller dem ersten Gegner den Schläger entriss. Er rammte ihm die Spitze in den Magen und schickte ihn zu Boden. Der zweite Mann riss die Waffe hoch, feuerte sie aber nicht ab, weil er sie gar nicht mehr in der Hand hielt.
Puller hatte die Pistole am Lauf gepackt und schmetterte den Griff gegen die Schläfe ihres einstigen Besitzers. Der Mann gesellte sich zu seinem Kumpel auf den vollgekotzten Teppich. Ein kurzer, trockener Hieb mit dem Baseballschläger an den Kopf des sich krümmenden Mannes genügte, und er lag still.
Der Angriff hatte ganze fünf Sekunden gedauert.
Puller hatte den Schläger des ersten Gegners fast im gleichen Augenblick geschwungen, als er dem zweiten Mann die Pistole aus den Fingern gepflückt hatte. Der einzige Laut war der dumpfe Aufprall der beiden Körper gewesen.
Puller verharrte in der Hocke, den Schläger in der einen, seine M11 in der anderen Hand. Die Pistole des bewusstlosen Mannes hatte er weggeworfen, nachdem er das Magazin herausgenommen und die im Lauf steckende Patrone entfernt hatte. Er schoss nicht gerne mit den Waffen anderer Leute. Eine schlecht gepflegte Pistole konnte für den Schützen gefährlicher sein als für das Ziel.
Stumm zählte er die Sekunden. Zwei Gegner ausgeschaltet, vier noch aktiv. Sein Zimmer befand sich um die Ecke. Diese beiden Trottel waren die Frontlinie gewesen. Puller ging davon aus, dass ein weiterer Mann eine weitere Barriere bildete, während die restlichen drei im Zielgebiet warteten, um den Job zu beenden.
Geduckt schlich er zur Ecke, riskierte einen schnellen Blick und zog sich wieder zurück. Hier war die Dunkelheit beinahe undurchdringlich, weil jemand die Deckenbirnen herausgeschraubt hatte. Eine nette Taktik. Aber mit Pullers Nachtsichtbrille war die Dunkelheit sogar besser als spärliches Licht.
Der dritte Mann stand ungefähr auf halber Länge des Flures. Geduckt lauerte er in einer schmalen Nische, in der die Finsternis noch tiefer war als die umgebende Dunkelheit. Seine Waffe war vermutlich eine Pistole; es konnte aber auch ein Baseballschläger oder eine Eisenstange sein.
Okay, sagte sich Puller. Finden wir’s heraus.
Ihm standen mehrere Möglichkeiten offen. Er konnte losstürmen und den Mann angreifen, bevor er reagieren konnte. Oder er konnte sich anschleichen, den Gegner lautlos ausschalten und dann weiter vorrücken.
Puller entschied sich für Letzteres.
Auf dem Bauch kriechend bewegte er sich vorwärts, genau wie damals als Ranger in den Sümpfen von Florida und im Sand des Irak. Er wusste, wohin der Mann instinktiv blickte: auf eine Stelle in Augenhöhe. Das war nun mal die menschliche Natur. Nur ausgebildete Kämpfer würden außerdem die imaginäre vertikale Linie vom Boden bis zur Decke abdecken, denn ein erfahrener Angreifer konnte aus praktisch jeder Richtung kommen und in fast jedem Winkel. Und der offensichtlichste Winkel war nie der beliebteste.
Puller kam bis auf dreißig Zentimeter an den Gegner heran. Der Mann ließ den Blick noch immer hin und her schweifen. Als sein Blick gerade wieder die Richtung wechselte, rammte Puller den Baseballschläger nach oben. Der Kopf des Mannes flog in den Nacken, und er krachte zu Boden. Die Kopfwunde blutete schrecklich. Und die dazugehörigen Kopfschmerzen würde der Typ nach dem Aufwachen sein Leben lang nicht vergessen.
Puller hatte bei keinem der drei Männer hart genug zugeschlagen, um zu töten. Er wusste, wie viel Kraft erforderlich war, um einen Schädel zu zerbrechen. Normalerweise hatte er kein Problem damit, diese Kraft bei Männern einzusetzen, die junge Frauen vor den Augen ihrer kleinen Brüder vergewaltigten. Aber die Typen heute Nacht waren nur die Rachemannschaft. Vermutlich waren sie genauso schlimm oder schlimmer als die drei Kerle, die Puller bereits verprügelt hatte, aber er war bereit, ihnen ein bisschen Freiraum zuzugestehen. Wenn sie lebend davonkamen, würden sie die Botschaft verbreiten, dass es klug war, ihn in Ruhe zu lassen.
Der Mann, den Puller soeben ausgeschaltet hatte, hielt eine Eisenstange in den schlaffen Händen. Puller schnappte sie sich und rückte weiter vor.
Drei erledigt, drei standen noch aus.
Die Chancen standen jetzt viel besser, ungefähr so hoch wie im Treppenhaus, als er das Trio Infernal ausgeschaltet hatte, den Schwarzen, den Weißen und den Latino. Die drei Gegner, die er jetzt eben ausgeschaltet hatte, waren die Rachemannschaft – und das bedeutete, dass es sich bei den drei Gegnern, die nun vor ihm warteten, um die Vergewaltiger handelte. Die Dreckskerle waren zweifellos zurückgekommen, um Isabel und den kleinen Mateo fertigzumachen.
Puller beschloss, den Krafteinsatz zu erhöhen.
Mit schnellen Schritten durchquerte er das letzte Stück des Flures. Die Tür zu seinem Zimmer stand einen Spalt weit auf. Puller schüttelte den Kopf, so dämlich war die Taktik seiner Gegner. Eine Tür ein Stück weit zu öffnen war ungefähr so, als würde man eine rote Fahne schwingen und rufen: »Hey, wir warten hier auf dich!«
Also trat man hier schon mal nicht ein. Man begab sich stattdessen ins Nebenzimmer und versuchte, die Trottel durch die Verbindungstür zu überraschen.
Allerdings war man selbst der Trottel, wenn sie einen über den Haufen knallten.
Puller stellte sich vor, wie die drei sich um die Verbindungstür aufgebaut hatten, aber er hatte seine Zweifel, was ihre Aufmerksamkeit anging. Um es überhaupt bis zu ihnen zu schaffen, hatte er ihren Perimeter nahezu lautlos überwinden müssen, und damit rechneten sie garantiert nicht. Sie hatten sich für die Nachhut entschieden, weil sie hofften, dass Puller nie so weit kam. Sie wollten keine zweite Begegnung mit ihm. Welcher vernünftige Mensch hätte das gewollt nach den Prügeln, die sie bezogen hatten?
Puller vermutete, dass sie Karten spielten oder sich Mut antranken, rauchten oder aus dem einsamen Fenster spähten. Die Penner konnten alles Mögliche tun – aber was es auch sein mochte, es war mit Sicherheit nicht professionell.
Puller traf die Tür zu seinem Zimmer mit solch brutaler Wucht, dass sie aus den Angeln flog. Direkt vor ihm ragten zwei Umrisse auf. Wie erwartet drängten die Typen sich um die Verbindungstür. Die Eisenstange schaltete die ersten beiden aus. Der Weiße segelte aufs Bett. Vielleicht hatte er diesmal tatsächlich den Löffel abgegeben.
Der Schwarze wurde gegen das Fenster geschleudert, krachte durch die Scheibe und blieb im Rahmen hängen, zur Hälfte drinnen, zur Hälfte draußen.
Jetzt noch der Latino.
Er stand in der anderen Zimmerecke. Offenbar war er kurz davor, sich in die Hose zu machen. Die Pistole gezückt, stand er höchstens drei Meter von Puller entfernt. In der Dunkelheit und vom Adrenalin überflutet, das die feinmotorischen Fähigkeiten auf null reduzierte, hätten es genauso gut zehn Meilen sein können.
Er schoss und verfehlte Puller um anderthalb Meter.
Eine weitere Chance bekam er nicht.
Der erste Schlag schmetterte ihm die Waffe aus der Hand.
Der zweite Schlag holte ihn von den Füßen.
Der dritte räumte jeden Zweifel aus, dass der Kampf zu Ende war.
Als Puller sich aufrichtete, wobei seine Muskeln sich bereits entspannten, spürte er es.
Licht.
Körperwärme.
Schweiß.
Blicke, auf ihn gerichtet.
Von der Verbindungstür aus.
Er schaute in die Richtung.
Da standen zwei kleine Männer. Beide Latinos. Bewaffnet. Beide richteten 9-Millimeter-Pistolen genau auf seinen Kopf. Zwei Pistolen, die ihn auf diese Distanz nicht verfehlen konnten.
Die Nachhut, die Puller nicht eingeplant hatte.
Heute Nacht waren acht Männer gekommen.
Nicht sechs.
Er hatte die Sache vermasselt.
Auf unverzeihliche Weise.
Die Strafe dafür war glasklar.
Er war ein toter Mann.