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Mecho telefonierte wieder.

Mit seinem »Freund«.

Man besprach Einzelheiten. Die letzte Begegnung mit Chrissy Murdoch hatte Mecho überzeugt, dass der Zeitplan beschleunigt werden musste.

Der »Freund« war verständnisvoll und war einverstanden, sich bereitzuhalten. Aber er erinnerte Mecho an ihren Deal.

Ungeduldig antwortete Mecho dem Mann. Er würde alles erledigen. Er beendete das Gespräch und starrte auf den Boden seines Zimmers im Sierra.

Ein Stück Papier wurde unter der Tür durchgeschoben. Mecho erstarrte, bewegte sich ein paar Sekunden lang nicht und fragte sich, ob jemand oder etwas dem Papier folgen würde.

Ein Griff unters Bett, und Mecho hielt die Pistole in der Hand, die er zwischen Matratze und Rahmen geschoben hatte. Er stand auf, bewegte sich lautlos zur Tür, berührte das Papier mit dem Fuß, zog es zu sich. Ohne den Blick von der Tür zu nehmen, ging er in die Hocke, hob den Zettel auf, rückte von der Tür weg und öffnete das zusammengefaltete Schreiben.

Da standen nur zwei Worte.

Zwei inhaltsschwere Worte.

Sie kommen.

Mecho faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ein.

Er hätte versuchen können, demjenigen zu folgen, der ihm die Warnung hatte zukommen lassen, entschied sich aber dagegen.

Sie kommen.

Zwanzig Minuten später spürte er es. Vielleicht war es ihr Geruch, der Odem des Todes.

Er griff unter das Bett, holte zwei weitere Gegenstände hervor, richtete sich auf, öffnete die Tür und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die seine massige Gestalt niemals hätte vermuten lassen, nach links.

Doch hier war es zu hell für das, was er vorhatte. Er betrat das Treppenhaus, eilte nach unten, eine Etage nach der anderen, und verharrte auf jedem Treppenabsatz, wartete, witterte. Er setzte Fähigkeiten ein, die die meisten Menschen nicht besaßen und nie besitzen würden. Aber wenn man ein Leben geführt hatte wie Mecho, entwickelte man diese Fähigkeiten von ganz allein.

Zumindest diejenigen, die überlebten.

Mecho verließ das Gebäude im Erdgeschoss und bewegte sich in westliche Richtung.

Diese Leute verstanden ihren Job. Nicht weil sie ihn im Sierra gefunden hatten – das war nicht schwer. Nein, sie waren Könner, weil sie ihm von seinem Zimmer auf die Straße gefolgt waren.

Er konnte spüren, wie sie näher kamen. Zwei Gruppen. Die eine von links, eine andere von rechts.

Mecho schob das Ausweidemesser in den Hosenbund und schraubte den Schalldämpfer auf die Pistolenmündung.

Dabei ging er weiter, bewegte sich im Zickzack und näherte sich dem Strand.

Die Nebenstraßen lagen verlassen da. Nicht einmal die dueños waren unterwegs. Vermutlich hatte man ihnen befohlen, sich von der Straße fernzuhalten.

Die dueños hielten sich so lange für stark, bis sie jemandem begegneten, der wirklich stark war. Dann wurden aus den harten Straßenjungs die feigen Ratten, die sie waren, und sie huschten zurück in die dunklen Löcher, aus denen sie hervorkrochen.

Mecho war nicht feige und würde es niemals sein.

Instinktiv änderte er ständig die Richtung, hielt aber unverrückbar auf das Wasser zu, auf den Golf, der ihn aus der Sklaverei hierhergeführt hatte, auch wenn er auf dem letzten Teil seiner Reise um sein Leben hatte schwimmen müssen.

In dieser Nacht würde er sich zurück ins Wasser begeben. Es würde entweder sein letzter Ruheort sein oder nur ein weiteres Hindernis auf der langen Straße seines Lebens. Dann sollte es eben so sein. Mecho hatte nie zu den Menschen gehört, die jammerten oder etwas bedauerten. Nicht wenn es ums Überleben ging.

Er kam an ein paar spätabendlichen Nachzüglern vorbei, die zu betrunken waren, um zu bemerken, dass er eine Pistole in der Hand hielt.

Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein.

Vor ihm lag die Weite des Meeres.

Hier war es abgeschieden und stockdunkel. Es waren keine Menschen in der Nähe, die beobachten konnten, was passieren würde. Oder die dabei zu Schaden kommen konnten.

Die Flut kam.

Mecho beschleunigte seine Schritte.

Wenige Sekunden später saß er auf seinem Motorroller, den er hinter einem Müllcontainer versteckt hatte, und raste über den Sand.

Damit überraschte er seine Verfolger, wie es seine Absicht gewesen war. Mecho wollte sie von der Stadt fortlocken, weit weg von neugierigen Blicken.

Zwei Meilen weiter saßen die Verfolger ihm noch immer im Nacken. Mecho war nicht schnell genug gewesen, um sie abzuschütteln.

Ich kann es genauso gut jetzt hinter mich bringen, sagte er sich.

Er hatte sich ausgerechnet, dass er es mit sechs Männern zu tun bekam. Sie würden hervorragend ausgebildet, gut bewaffnet und extrem vorsichtig sein, und sie würden Erfahrung im Nahkampf mitbringen, um das immer größere Schlachtfeld einschätzen zu können.

Voraus lagen Dünen. Mecho stellte den Motorroller ab und eilte zu Fuß weiter. Eine Minute später stapfte er durch eine schmale Lücke zwischen zwei Dünen. Seine vordere Flanke war nun eine Art Trichter, den seine Verfolger passieren mussten. Aber dieser Trichter bot nur jeweils einem Mann Durchlass, sodass sie gezwungen waren, hintereinander zu gehen. Dies ermöglichte Mecho eine klassische Verteidigungsstrategie, wie die Spartaner sie benutzt hatten, um die bedeutend stärkere persische Armee aufzuhalten, sodass der Hauptteil des griechischen Heeres der Vernichtung entkommen konnte – eine Taktik, die man noch heute an den Kriegsschulen lehrte.

War der Gegner zahlenmäßig überlegen, musste man es ihm so schwer wie möglich machen, diese Überlegenheit zu seinem Vorteil einsetzen zu können.

Mecho hatte gewusst, dass es möglicherweise zu einer solchen Konfrontation kommen würde, deshalb hatte er kurz nach seiner Ankunft in Paradise nach taktischen Vorteilen gesucht.

Die Dünen boten Deckung vor fast jedem Beschuss, egal mit welcher Munition, es sei denn, die Gegner attackierten ihn mit tragbaren Raketenwerfern. Aber da hatte er seine Zweifel.

Im Moment hatte er nur zwei Sorgen.

Zum einen seine Rückseite.

Zum anderen, dass etwas anderes als ein Mensch durch den Trichter in den Dünen kam.

Mit seinen nächsten Schritten würden er beide Probleme zugleich in Angriff nehmen.

Die Männer, die Mecho verfolgten, schwärmten in klassischer Angriffsformation aus. Bei ihrem zahlenmäßigen Vorteil von sechs zu eins konnten sie gegen jeden Gegner bestehen.

Schließlich lag der Trichter in den Dünen vor ihnen. Ein solches Hindernis war diesen Männern nicht unbekannt. Ein Weg rein, ein Weg raus.

Doch keiner von ihnen hatte einen Plan oder gar das Verlangen, den Trichter zu stürmen, solange Mecho darauf wartete, sie nacheinander auszuschalten.

Dennoch waren die Angreifer auf ein solches Szenario vorbereitet.

Der erste Mann rückte vor, wobei er sorgfältig darauf achtete, dem Trichter nicht zu nahe zu kommen. Dann holte er den wie eine Faust geformten Gegenstand aus der Tasche, machte ihn scharf und schleuderte ihn in den Trichter hinein.

Es war keine Granate, aber fast genauso wirksam.

Blitzschnell wandte der Mann sich vom Trichter ab und schützte die Ohren zusätzlich zu den Ohrstöpseln mit beiden Händen.

Die Blendgranate explodierte.

Ein grelles Licht, ohrenbetäubender Lärm und eine Druckwelle, die für eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres gut war.

Jeder in den Dünen würde jetzt bewegungsunfähig sein.

Und leicht zu töten.

Die sechs Männer schwärmten durch die Lücke. Von der Blendgranate emporgeschleuderter Sand und Staub lagen wie Nebel in der Luft. Die Männer hielten die Waffen bereit, um den betäubten Gegner zu erschießen, der irgendwo vor ihnen im weichen Sand liegen musste. Er würde nicht einmal mitbekommen, dass er starb.

Der trichterförmige Durchgang zwischen den Dünen maß ungefähr drei mal drei Meter. Wind, Erosion und die unterschiedliche Konsistenz des Sandes hatten ihn geschaffen.

Die Männer stürmen hindurch.

Und entdeckten keine Spur von Mecho.

Dafür sah der Anführer des Kommandos ein mit Knoten versehenes Seil, das in der Mitte des Durchgang baumelte. Sein Blick folgte dem Seil bis zum dicken Ast eines Baumes sechs, sieben Meter über ihnen.

Keiner der Männer hatte vor dem Angriff darauf geachtet. Sie hatten sich nur auf die Lücke konzentriert.

Das rächte sich jetzt.

Mecho landete mit seinem riesigen Gewicht auf zwei der Männer und brach ihnen das Genick.

Einen dritten Mann tötet er mit dem Messer.

Nummer vier fing sich zwei Kugeln aus seiner Pistole ein.

Nummer fünf versuchte zu fliehen, doch ein muskulöser Arm um seinen Hals stoppte seine Flucht und brach ihm das Genick.

Nummer sechs hatte Glück. Mecho war über Nummer fünf gestolpert, als der Sterbende im Todeskampf um sich trat.

Nummer sechs richtete seine MP5 auf Mecho. Der Feuerwahlhebel stand auf Dauerfeuer – dreißig Kugeln, in wenigen Sekunden abgefeuert. Falls es überhaupt so viel Zeit in Anspruch nahm.

Eine solche Salve konnte nichts und niemand auf der Welt überleben. Dagegen waren Pistole und Messer nutzlos.

Mecho blickte Nummer sechs an, auf dessen Gesicht ein triumphierendes Lächeln lag. Der Zeigefinger des Mannes näherte sich dem Abzug.

Mecho hatte nur noch Sekunden zu leben.

Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Ein Schuss dröhnte.

Aber er kam nicht aus der Maschinenpistole.

In der Stirn von Nummer sechs erschien ein Loch. Die MP5 wirbelte durch die Luft, und ihr Besitzer fiel kopfüber in den Sand. Ein Teil seines Gehirns war an die Dünenwand hinter ihm gespritzt, da der Schuss in Mechos Rücken erfolgt war.

Mecho fuhr herum, Messer und Pistole bereit.

Chrissy Murdoch stand da.

Heute Nacht trug sie weder Hermès noch Chanel oder einen Bikini. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Unter ihren Augen und auf den schmalen, hohen Wangenknochen lag breitflächig verteiltes schwarzes Make-up. Ihr Blick unterschied sich sehr von dem der verwöhnten Frau, die sich auf Peter Lamperts Anwesen am Pool gerekelt hatte.

Dieser Blick war hart und kalt.

Genau wie meiner, dachte Mecho.

Sie hielt eine Pistole. Die Mündung war auf Mechos Herz gerichtet.

Sie schaute ihn an. Mecho erwiderte den Blick.

Dann schob sie die Pistole in ein Gürtelhalfter. »Wir müssen die Leichen loswerden«, sagte sie. »Ich habe ein Boot. Beeilen wir uns.«

Als sie sich in Bewegung setzte, konnte Mecho sie nur anstarren.

Sie mühte sich ab, einen der Toten anzuheben.

Mecho hatte sich noch immer nicht bewegt.

Sie runzelte die Stirn. »Los geht’s, habe ich gesagt.«

»Hast du mich gewarnt?«, fragte Mecho.

»Wer sonst?«

Er steckte Pistole und Messer weg, um ihr zu helfen.

 

Am Limit
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