23

Puller setzte sich auf einen Strandstuhl und schaute zu, wie Landry und ein anderer uniformierter Beamter gelbes Polizeiabsperrband um den Ort des Leichenfundes spannten. Sie befestigten das Band an Metallstäben, die sie in den Sand getrieben hatten.

Ungefähr zwanzig Minuten später geschah das, womit Puller gerechnet hatte. Ein Volvo hielt, und eine Frau stieg aus. Sie hatte kurzes graues Haar, war in den Fünfzigern und trug eine weiße, ärmellose Bluse, einen blauen Rock, der bis unter das Knie reichte, und Sandalen. An einer Kette baumelte eine Gleitsichtbrille. In der Hand hielt sie eine Arzttasche.

Louise Timmins, die Gerichtsmedizinerin, war eingetroffen. Sie sah gehetzt und ein bisschen gereizt aus. Auf direktem Weg ging sie zur Polizeiabsperrung und wurde von Landry durchgelassen. Timmins duckte sich unter dem Band durch und marschierte zu der blauen Plane, wo sie von Bullock erwartet wurde. Nach einer kurzen Unterhaltung schlüpfte die Ärztin hinter den provisorischen Sichtschutz. Puller wusste, dass sie auf so engem, erhitztem Raum kein angenehmer Anblick und keine angenehmen Gerüche erwarteten.

In solchen Fällen musste man einfach weiteratmen, und der Geruchssinn versagte über kurz oder lang. Glücklicherweise.

Nach Pullers Uhr war eine halbe Stunde vergangen, als Timmins wieder ins Sonnenlicht trat. Sie war ein bisschen grün um die Nase und sah ziemlich mitgenommen aus. Puller fragte sich, ob sie die Verstorbene kannte oder ob dort mehr als nur eine Leiche lag.

Sie sprach mehrere Minuten lang mit Bullock, worauf dieser nickte und irgendetwas in einen Block mit Spiralheftung schrieb.

Als Timmins zurück zu ihrem Auto ging, trat Puller auf sie zu.

»Dr. Timmins?«

Die Ärztin sah zu ihm hoch. Sie brachte es gerade mal auf eins sechzig, deshalb musste sie den Kopf in den Nacken legen.

»Ja?«

»John Puller. Wir haben telefoniert.«

»Ach ja, richtig. Ihre Tante.« Sie schien nicht erfreut zu sein, ihn zu sehen. »Ich wollte Sie anrufen, um Ihnen Bescheid zu sagen, dass es später wird, als ich von der Sache erfahren hatte, aber dann ist mir die Zeit weggelaufen.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte er. »Wir können einen neuen Termin vereinbaren. Ich weiß, dass Sie nicht mit dieser Sache am Strand gerechnet haben.«

Er betrachtete sie genauer, als sie den Wagenschlüssel aus der Handtasche holte. Aus der Nähe sah sie blass, abgespannt und verschreckt aus.

»Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, es hat mich umgehauen.«

»Ist es jemand, den Sie kannten?«

Abrupt sah sie zu ihm hoch. »Wieso fragen Sie?«

»Sie sehen ziemlich erschüttert aus. Mehr, als der Anblick einer Leiche erklären würde, selbst wenn man sie aus dem Wasser geholt hat.«

»Dem Tod ins Auge zu blicken ist nie einfach.«

»Aber Sie sind Ärztin und Gerichtsmedizinerin. Sie werden ständig mit dem Tod konfrontiert, in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Und da Paradise eine Stadt am Meer ist, wird es bestimmt nicht der erste Ertrunkene gewesen sein, den Sie gesehen haben.«

»Ich kann wirklich nicht mit Ihnen darüber sprechen.«

»Ich weiß. Und ich möchte Ihre Zeit nicht verschwenden. Können wir uns wegen meiner Tante zusammensetzen?«

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

»Ich würde Sie gern zum Essen einladen«, fügte Puller hinzu. »Falls Sie Appetit haben.«

Sie blickte zurück zu der blauen Plane. »Ich kann nichts essen, aber vielleicht würde ein Ginger Ale meinem Magen guttun.«

»Okay. Das Café, in dem wir uns treffen wollten, ist nur ein paar Querstraßen von hier. Möchten Sie zu Fuß gehen oder fahren?«

»Fahren. Im Moment sind meine Knie ziemlich wackelig.«

Als sie zu ihren Autos gingen, drehte Puller sich um. Er sah, dass Bullock und Landry sie beobachteten. Der Polizeichef sah angepisst aus, Landry bloß neugierig.

Sie fuhren getrennt zu dem Café und parkten an der Straße. Der Laden war gut besucht, aber es gab noch einen freien Tisch.

Timmins bestellte ein Glas Ginger Ale, Puller eine Coke. Es war nach sieben, und es waren immer noch um die dreißig Grad, nur dass hier die Meeresbrise fehlte.

»Fühlt sich eher wie die Hölle an als wie das Paradies, nicht wahr?«, sagte Timmins, nachdem sie ihre Getränke bekommen hatten. Sie nahm einen großen Schluck Ginger Ale und lehnte sich zurück. Sie sah ein bisschen besser aus.

»Ich nehme an, Sie gehören zu den Zugereisten«, sagte Puller.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ihre Haut ist ziemlich blass, und Sie sind es nicht gewohnt, Sandalen zu tragen, die für Frauen hier vermutlich ein tägliches Accessoire sind.«

Sie blickte auf ihre Füße, wo die Sandalenriemen rote Striemen auf der Haut hinterlassen hatten.

»Je länger Sie Sandalen tragen, umso mehr gewöhnt Ihre Haut sich daran«, fuhr Puller fort.

»Sie sind sehr aufmerksam.«

»Dafür bezahlt mich die Army.«

»Nun ja, ich komme eigentlich aus Minnesota. Bin vor sechs Monaten hergezogen. Das ist mein erster Sommer hier. In Minnesota kann es im Sommer auch sehr heiß werden, aber nicht so.«

»Warum sind Sie hierhergezogen?«

»Mein Mann ist gestorben, und ich war die langen Winter in Minnesota leid. Ich erfuhr, dass ein mir bekannter Arzt seine Praxis hier verkaufen wollte. Als ich herausfand, dass zu dem Job die Stelle des Distriktgerichtsmediziners gehört, habe ich zugegriffen, denn ich habe mich schon immer für forensische Pathologie interessiert.«

»Und dass dieser Ort Paradise heißt, hat Sie bestimmt nicht gestört.«

»Die Prospekte waren sehr verlockend«, erwiderte sie mit einem müden Lächeln.

»Wollen Sie zurück in den Norden?«

»Ich glaube nicht. Dieser Ort hier wächst einem ans Herz. Von Juni bis August ist Paradise hoffnungslos überfüllt, und Hitze und Luftfeuchtigkeit sind schlimm, aber den Rest des Jahres ist es ganz nett. In St. Paul hätte ich im Februar nie in Shorts spazieren gehen können.«

Puller beugte sich vor und beendete das Geplauder. »Meine Tante …«

»Sie haben sich ihre Leiche angeschaut.«

»Woher wissen Sie das?«

»Carl Brown von Baileys hat es mir gesagt. Wir sind befreundet. In Florida haben Ärzte und Bestattungsunternehmer oft miteinander zu tun. Viele meiner Patienten sterben. Irgendwann holt jeden von uns das Alter ein.«

»Ja, ich habe die Leiche meiner Tante gesehen.«

»Und?«

»Und was?«

»Ich habe mich nach Ihnen erkundigt, Agent Puller. Ich habe ein paar Kontakte beim Pentagon. Mein Bruder ist bei der Air Force. Man hat mich darüber informiert, dass Sie in Ihrem Job ein Ass sind und das Wort Hartnäckigkeit nicht mal annähernd Ihre Entschlossenheit beschreibt, wenn Sie auf der Jagd sind.«

Puller lehnte sich zurück und betrachtete Timmins jetzt in einem anderen Licht. »An der rechten Schläfe der Toten war ein Bluterguss.«

»Habe ich gesehen, ja. Außerdem gab es einen kleinen Blutfleck auf der Steinfassung des Brunnens.«

»Also Ursache und Wirkung. Aber weshalb ist sie gestürzt? Ist sie gestolpert? Hatte sie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall? Ist ein Aneurysma geplatzt?«

»Nichts davon. Organisch war sie in einem erstaunlich guten Zustand. Herz, Lunge und die anderen Organe waren nicht von Krankheiten betroffen. Sie hatte eine schlimme Osteoporose und eine verkrümmte Wirbelsäule, aber das war es auch schon. Sie ist an Wasser in der Lunge gestorben. Asphyxie.«

»Aber warum ist sie gestürzt?«

»Sie hatte ein Gehgestell. Möglicherweise war der Boden rutschig von Spritzwasser aus dem Brunnen. Sie stürzt, schlägt sich den Kopf an, wird bewusstlos und ertrinkt in sechzig Zentimeter hohem Wasser. So was passiert.«

»Wie oft?«

»In diesem Fall ist einmal schon genug.«

»Sonst gab es an der Leiche nichts Verdächtiges?«

»Keine Abwehrwunden, keine Ligaturmale, keine sonstigen Blutergüsse, die ein Hinweis auf einen Angriff wären.«

Puller nickte. Das deckte sich mit seinen eigenen Beobachtungen. »Der Toxscreen?«

»Dauert noch eine Weile. Aber ich habe keine Anzeichen einer Vergiftung entdeckt, wenn Sie darauf hinauswollen. Es gab auch keine Hinweise auf Alkohol- oder Drogenmissbrauch.«

»Ich glaube, meine Tante hat höchstens mal ein Glas Wein getrunken. Jedenfalls, soweit ich mich erinnere.«

»Das bestätigt die Autopsie. Wie schon gesagt, von den Problemen mit der Wirbelsäule abgesehen war sie in einem erstaunlichen Zustand für eine Frau in ihrem Alter. Sie hatte noch etliche Jahre vor sich.«

»Sie hatte einen Brief geschrieben. In diesem Brief hat sie ihre Besorgnis geäußert. Über irgendetwas in Paradise.«

»Worüber genau?«

»Über Leute, die nicht sind, was sie zu sein scheinen. Über mysteriöse Geschehnisse in der Nacht.«

»Nun, wie ich schon sagte, ich wohne erst seit sechs Monaten hier. Ich kenne nicht genug Leute, um sagen zu können, ob sie nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Und mysteriöse Geschehnisse? Falls Ihre Tante es mysteriös fand, wenn Horden besoffener Männer und Frauen um zwei Uhr morgens halb nackt über die Hauptstraße tanzen, stimme ich ihr zu.«

»Sonst können Sie mir nichts sagen?«

»Ich fürchte, nein. Ich weiß, dass der Tod Ihrer Tante sinnlos erscheint, Agent Puller. Aber Unfälle passieren nun mal.«

»Ja.« Aber wenn es ein Unfall war, warum folgen mir dann die Leute im Chrysler? Puller hatte den Wagen gerade am Café vorbeifahren und in der Nähe seiner Corvette parken sehen. Das Fenster war nach unten geglitten, und er war sich ziemlich sicher, einen Blitz gesehen zu haben. Die Personen im Wagen hatten ein Foto gemacht. Doch ehe Puller auch nur in Erwägung ziehen konnte, zu dem Chrysler zu rennen, fuhr er weg.

»Alles in Ordnung, Agent Puller?«

Er konzentrierte sich wieder auf Timmins. »Alles in Ordnung.«

»Ich hoffe, ich konnte Ihre Bedenken wegen Ihrer Tante zerstreuen.«

»Meine Bedenken sind genau dort, wo sie sein sollten.«

 

Am Limit
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