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Sie hatten das Boot aufgetankt und rasten zurück in Richtung Festland.
Die befreiten Gefangenen befanden sich noch immer auf der Bohrinsel, aber ein Schiff der Küstenwache war trotz des Sturms zu ihnen unterwegs. Es war groß genug, um alle an Bord zu nehmen und in Sicherheit zu bringen.
Diego und Mateo hatten Puller und die anderen im Boot begleiten wollen, doch Puller hatte sich geweigert. »Auf dem Schiff der Küstenwache seid ihr sicherer«, hatte er den Jungen erklärt. »Ich weiß ja nicht mal, ob wir diese Badewanne heil zurück nach Florida bekommen.«
Aber der Tropensturm hatte den größten Teil seiner verheerenden Kraft verloren, nachdem er aufs Festland getroffen war. Die Rückfahrt war schlimm, aber nicht halb so schlimm wie die Hinfahrt.
Unterwegs erhielt Puller ein Netzsignal, und es gelang ihm, noch einen Anruf zu machen. Carson übernahm, als die Unterhaltung hässlich wurde. Puller verfolgte mit Bewunderung, wie die Frau mit dem Generalsstern den Mann am anderen Ende zur Schnecke machte; sie bat ihn nicht, ihren Wunsch zu erfüllen, sie befahl es ihm.
»Das ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, Lieutenant. Und die Armee der Vereinigten Staaten nimmt so etwas sehr ernst. Sie haben Ihre Befehle. Ich erwarte von Ihnen, dass sie mit der Schnelligkeit und Professionalität ausgeführt werden, wie die Uniform es gebietet. Sind wir uns da einig?«
»Ja, Ma’am«, antwortete der Lieutenant hastig; vermutlich kämpfte er darum, dass seine Stimme nicht brach.
Carson unterbrach das Gespräch und reichte Puller sein Handy zurück.
Er lächelte.
»Was ist so lustig?«, wollte sie wissen.
»Ich höre dir einfach gern zu, wenn du den General raushängen lässt.«
Auf dem halben Weg zur Küste hatte Landry das Bewusstsein wiedererlangt. Carson steuerte das Boot, während sich Puller und Mecho auf ihre Gefangene konzentrierten. Pullers Faustschlag hatte Spuren in Landrys Gesicht hinterlassen, doch sie sah wütend aus und zeigte keine Reue.
»Wie?«, verlangte sie zu wissen.
»Wie bereits gesagt, das Timing.«
»Das sagt mir nichts.«
»Lamperts Wagen ist in die Luft geflogen.«
»Ich war das nicht.«
»Diaz zufolge ist er um ein Uhr fünfzehn explodiert. Um ein Uhr sechzehn erhielten Sie einen Anruf, während wir beide am Strand waren. Sie sagten, es wäre Bullock. Aber das war unmöglich. Lampert musste erst herausfinden, was vor sich ging. Er musste die Polizei rufen und Bullock an den Apparat bekommen. Der Polizeichef hätte erst alle Fakten erfahren müssen; erst dann hätte er ein paar Beamte angerufen. Aber Sie waren nicht im Dienst. Sie hätte er garantiert nicht als Erste angerufen. Das alles hätte wesentlich mehr Zeit als nur eine Minute in Anspruch genommen. Nur um sicherzugehen, habe ich mich gestern Abend telefonisch bei Bullock erkundigt. Er sagte, Sie hätten ihn in dieser Nacht auf der Fahrt zu Lampert angerufen, nicht umgekehrt. Er sagte, Sie hätten in den Nachrichten etwas von einer Explosion gehört. Der Anruf, den Sie bekamen, war von Lampert.«
Landry schüttelte den Kopf. »Das reicht nicht, Puller. Auf der Grundlage so dürftiger Hinweise hätten Sie niemals eine Entscheidung getroffen.«
»Habe ich auch nicht. Ich habe die Punkte miteinander verbunden. Lampert kommt aus Miami. So wie Sie. Sie beide sind ungefähr zur selben Zeit hier eingetroffen. Ich habe über das Timing des Anrufs nachgedacht, den Sie erhalten haben, und einige Leute angerufen. Sie sagten, ein zugedröhnter Junkie hätte Ihren Vater in einer Bar erschossen.«
»So war es ja auch.«
»Ich weiß. Aber ich habe mich mit Ihrem ehemaligen Sergeant bei der Polizei unterhalten. Wie ich herausfand, waren Sie von diesem Augenblick an ein anderer Mensch. Es schien Ihnen nicht mehr so wichtig zu sein, das Richtige zu tun. Statt nach dem Tod Ihres Vaters den Abschaum noch energischer zu verfolgen, haben Sie den anderen Weg eingeschlagen. Ihnen war alles egal. Dann haben Sie sich mit Lampert zusammengetan, und es ging erst richtig los.« Er hielt inne. »Ich habe auch Ihre Eigentumswohnung überprüft. Vierhunderttausend. Und Ihre Hypothek beträgt weniger als fünfzigtausend. Cops verdienen nicht so viel. Zumindest nicht die ehrlichen. Vielleicht wollten Sie deshalb in Destin wohnen. Ich wette, Sie haben noch keinen Kollegen nach Hause zu einem Drink eingeladen. Es war dumm von Ihnen, mich einzuladen, Landry. Es hat mich nachdenklich gemacht.«
Er blickte Mecho an.
»Die Storrows wurden am Strand ermordet. Mecho war dort. Er war Zeuge. Aber was noch viel wichtiger ist – er hat Sie gesehen. Sie haben den Storrows eine Kugel in den Kopf geschossen und sie dann in die Brandung gezerrt. Sie sind kräftig genug, um das zu schaffen, Cheryl. Kein Wunder, bei dem vielen Paddelbrettfahren. Zwei alte Menschen waren für Sie kein Gewicht.«
Landry erwiderte nichts, aber sie warf Mecho einen hasserfüllten Blick zu.
»Deshalb hat sich niemand gemeldet, als Sie Bullock und Hooper anriefen«, fuhr Puller fort. »Ich hatte den beiden befohlen, es nicht zu tun. Ich wollte nicht, dass Sie auf die Idee kommen, ich würde Ihnen misstrauen. Bullock wollte nicht glauben, dass Sie ein dreckiger Cop sind, aber als ich ihm sagte, was ich herausgefunden hatte, konnte er Sie nicht mehr in Schutz nehmen.«
»Das behaupten Sie.«
Puller sah sie nur an. »Der Strandabschnitt mit dem Schwefel. Er gehört zu Paradise. Danach habe ich mich auch bei Bullock erkundigt. Er wird nicht regelmäßig patrouilliert, weil dort nie etwas passiert. Aber er hat mir verraten, dass sich einer seiner Leute freiwillig gemeldet hat, diesen Strandabschnitt gelegentlich zu überprüfen. Wollen Sie raten, wer dieser Freiwillige war?«
Landry schwieg weiter.
Puller beugte sich näher an sie heran. »Als Sie eines Nachts bei dieser Patrouille in Wirklichkeit das Eintreffen der nächsten Sklavenlieferung überprüft haben, haben Sie meine Tante gesehen, die mit einem Notizbuch in ihrem Camry saß, alles beobachtete und dokumentierte. Betsy konnte kaum noch laufen, aber sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. Und die bekam sie, indem sie spät in der Nacht, wenn es nicht mehr so heiß war, mit ihrem behindertengerechten Wagen durch die Gegend fuhr. Eines Nachts sah sie etwas. Und sie erzählte es ihren Freunden, den Storrows. Vermutlich sind sie auch dort rausgefahren und haben gesehen, was Betsy gesehen hatte. Und sie kamen zu Ihnen, Officer Landry. Sie sind in ihrer Gegend Streife gefahren. Diese alten Leute haben Sie respektiert. Sie haben Ihnen berichtet, was sie gesehen hatten. Und Sie haben so getan, als würden Sie ein Protokoll anfertigen – und dann haben Sie die alten Leute verraten.«
Er beugte sich noch näher an Landry heran und zog sein KA-BAR aus der Scheide. »Also begaben Sie sich an den Strand, wo die Storrows gern abends spazieren gingen, wie Sie genau wussten. Sie haben sie erschossen und ihre Leichen hinaus ins Wasser gezerrt, damit die Gezeiten sie aufs offene Meer trugen.«
Er führte die Spitze des Messers bis einen Zentimeter an Landrys Hals heran. Diaz sah nervös zu, während Carson das Boot steuerte, aber immer wieder einen Blick nach hinten warf, wo sich diese Szene abspielte.
Mecho saß da, hielt sich stoisch den Unterarm und starrte Landry an.
»Aber ich glaube, meine Tante Betsy hat Sie verdächtigt. Wissen Sie noch? ›Leute, die nicht sind, was sie zu sein scheinen.‹ Auf so etwas verstand sie sich sehr gut. Und vielleicht ist Ihnen klar geworden, dass Betsy Sie verdächtigt hat. Also sind Sie in Betsys Haus eingedrungen, haben ihr Notizbuch gestohlen, haben Betsy zum Brunnen gezerrt und ihren Kopf unter Wasser gedrückt, bis sie tot war.«
»Sie können nichts davon beweisen!«, fauchte Landry.
Puller packte ihr Haar und riss ihr den Kopf in den Nacken. Die Adern an ihrem Hals traten deutlich hervor. Puller drückte die Spitze des KA-BAR gegen die Halsschlagader.
»Bei diesem Seegang werden wir alle ganz schön durchgeschüttelt, was? Da könnte ich leicht die Kontrolle über die Klinge verlieren. Und plötzlich sind sämtliche Gefäße zu Ihrem Gehirn durchtrennt. Das wäre Pech für Sie, großes Pech.«
»Mit toten Augenzeugen können Sie vor Gericht nicht viel beweisen«, stieß Landry hervor, starrte Puller an und versuchte, seine Absichten zu erkennen.
Puller erwiderte ihren Blick mit tödlicher Ruhe. In diesen Sekunden befand er sich in einer anderen Sphäre. Er war konzentriert wie nie, als müsste er unter glühend heißer Sonne auf tausend Meter Entfernung einen Feind eliminieren und hätte nur eine einzige Chance, ohne den geringsten Spielraum für einen Fehler.
Die ganze Welt bestand nur noch aus ihm und Cheryl Landry.
»Wer hat etwas von Beweisen gesagt?«, fragte er leise.
Landry versuchte ein hämisches Grinsen zustande zu bringen und den Eindruck zu erwecken, als hätte sie die Situation wenigstens zum Teil unter Kontrolle, obwohl das nie der Fall gewesen war und auch nie der Fall sein würde.
»Sie werden mich nicht umbringen«, presste sie hervor. »Nicht vor all den Zeugen.«
»Wir sind zu viert losgefahren«, sagte Mecho, »und wir sind zu viert zurückgekommen.«
Diaz zuckte resigniert mit den Schultern.
Carson sagte: »Der Ozean ist groß, Landry. Manchmal geht etwas verloren und wird nie wieder gefunden. Abschaum sinkt immer auf den Grund.«
»Soweit man auf Ihrer Dienststelle weiß, sind Sie immer noch auf Patrouille«, fügte Puller hinzu. »Sie haben sich nicht abgemeldet, und ich habe es bestimmt nicht für Sie getan.«
Landry richtete den Blick wieder auf Puller. Jetzt standen Tränen in ihren Augen. »Hören Sie … vielleicht können wir einen Deal machen.«
»Vielleicht können Sie einfach die Klappe halten, und ich sage Ihnen genau, was Sie tun werden.«
»Warum sollte ich?«
»Weil Ihr Arsch sonst im Golf von Mexiko landet.«
Landry blickte auf das tosende Meer. Die Reling war nur einen Schritt entfernt. »Sie sind beim Militär. Sie können mich nicht einfach umbringen.«
»Leute wie Sie bringe ich ständig um.«
»Ich bin Cop.«
»Nein, Sie sind der Feind. Was Sie getan haben, war ein Verbrechen gegen dieses Land und alles, wofür es steht. Das macht Sie nach meinen Regeln zur Terroristin. Und nach meinen Regeln haben Terroristen keine Rechte. Sie haben nicht das Recht zu schweigen. Sie bekommen keinen Anwalt. Und ich werde verflucht noch mal nicht meine Steuerdollar dafür verschwenden, dass Sie gemütlich in einem amerikanischen Knast sitzen. Ich werfe Sie einfach ins Wasser. Das Letzte, was Sie sehen, bevor die Haie kommen, werde ich sein.«
Landry keuchte, schniefte, hustete und versuchte, so hilflos und mitleiderregend wie möglich auszusehen.
Puller reagierte nicht darauf.
Sie war keine junge, attraktive Frau mehr.
Sie war abstoßend.
Sie hatte ihre Rechte verwirkt, als sie geholfen hatte, andere zu Sklaven zu machen.
Als sie skrupellos drei alte Menschen ermordet hatte, die nur das Richtige tun wollten. Und dabei hatte sie die ganze Zeit die Uniform getragen.
»Wären Sie in der Army«, fügte Carson hinzu, »würden wir Sie erschießen.«
Landry erkannte, dass Puller nicht bluffte.
»Was soll ich tun?«, fragte sie schließlich mit bebender Stimme.