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Puller parkte seine Corvette einen Block vom Haus entfernt und ging das letzte Stück zu Fuß. Er hatte beschlossen, sich Betsys Haus jetzt gleich anzusehen, obwohl er Mason etwas anderes gesagt hatte. Aufmerksam hielt er nach Streifenwagen Ausschau. Zwar hatte er jetzt die Schlüssel und den letzten Willen seiner Tante, doch er konnte sich gut vorstellen, dass Hooper ihn einbuchten würde, wenn sich auch nur die geringste Chance bot.

Puller ging die Auffahrt hinauf und blickte zu Cookies Haus. Es war dunkel, und lächelnd stellte er sich vor, wie der mit neunundsiebzig Jahren für Paradise-Verhältnisse »junge Hüpfer« bis in die frühen Morgenstunden Party machte. Puller glaubte Sadie im Haus bellen zu hören, ging aber weiter. Das Bellen ließ ihn seine Katze vermissen.

Er schloss die Haustür auf und trat ein. Im Haus war es dunkel. Er wollte keinen Verdacht erregen, indem er Licht machte, also zog er seine Stiftlampe. Den Grundriss hatte Puller sich bei seinem ersten Besuch größtenteils eingeprägt.

Er durchquerte die Küche und betrat das Schlafzimmer. Das Bett war gemacht. Offensichtlich war Betsy an ihrem letzten Abend nicht schlafen gegangen. Sie war in den Garten gegangen, entweder freiwillig oder nicht. Dort hatte ihr Leben ein Ende gefunden.

Ein Nachtschrank am Bett war mit Büchern gefüllt. Puller konnte sich erinnern, dass Betsy eine eifrige Leserin gewesen war, und sie hatte diese Gewohnheit offensichtlich beibehalten. Er ließ den Lichtkegel über die Titel gleiten. Hauptsächlich Krimis und Thriller. Es wunderte Puller nicht; Betsy war nicht der Typ gewesen, der Liebesromane verschlang.

Pullers Licht huschte über die Oberfläche des Nachttisches und wieder zurück. Schließlich riskierte er es, eine Lampe einzuschalten, weil er besser sehen wollte. Als die Tischlampe brannte, beugte er sich vor und sah, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Ein kleiner rechteckiger Umriss mit einem leichten Staubmuster an den Rändern. Er griff sich ein Taschenbuch von Robert Crais vom Stapel auf der Ablage darunter und legte es auf das Rechteck. Es passte nicht. Zu klein.

Er versuchte es mit einer gebundenen Ausgabe von Sue Grafton. Zu groß.

Er öffnete die Schublade, entdeckte ein kleines schwarzes Notizbuch, nahm es heraus und schlug es auf. Die Seiten waren leer. Er legte das Notizbuch in das Rechteck. Es passte perfekt.

Es musste ein anderes Notizbuch gegeben haben. Und das schien verschwunden zu sein. Und irgendetwas sagte Puller, dass dieses Notizbuch keine leeren Seiten hatte.

Vielleicht würde es Licht auf die rätselhaften Bemerkungen in Betsys Brief werfen.

Leute, die nicht waren, was sie zu sein schienen.

Mysteriöse Geschehnisse in der Nacht.

Etwas stimmte nicht.

Puller legte das leere Notizbuch zurück, knipste das Licht aus und verließ das Zimmer. Er nahm sich ein paar Minuten, um die oberen Schlafzimmer zu überprüfen, fand aber nichts, das ihm bei seiner Untersuchung helfen konnte. Ein Wandschrank war mit alten Kleidern gefüllt. Da waren Männerhosen und Hemden, die vermutlich seinem Onkel Lloyd gehört hatten. Die anderen Schränke waren mit leeren Kleiderbügeln, alten Staubsaugern, Kisten mit modrigen Laken und Decken und dem üblichen Kleinkram gefüllt, den Menschen im Lauf eines langen Lebens sammelten.

Auf einem Regalbrett hinten im Schrank fand er mehrere Kartons. Einer war mit Schmuck gefüllt, der selbst in Pullers unerfahrenen Augen kostbar aussah. Er ging den Karton methodisch durch. Da war auch ein Sammelalbum mit alten Münzen. Allem Anschein nach ebenfalls sehr wertvoll. Er fragte sich, wie lange Betsy das alles besessen hatte.

Er ging wieder nach unten, durchquerte die Küche und betrat die Garage. Der Camry, der dort stand, sah gepflegt und fahrbereit aus, ohne zu ahnen, dass seine Besitzerin nie wiederkommen würde. Puller leuchtete die Karosserie mit der Stiftlampe ab, suchte nach Beschädigungen oder ungewöhnlichen Kratzern und Beulen, fand aber nichts.

Der Wagen schien in gutem Zustand zu sein. Puller schätzte ihn auf fünf, sechs Jahre. Möglicherweise hatte Betsy ihn gekauft, bevor sie die Rückenprobleme bekommen hatte.

Puller lehnte sich gegen die Wand, dachte nach, versuchte, die Löcher im bisherigen Gesamtbild zu stopfen.

Hatte irgendeine Beobachtung zu Betsys Tod geführt? Dann hatte sie diese Beobachtung Pullers Meinung nach entweder in der Nachbarschaft oder an einem anderen Ort gemacht. Und an einen anderen Ort hätte sie irgendwie gelangen müssen. Cookie glaubte zwar, Betsy sei nicht mehr Auto gefahren, aber nach eigener Aussage war er abends oft unterwegs. Vielleicht war es ihm deshalb entgangen, wenn Betsy ihren Wagen nach Einbruch der Dunkelheit benutzt hatte.

Puller öffnete die Fahrertür und setzte sich in den Wagen. Der Sitz war für eine große Frau wie Betsy weit genug nach hinten gestellt.

Dann sah er die behindertengerechten Umbauten. Die Kontrollen für Bremse und Gaspedal waren in Griffweite.

Also hätte Betsy den Wagen trotz ihrer Altersgebrechen fahren können.

Pullers Blick fiel auf den Aufkleber an der oberen linken Seite der Windschutzscheibe. Er gehörte einer Werkstatt in Paradise. Das Datum für die nächste Wartung und der Tachostand, den der Wagen bis dahin erreicht haben sollte, waren darauf verzeichnet. Der Aufkleber war vor genau dreißig Tagen ausgefüllt worden. Puller las den aufgelisteten Tachostand ab und richtete das Licht dann auf das Armaturenbrett.

Er rechnete schnell nach. In den sechsundzwanzig Tagen, die Betsy den Wagen bis zu ihrem Tod hätte fahren können, hatte er durchschnittlich zehn Meilen am Tag zurückgelegt. Konnte Betsy mit ihren Rückenproblemen ein paar Hundert Meilen an einem Stück gefahren sein? Zweifelhaft. Hätte sie kürzere Strecken bewältigen können? Gut möglich.

Was, wenn sie jeden Tag die gleiche Strecke zurückgelegt hatte? Und zwar genau zehn Meilen? Selbst mit ihrer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit war das machbar.

Also fünf Meilen hin, fünf zurück. Das verschaffte Puller zumindest einen Anhaltspunkt, etwas zum Nachprüfen, wo so vieles unklar war. Er konnte von hier aus sämtliche möglichen Strecken abfahren, in sämtlichen Himmelsrichtungen, und feststellen, wo er nach fünf Meilen landete.

Puller erstarrte. Im nächsten Augenblick stieg er aus dem Wagen, so leise er konnte, drückte vorsichtig die Tür zu, löschte das Licht und zog die M11.

Soeben hatte jemand durch die Vordertür das Haus betreten.

Ohne den geringsten Laut schlich Puller durch die Garagentür zurück in die Küche. Die andere Person im Haus war nicht annähernd so leise. Das konnte gut für Puller sein, aber auch problematisch.

Er schob sich um den Türrahmen zum Wohnzimmer. Über ihm erklangen Geräusche. Der Eindringling musste oben sein. Flüchtig fragte sich Puller, ob es die Polizei sein konnte. Nein, Cops hätten sich angekündigt.

Pullers Finger glitt zum Abzugsbügel.

Wenn er den Abzug berührte, musste er schussbereit sein.

Dann sah er die Person die Treppe herunterkommen.

»Auf den Boden, oder ich schieße«, rief Puller.

Die Person gehorchte nicht.

Stattdessen stieß sie einen gellenden Schrei aus und rannte los.

 

Am Limit
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