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Es kam keine Riesenwelle auf sie zu.
Vielleicht wäre das sogar besser gewesen.
Doch was auf sie zukam, war ein hochseetüchtiges Schiff von gewaltigen Ausmaßen.
Irgendwo ertönte der durchdringende Klang eines Horns.
Puller sparte sich die Mühe, ebenfalls das Horn zu betätigen. Es konnte weder den Sturm noch den Maschinenlärm des näher kommenden Schiffes übertönen.
Außerdem hatte er ein unmittelbares Problem. Er musste die herankommenden Wellen in einem Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad anfahren, denn bei neunzig Grad hätten sie die kinetische Energie der heranrasenden Welle voll mitbekommen.
Es war durchaus möglich, eine Welle »hinaufzureiten«, nur um bei Erreichen eines vertikalen Punkts ohne Wiederkehr zu kentern. Ragte der Bug steil in die Luft, war man erledigt. Man überschlug sich rückwärts, das war so gut wie unausweichlich. Und die Passagiere an Bord wurden entweder vom Boot zerschmettert oder ins Meer geschleudert, wo sie ertranken.
Wollte Puller dem Kurs des herankommenden Schiffes ausweichen, musste er fast direkt in die Wellen hineinsteuern. Das Schiff war riesig und aus Stahl; es war stabil genug, um die Wellen nicht fürchten zu müssen. Tatsächlich schuf es selbst eine gewaltige Bugwelle, während es sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zwölf Knoten durch die Wogen kämpfte und Millionen Liter bereits aufgewühltes Golfwasser vorn und an den Seiten vor sich her schob wie ein Schneepflug den Schnee.
Im letzten Augenblick, das Dröhnen des Schiffshorns in den Ohren, riss Puller das Ruder scharf nach links. Er musste nicht nur dem Schiff ausweichen, er musste auch dessen Kielwasser meiden, das den Bowrider mühelos kentern lassen konnte.
Dazu musste er einen großen Bogen um das Schiff machen und sich schnell von ihm entfernen, indem er die Geschwindigkeit erhöhte, nur war das bei diesem Seegang so gut wie unmöglich. Die Hälfte der Zeit ragte die Schiffsschraube aus dem Wasser und drehte sich nutzlos in der Luft.
Puller erreichte sein Ziel nicht ganz.
»Alle festhalten!«, brüllte er.
Die Ausläufer des Kielwassers prallten wie eine Breitseite gegen sie. Die Backbordseite des Bowriders kippte nach unten, die Steuerbordseite stieg mit einem Ruck in die Höhe.
Carson und Landry rutschten über Deck und prallten gegen die Backbordreling.
Carson wäre ins Meer geschleudert worden, hätte Mecho, der einen Handlauf umklammerte, nicht mit festem Griff ihr Bein geschnappt.
Landry konnte sich an der Reling festklammern, doch ihre Beine baumelten über die Seite, bevor sie das Gleichgewicht wiedererlangte und zurück ins Boot kippte.
Diaz war nach vorn zwischen Pullers Beine gerutscht. Eine Hand fest am Steuer, packte Puller die junge Frau mit der anderen und zerrte sie hoch.
Unglücklicherweise traf sie die vom Kielwasser in die Höhe gedrückte Woge in dem Augenblick, als das Boot sich wieder ausrichtete.
Puller spuckte Salzwasser aus und rief: »Wir werden überschwemmt!«
Alle schnappten sich Eimer, die Mecho unter einem Sitz fand, und machten sich daran, Wasser zu schippen. Die Abläufe des Bootes halfen zwar, aber die Menge des Meerwassers war zu groß.
Puller musste hilflos zusehen, wie die Reling immer tiefer sank.
Mecho arbeitete mit zwei Eimern wie eine Maschine. Puller übergab Diaz das Ruder und schnappte sich ebenfalls einen Eimer.
Bald sanken zuerst Landry, dann Carson erschöpft in dem Wasser zusammen, das wie ein Strudel im Boot schäumte. Jetzt standen nur noch die beiden Männer Seite an Seite und beförderten das Wasser ein wenig schneller über Bord, als es ins Boot gischtete. Die Wirkung von Pullers Schmerzmittel ließ nach, seine Wunde fing an zu pochen, aber er hörte nicht auf.
»Wir kommen wieder hoch«, rief Diaz. »Hört nicht auf!«
Der Zuruf setzte auch bei Carson und Landry neue Kräfte frei. Sie schöpften mit den Händen Wasser. Das Blatt begann sich zu wenden.
Vierzig Minuten später übernahmen die Abläufe und die Bilgepumpe, und das Bootsinnere wurde relativ trocken.
Erst dann steckten Carson und Landry die Köpfe über die Reling und erbrachen das Salzwasser, das sie unfreiwillig geschluckt hatten.
Auch Puller übergab sich, übernahm dann wieder das Steuer von Diaz und führte seinen Kampf gegen die Ausläufer von Danielle weiter.
Mecho ließ die Eimer fallen und stand durchnässt da. Seine gewaltigen Arme baumelten an den Seiten, und er atmete schwer. Sein Blick war unverwandt nach vorn gerichtet, als könnte er spüren, dass etwas passieren würde.
Am Ruder behielt Puller die Benzinuhr im Auge. Vor ihrem Aufbruch hatte er den Tank mit den Kanistern gefüllt, die Diaz an Bord gehabt hatte. Aber das anstürmende Wasser hatte dazu geführt, dass sie bedeutend mehr Treibstoff verbraucht hatten, als bei ruhiger See zu erwarten gewesen wäre.
Puller nahm eine schnelle Berechnung vor. Das Ergebnis war eindeutig und sehr beunruhigend.
Wir haben nicht genug Benzin für die Rückfahrt.
Er warf Mecho einen Blick zu, der noch immer dastand, gegen die Achtersitze gestemmt. Der Hüne beobachtete ihn, als hätte er seine Gedanken lesen können, während er die Anzeigen vor sich überprüfte. Dann blickte er über Pullers Schulter und streckte langsam den Arm aus.
Puller blickte in die gewiesene Richtung.
Im tobenden Sturm wurde eine gewaltige Stahlkonstruktion sichtbar.
Neptuns Thron lag direkt voraus.
Sie hatten das Schlachtfeld erreicht.
Jetzt begann der eigentliche Kampf.