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Puller lenkte die Corvette an den Straßenrand und blickte schräg über die Straße zum Haus seiner Tante. »Sunset by the Sea« war der Name der Siedlung. Puller kam zu dem Schluss, dass dieser Name passte: Die Siedlung befand sich in der Nähe des Wassers, und die Sonne ging jeden Tag pünktlich wie ein Uhrwerk unter.

Das Haus seiner Tante war ein schmucker zweistöckiger Bau mit Garage. Puller hatte sie hier nie besucht. Schon bevor er zur Army gegangen war, hatte Betsy in seinem Leben kaum noch eine Rolle gespielt. Ursprünglich hatte sie mit ihrem Ehemann Lloyd in Pennsylvania gewohnt. Puller erinnerte sich, dass sie vor über zwanzig Jahren nach Florida gezogen war, als Lloyd sich zur Ruhe gesetzt hatte.

Im Lauf der Jahre hatte seine Tante ihm nur selten geschrieben. Sein Bruder hatte sich besser darauf verstanden, die Verbindung zu Betsy Simon aufrechtzuerhalten. Aber dann war Bobby im Gefängnis gelandet, ihr Vater hatte den größten Teil seines Verstandes eingebüßt und war im Veteranenkrankenhaus geendet, und Puller hatte völlig den Kontakt zu der Frau verloren, die als kleiner Junge so wichtig für ihn gewesen war.

Aber so war das Leben nun mal. Es löschte wichtige Dinge aus und ersetzte sie durch andere wichtige Dinge.

Puller verbrachte ein paar Minuten damit, die Gegend einzuschätzen. Nett, gehobenere Preisklasse, Palmen. Aber keine Villen. Auf dem Weg hierher war er an einer ganzen Reihe exklusiver Anwesen vorbeigekommen. Sie standen meist nahe oder direkt am Wasser, groß wie Apartmenthäuser – riesige Pools, hohe Tore und Bugattis oder McLarens auf der runden Auffahrt, deren Mitte gewaltige Springbrunnen zierten. Diese Art Lebensstil war Puller so fremd, wie es das Leben in Pjöngjang, Nordkorea, gewesen wäre. Und vermutlich genauso abstoßend.

Er würde nie viel Geld verdienen. Dass er jeden Tag Kopf und Kragen riskierte, um für Amerikas Sicherheit zu sorgen, war anscheinend nicht wichtig oder gar wertvoll genug. Da war es einfacher, an der Wall Street Milliarden zu scheffeln – auf Kosten des Normalbürgers, dem am Ende nur die leeren Versprechungen blieben, die vom Amerikanischen Traum übrig waren.

Aber seiner Tante war es offensichtlich gut gegangen. Ihr Haus war groß und schön, der Vorgarten gewässert und gepflegt. Anscheinend war ihr nicht das Geld ausgegangen.

Puller konnte niemanden entdecken, der sich im Freien aufhielt oder zu Fuß oder im Auto unterwegs war. Aber die Hitze war wirklich unerträglich; vermutlich hielten die Leute jetzt Siesta. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor eins. Er stieg aus dem Wagen, überquerte die Straße, ging langsam zur Tür seiner Tante und klopfte.

Niemand reagierte.

Er klopfte erneut, ließ den Blick nach rechts und links schweifen, um zu sehen, ob die unmittelbaren Nachbarn den Neugierdetektor ausgefahren hatten.

Nichts. Keine wissbegierig blickenden Augen. Keine Schritte, die sich näherten.

Puller ging zur Garagentür und spähte durch die Scheibe. Drinnen parkte ein Toyota Camry. Der Wagen sah ziemlich neu aus. Puller fragte sich, ob seine Tante wohl noch selbst fuhr. Er versuchte, das Garagentor zu öffnen, aber es war abgeschlossen. Vermutlich öffnete es sich elektrisch. Auf keinen Fall würden sich alte Leute ständig bücken und schwere Tore in die Höhe stemmen, nur weil sie mal eben irgendwo hinfahren wollten.

Puller ging weiter zur Seite des Hauses. Seine Größe gestattete ihm, über den Zaun zu blicken, der die Privatsphäre schützen sollte. In der Mitte eines kleinen Gartens stand ein Brunnen.

Er versuchte, das Tor zu öffnen. Es war verriegelt, aber das Schloss war ziemlich simpel. Ein kurzes Rütteln, und es öffnete sich. Puller betrat den Garten und ging zu dem Brunnen. Als Erstes bemerkte er die Furche in der Erde direkt neben der Mauer, die das Becken bildete. Er kniete nieder, betrachtete die Furche genauer und entdeckte eine weitere, die im Abstand von neunzig Zentimetern parallel zur ersten verlief.

Dann nahm er den Gartenbrunnen in Augenschein. Jemand hatte die Pumpe abgestellt, denn das Wasser, das vom oberen Teil des Brunnens ins Becken plätschern sollte, floss nicht.

Puller beugte sich vor, betrachtete den Beckengrund. Da lagen ein paar dekorative Steine, aber irgendetwas hatte sie durcheinandergebracht. Einige waren so weit verschoben, dass der Betonboden zu sehen war. Als Puller sich näher beugte, entdeckte er, dass sich einer der Einfassungssteine gelöst hatte und auf dem Grund des Beckens lag. Der Stein wies einen dunklen Fleck auf.

Puller betrachtete ihn genauer.

Blut?

Er kniete nieder, studierte die Topografie in Bezug auf die Hinterseite des Hauses. Wieder fielen ihm die Furchen im Boden auf. Konnten sie von einer Gehhilfe stammen? Fußabdrücke konnte er keine entdecken. Das Gras war hart und ziemlich trocken, also waren keine erkennbaren Abdrücke zu erwarten.

Er besah sich das Becken genauer. Es war schätzungsweise sechzig Zentimeter tief und maß im Durchmesser ungefähr eins achtzig. Die niedrige Steinmauer bildete den Rand.

Puller suchte die Brunnenmauer nach anderen Spuren ab. Er fand kein Blut, kein menschliches Gewebe und auch keine Haare. Er spähte in das klare Wasser und betrachtete erneut die Stellen, an denen die Steine in Unordnung geraten waren.

Schließlich stand er auf und tat so, als würde er ins Becken stürzen, die Hände nach vorn ausgestreckt, um den Sturz abzufangen. Eine Hand hier, die andere da. Die Knie landeten auf der Dekoration. Er veränderte seine Körperhaltung ein wenig, um die Wirkung eines Gehgestells zu simulieren. Dann verglich er seine Pantomime mit dem, was er sah. Keine genaue Übereinstimmung, doch irgendetwas hatte den Beckengrund durcheinandergebracht.

Aber seine Tante hätte sich auf die Seite rollen und das Gesicht aus dem Wasser heben können. Falls sie nicht bewusstlos gewesen war. Also … aus irgendeinem Grund bewusstlos, kopfüber im Wasser. Sechzig Zentimeter würden mühelos den Kopf bedecken. Der Tod würde schnell eingetreten sein.

Puller schüttelte den Kopf.

Ich sehe überall Verbrechen. Mach halblang, Puller.

Es gab nicht den geringsten Beweis, dass seine Tante tot oder verletzt war.

Jetzt bist du in der Hitze in Tante Betsys Garten herumgekrochen, um nach Beweisen für ein Verbrechen zu suchen, das es nicht gibt.

Das hatte er davon, dass er berufsmäßig Straftaten untersuchte. Falls nötig, konnte er sie einfach erfinden.

Doch als Puller einen Schritt zurücktrat, erhielt er die Bestätigung, dass hier doch etwas Ungewöhnliches geschehen war.

Im Gras waren zwei parallele Reihen zu sehen, wie Miniaturgleise, die die Halme nach unten drückten. An einer anderen Stelle des Rasens entdeckte er eine weitere Parallelspur.

Puller wusste, was das zu bedeuten hatte. Er hatte es schon oft gesehen.

Eilig ging er zur Hintertür und griff nach der Klinke. Abgeschlossen. Wenigstens achtete Tante Betsy auf Sicherheit. Aber auch hier war das Schloss kein Hindernis. Puller brauchte genau fünfzehn Sekunden, um es zu knacken. Er trat ein, zog hinter sich die Tür zu.

Der Grundriss des Hauses schien relativ einfach zu sein: ein gerader Flur, von dem die Zimmer abzweigten. Vorn und hinten führten Treppen nach oben, zweifellos zu Schlafzimmern im ersten Stock. In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters seiner Tante vermutete Puller, dass sie ihr Domizil im Erdgeschoss aufgeschlagen hatte. Er hatte gehört, dass dieses Arrangement in Rentnersiedlungen beliebt war.

Puller kam an einer Waschküche, einem kleinen Arbeitszimmer und der Küche vorbei. Davon zweigte ein Hauptraum ab. Er hatte das große Wohnzimmer gefunden, das zum Foyer führte. Es wurde durch eine taillenhohe Wand von der Küche getrennt. Die Möbel wiesen größtenteils tropische Motive auf. An der einen Wand erhob sich ein Gaskamin aus Schiefer. Puller hatte sich über Floridas Panhandle informiert und dabei entdeckt, dass es selbst mitten im Winter kaum einmal Minusgrade gab, aber er konnte verstehen, dass seine Tante, die aus dem schneereichen Keystone State stammte, aus Pennsylvania, ihre Knochen mit einem gemütlichen Feuer wärmen wollte, für das man kein Holz brauchte.

Die Alarmtastatur neben der Haustür entging Puller nicht. Das grüne Licht ließ erkennen, dass der Alarm nicht eingeschaltet war – was Puller aber bereits wusste, weil die Alarmanlage schon beim Öffnen der Hintertür nicht reagiert hatte.

Auf Regalbrettern und ein paar kleinen Tischen, die überall im Zimmer verteilt standen, erblickte Puller jede Menge Fotos, vor allem alte Aufnahmen. Er betrachtete sie eins nach dem anderen und entdeckte ein paar Bilder von seinem Vater, ihm selbst und seinem Bruder Bobby in ihren jeweiligen Uniformen, zusammen mit Tante Betsy. Das letzte stammte aus der Zeit, als Puller zur Army gegangen war. Unwillkürlich fragte er sich, wann es in der Familie zur Spaltung gekommen war, aber er kam einfach nicht drauf. Es gab auch ein paar Fotos von Betsys Ehemann Lloyd. Er war etwas kleiner als seine Frau gewesen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Lebensfreude. Es gab ein Bild von den beiden, das sie in Uniform zeigte: Lloyd in seiner grünen Armeeuniform aus dem Zweiten Weltkrieg, Betsy in der Uniform des WAC, des Frauen-Hilfskorps. So, wie sie sich auf dem Foto anschauten, sah es nach Liebe auf den ersten Blick aus.

Puller hörte es, bevor er es hätte sehen können.

Er trat ans Fenster. Vorsichtig zog er den Vorhang eine Winzigkeit zurück. Seit seinen Einsätzen im Nahen Osten zeigte er nie mehr von sich als unbedingt nötig – weder physisch noch emotional.

Der Streifenwagen hielt am Straßenrand. Der Fahrer stellte den Motor ab.

Keine Sirene, kein Blaulicht. Die beiden Cops im Wagen waren offensichtlich auf Schleichfahrt. Sie stiegen aus und zogen die Waffen, kontrollierten die Umgebung. Ihre Blicke näherten sich langsam der Fassade.

Jemand hatte Puller im Garten gesehen, hatte vielleicht sogar beobachtet, wie er das Haus betrat, und die Polizei gerufen.

Der Officer war kahl und stämmig; es war derselbe Mann, den Puller am Strand gesehen hatte. Sein Oberkörper war dick und muskulös, aber seine Beine waren dünn. Zu viel Bankdrücken, nicht genug Kniebeugen. Puller erschien er wie Ausschussware vom Militär, aber das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht lag es an dem herablassenden Nicken, mit dem der Mann ihn zuvor bedacht hatte.

Seine Partnerin war gut fünf Zentimeter größer und schien besser in Form zu sein. Sie war eins fünfundsiebzig groß und hatte ihr blondes Haar straff nach hinten gekämmt, wo es von einer Klammer gehalten wurde. Obwohl kräftig gebaut, bewegte sie sich mit der Geschmeidigkeit einer Turnerin.

Ihr Partner hielt seine Dienstwaffe, eine 9-Millimeter, unbeholfen, sogar unprofessionell, als hätte er es sich aus dem Fernsehen abgeschaut, oder aus dem Kino, wo er sich den Hintern plattsaß und verfolgte, wie die Actionstars mit ihren Waffen umgingen. Seine Partnerin trug ihre Waffe entspannt und mit perfekter Kontrolle, das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine verteilt, die Knie leicht gebeugt, den Körper ein wenig zur Seite gedreht, um die Zielfläche zu verkleinern. Puller fand, dass die beiden wie die Teilnehmer eines Pro-Am-Wettbewerbs wirkten, bei dem die Paare sich aus Profi und Amateur zusammensetzten.

Falls seine Tante tot war und eine Ermittlung stattgefunden hatte, hoffte er inständig, dass nicht Kahl und Stämmig dafür zuständig gewesen waren. Das konnte nur mit einem Desaster enden.

Puller beschloss, die Sache zu verkürzen. Hauptsächlich weil er vermeiden wollte, dass der Typ sich aus Versehen selbst erschoss.

Er nahm ein Foto aus seinem Rahmen, schob es in die Hemdentasche, öffnete die Haustür und trat hinaus ins grelle Sonnenlicht von Paradise.

 

Am Limit
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