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Bullock blieb anderthalb Meter vor Puller stehen, der vor der Tür wartete. »Verraten Sie mir, was Sie hier tun? Und dann versuchen Sie mir einen Grund zu liefern, warum ich Ihren Hintern nicht auf der Stelle in den Knast verfrachten sollte.«
Puller hob die Haustürschlüssel. »Die habe ich vom Anwalt meiner Tante.« Er zog die Kopie des Testaments hervor. »Sie hat mir das Haus hinterlassen. Steht alles hier drin. Sie können ja den Anwalt anrufen, wenn Sie mir oder dem Dokument nicht glauben.«
Bullock machte zwei schleppende Schritte nach vorn, riss Puller das Testament aus der Hand und las es im Licht der Außenbeleuchtung. Dann faltete er es zusammen und gab es Puller zurück.
»Ich bin kein Anwalt, aber wie es aussieht, sind Sie jetzt stolzer Besitzer eines Hauses. Sollte Ihre Tante ermordet worden sein, haben Sie natürlich ein erstklassiges Motiv.«
»Sieht man davon ab, dass ich nicht in Florida gewesen bin, als sie gestorben ist.«
»Können Sie das beweisen?«
»Wenn ich es muss. Und wenn ich gewusst hätte, dass ich das Haus erbe, warum sollte ich anreisen, meine Tante ermorden, dann hier aufkreuzen und mich verhaften lassen, damit Sie erfahren, dass ich überhaupt hier bin?«
»Vielleicht sind Sie dumm.«
»Da müssen Sie die Army fragen.«
»Ich frage aber Sie, solange Sie in Paradise sind, und zwar so oft ich will.«
»Können wir nicht Waffenstillstand schließen? Falls ich Sie auf dem falschen Fuß erwischt habe, entschuldige ich mich. Das war nicht meine Absicht.«
Bullock wippte auf den Fußballen und atmete lautstark aus. »Schon gut, vergessen Sie’s. Ist genauso mein Fehler. Ich bin ziemlich reizbar, wissen Sie.«
»Kein Problem. Kann ich verstehen.«
»Glauben Sie immer noch, dass der Tod Ihrer Tante kein Unfall war?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen und ihre Leiche gesehen. Mir ist nichts aufgefallen.«
»Aber so ganz überzeugt sind Sie noch immer nicht.«
»Man kann sich nie ganz sicher sein. Aber vielleicht suche ich nach etwas, das nicht da ist.«
»So was gibt’s.«
Puller streckte die Hand aus. »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben. Was immer heute am Strand passiert ist, es sah ziemlich wichtig aus. Ich fahre jetzt zurück in mein Hotel. Danke, dass Sie mich nicht verhaften.«
Bullock schüttelte die dargebotene Hand. »Ja, das war ziemlich schlimm.« Er blickte Puller an. »Ich meine, was wir da am Strand gefunden haben …«
Puller verstand es als Aufforderung, nachzuhaken.
»Eine Wasserleiche?«
»Nein. Beide in den Kopf geschossen.«
»Beide? Es gab zwei Leichen?«
»Ja. Ein Ehepaar. Die Storrows. Nancy und Fred. Wie Sie auf dem Revier bereits gehört haben. Sie waren hier gut bekannt. Waren länger hier als ich. Haben jeden Abend einen Strandspaziergang gemacht. Vor ein paar Tagen kamen sie nicht von einem dieser Spaziergänge zurück.«
»Gibt es Zeugen? Spuren?«
»Die Körper waren stark verwest. Bisher hat sich niemand gemeldet, der etwas gesehen haben will.«
»Und das Motiv? Raubüberfall?«
»Mr. Storrow hatte zwanzig Dollar in der Hosentasche und einen Ehering aus Gold am Finger. Mrs. Storrow trug noch immer ihren Brillantring.«
»Hatten die Storrows Feinde?«
»Nicht dass ich wüsste. Sie waren Rentner. Sind zusammen in Fort Walton Beach aufgewachsen. Eine Highschool-Liebe. Die beiden sind schon vor langer Zeit nach Paradise gekommen. Mr. Storrow besaß mehrere Geschäfte. Nichts Großes. Eine Tankstelle, eine Subway-Filiale, einen Handy-Laden. Er hat vor einiger Zeit alles verkauft. Er und seine Frau haben ihre goldenen Jahre auf ziemlich angenehme Weise verbracht.«
»Und das Paar, das die beiden als vermisst gemeldet hat und heute am Strand war?«
»Chuck, der Sohn der Storrows, und seine Frau Lynn.«
»Haben sie ein Motiv?«
Bullock schüttelte den Kopf. »Der Sohn ist Bankier in der Stadt und hat ein fettes Einkommen. Der braucht keinen Cent von seinen Eltern. Sie standen sich allerdings sehr nahe. Haben jedes Wochenende zusammen Golf gespielt. Bei sich zu Hause Partys gefeiert. Sie haben sich gemocht.«
»Also könnte es ein Zufall gewesen sein. Falscher Ort, falsche Zeit.«
»Wenn Sie mich fragen, ja.«
»Kann man von der Stelle, an der die Leichen angespült wurden, darauf schließen, wo man sie ins Wasser geworfen hat?«
»Ich hoffe. Einige Leute, die sich mit den Gezeiten und Strömungen in dieser Gegend auskennen, kümmern sich darum. Wenn wir es auf eine bestimmte Stelle eingrenzen können, werden wir uns dort umsehen. Einen Zeitrahmen haben wir schon, denn wir wissen, wann die Storrows das Haus verlassen haben.«
»Wenn Sie möchten, dass sich das noch jemand ansieht, übernehme ich es gern, solange ich noch hier bin.«
»Okay, Puller. Je nachdem wie die Dinge sich entwickeln, komme ich vielleicht darauf zurück. Schönen Abend noch. Ich bin froh, dass wir die Sache geklärt haben.«
»Ich auch.«
Bullock ging zurück zu seinem Wagen, und Puller schloss die Haustür ab. Dann stieg er in die Corvette und fuhr zu der Stelle, an der die Leichen der Storrows an den Strand gespült worden waren.
Vielleicht war es wirklich der falsche Ort und die falsche Zeit gewesen. Woraus zu schließen war, dass die Storrows irgendetwas gesehen hatten oder auf jemanden gestoßen waren. Und das hatte sie das Leben gekostet.
Mysteriöse Geschehnisse in der Nacht.
Puller schätzte die Strecke, die er vom Haus seiner Tante gefahren war.
Jetzt ist es mein Haus. Aber was fange ich damit an?
Die Strecke betrug gut zwei Meilen. Hierher war Betsy also nicht gefahren.
Bedeutet das, der Mord an den Storrows hat nichts mit Betsys Tod zu tun?
Diese Frage konnte Puller jetzt noch nicht beantworten.
Ich weiß nicht genug. Vielleicht werde ich auch nie genug wissen.
Er war nicht in seinem Element. Hier hatte er keine Vollmachten. Der Rucksack mit der forensischen Ausrüstung, die er normalerweise brauchte, um Verbrechen aufzuklären, war in Virginia.
Dann kam ihm eine Idee. Er rief das USACIL an, das Kriminallabor der Army in Fort Gillem, Georgia. Dort arbeitete eine seiner Kontaktpersonen, Kristen Craig, mit der er bei mehreren Fällen zusammengearbeitet hatte. Es war schon spät, und Georgia war Paradise eine Stunde voraus, aber Puller wusste, dass Craig oft bis spät in die Nacht arbeitete.
So wie heute. Sie meldete sich beim zweiten Klingeln. Puller erklärte ihr, womit er beschäftigt war und was er brauchte.
»Morgen früh geht eine Lieferung an Eglin raus«, sagte Craig. »Ich kann den Rucksack zum Flugzeug bringen lassen, dann könnten Sie ihn gegen Mittag abholen.«
»Sie sind ein Engel, Kristen.«
»Vergessen Sie nicht, anzurufen und das meinem Boss zu sagen, wenn es mal wieder um die Leistungsbeurteilung geht.«
Craig gab ihm die nötigen Informationen, um die Ausrüstung in Empfang zu nehmen. Bevor sie auflegte, sagte sie: »Sind Sie wirklich an einem Ort, der Paradise heißt?«
»Ja.«
»Wenn Sie Ihre forensische Ausrüstung brauchen, passt der Name wohl nicht so ganz.«
»Ihre Kombinationsgabe wird nur noch von Ihrer Fähigkeit übertroffen, Wunder zu wirken.«
»Wenn Sie mir weiterhin solche Komplimente machen, wird es mit uns beiden vielleicht doch was.« Sie lachte und legte auf.
Puller schob das Handy in die Tasche und legte den Gang ein.
Heute Abend war seine Arbeit noch nicht getan.
Noch lange nicht.