22

Puller entdeckte zuerst Officer Landry, dann Polizeichef Bullock. Hooper war nirgends zu sehen.

Was er dann sah, ließ ihn langsamer werden. Aus Metallstangen und blauer Plane war ein Sichtschutz errichtet worden, um den Blick auf irgendetwas zu verwehren. Die Anwesenheit der Polizei ließ darauf schließen, dass es sich um eine Leiche handelte.

Puller näherte sich bis auf dreißig Meter und blieb dann stehen, nahm alles in sich auf. Landry stand neben einem Pärchen, das Puller wiedererkannte. Er hatte die beiden auf dem Revier gesehen, besorgt und aufgebracht. Ihm fielen wieder die Namen ein, die das Pärchen erwähnt hatte: Nancy und Fred Storrow. Sie waren spazieren gegangen und nie zurückgekommen. Das schien in Paradise öfters vorzukommen. Puller fragte sich, ob Nancy oder Fred – oder beide – hinter dem Sichtschutz lagen.

Er blickte hinaus aufs Meer. Die Flut kam. Hatte sie die Leiche angespült?

Es war fast sieben Uhr abends, und die Leiche war erst vor Kurzem gefunden worden. Das würde bedeuten, dass man sie am helllichten Tag am Strand abgelegt hatte, einem öffentlichen Ort. Das konnte Puller sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es musste eine andere Erklärung für das Auftauchen der Leiche geben.

Wieder schaute Puller aufs Wasser.

Die Gezeiten. Das musste es sein. Puller bezweifelte, dass die Leiche sich in einem guten Zustand befand. Längere Zeit im Wasser zu liegen tat Körpern schreckliche Dinge an.

Die Frau weinte und stützte sich gegen die Schulter des Mannes, während Landry unbehaglich danebenstand. In der herabbaumelnden Hand hielt sie ihr Notizbuch. Bullock stand kopfschüttelnd neben dem Sichtschutz und tippte mit den Fingern nervös an seinen Waffengürtel, als würde er ein SOS-Signal senden.

Sie hatten die Stelle nicht weiträumig abgesperrt, aber die Leute hielten Distanz.

Puller ging auf Bullock zu, bis dieser aufschaute und ihn sah. Instinktiv hielt er die Hände hoch, um Puller zu stoppen, erkannte ihn dann aber und kam auf ihn zu. Seine schwarzen Schuhe versanken im Sand.

»Was tun Sie hier?«, fragte der Polizeichef, als er herangekommen war.

»Ich bin am Strand spazieren gegangen. Was haben Sie hier?«

»Eine laufende Untersuchung. Ich habe nicht die Absicht, einem Zivilisten Einzelheiten anzuvertrauen.«

»Ich bin kein Zivilist.«

»Für mich schon.«

»Eine Leiche oder zwei?«

»Wie bitte?« Bullock trat einen Schritt zurück und musterte Puller argwöhnisch.

»Hinter dem Sichtschutz. Hat die Flut die Leiche angespült?«

»Verdammt, was wissen Sie davon?«

»Nichts. Aber wenn Sie an einem Strand einen Sichtschutz errichten, und gleich daneben steht eine weinende Frau – eine Frau, die ich heute auf dem Revier gesehen habe, wo sie vermutlich eine Vermisstenmeldung aufgegeben hat –, ist das kein großes Rätsel. War es ein Unfall?«

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Puller. Steigen Sie ins nächste Flugzeug und fliegen Sie nach Hause.«

»Danke für den Tipp, aber Paradise wächst mir allmählich ans Herz. Ich kann verstehen, warum es euch hier im Süden so gut gefällt.«

Bullock machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon. Seine Schuhsohlen ließen den Sand aufstieben. Ein anderer Officer erschien und kümmerte sich um das Pärchen, was es Landry ermöglicht, sich freizumachen und zu Puller zu kommen.

»Was hat Chief Bullock Ihnen gesagt?«, erkundigte sie sich.

»Er wollte, dass ich mich an der Ermittlung beteilige und mein Fachwissen zur Verfügung stelle. Außerdem hat er mich später zu einem Bier in seinem Haus eingeladen.«

Landry lächelte. »Er trinkt kein Bier. Aber ich hätte Ihnen sowieso nicht geglaubt.«

Puller nickte in Richtung der blauen Plane. »Haben Sie schon die Gerichtsmedizinerin gerufen?«

»Sie kommt, so schnell sie kann.«

Puller nickte. Wie es aussah, war sein Sieben-Uhr-Termin mit Timmins soeben verschoben worden.

»Keine Bange, ich frage Sie nicht nach Einzelheiten. Ich will Sie bei Bullock nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Danke.«

»Wo steckt Ihr Partner?«

Die Frage schien Landry Unbehagen zu bereiten. »Er … äh, hatte ein kleines Problem.«

»Hat er gekotzt und ist in Ohnmacht gefallen, als er die Leiche gesehen hat?«

Landry schaute zur Seite, aber ihre Miene verriet Puller, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

»Ich habe ziemlich viel Erfahrung mit Wasserleichen«, sagte er.

»Ich dachte, Sie wären bei der Army, nicht bei der Navy.«

»Oh, Sie würden nicht glauben, was es bei der Infanterie so alles gibt. Und viele Stützpunkte liegen in der Nähe von Gewässern.«

»Ich bezweifle, dass der Chief einverstanden wäre, wenn Sie sich an den Ermittlungen beteiligen.«

»Das ist mir schon klar. Aber ich wollte es trotzdem anbieten. Und falls Sie mich je etwas fragen möchten – inoffiziell, versteht sich –, tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Danke. Wir haben hier keine herkömmlichen Detectives in Zivil, wissen Sie. Die Uniformierten erledigen alles. Wenn wir überfordert sind, können wir Hilfe vom County oder von der State Police anfordern.«

»Verstehe.«

»Haben Sie sich fleißig um alles gekümmert, was der Tod Ihrer Tante so mit sich gebracht hat?«

»Ein wenig.«

»Wenn Sie herausfinden, dass es kein Unfall war, informieren Sie mich dann?«

»Mach ich.«

»Sie werden nicht den einsamen Rächer spielen?«

»Ich suche keinen Ärger.«

»Aber der Ärger findet Sie trotzdem?«

»Manchmal. Ich wohne drüben im Sierra.«

»Nicht gerade der exklusivste Teil der Stadt.«

»Wenn man sich die wirklich exklusiven Viertel nicht leisten kann, dann schon. Und achtzig Mäuse für eine Übernachtung ist nicht gerade billig. Nicht mal, wenn das Frühstück darin enthalten ist.«

»Tja, so ist Paradise nun mal.«

»Können Sie mir mehr über die Gegend verraten?«

»Zum Beispiel?«

»Sie haben hier doch bestimmt die typischen Probleme. Haben Sie auch mit Gangs zu tun?«

»Offiziell nicht. In Wirklichkeit schon.«

»Was soll dann ›offiziell nicht‹ heißen?«

»Paradise ist ein Touristenort. Von den Millionen Leuten, die jedes Jahr in den Panhandle reisen, kommen viele hierher. Deshalb haben wir offiziell kein Gangproblem.«

»Verstehe. Woraus besteht Ihr inoffizielles Gangproblem?«

»Es gibt hier keine der typischen ethnischen und rassischen Trennlinien. Keine Bloods und Crips gegen Latinogangs oder Skinheads.«

»Sie meinen, dass in Ihren Gangs Vielfalt herrscht? Multikulti? Sehr lobenswert.«

Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Warum fragen Sie eigentlich? Ist etwas passiert?«

»Nichts Besonderes. Ist die Kriminalität auf die ärmeren Viertel beschränkt?«

»Gewaltdelikte größtenteils schon. Gang gegen Gang. Aber die Eigentumsdelikte greifen aus offensichtlichen Gründen auch in die Gegenden mit höheren Einkommen über.«

»Man geht dorthin, wo man die teuren Klamotten klauen kann.«

»Exakt. Die wirklich exklusiven Anwesen hier in der Gegend verfügen allerdings über ihre eigene Security. Entweder hinter Siedlungsmauern mit Mietcops oder hinter eigenen Toren mit Sicherheitsprofis.«

»Da eröffnet sich einem ja plötzlich eine ganz andere Seite von Paradise.«

»Solche Dinge passieren nun mal, wenn sich Geld an Armut reibt.«

»Das trifft dann aber auf ganz Amerika zu.«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Wer leitet die Untersuchung hier eigentlich?«, fragte Puller.

»Chief Bullock persönlich. Er kennt die Familie.«

»Ist er ein guter Ermittler?«

»Er ist der Chief.«

»Sie haben die Frage nicht beantwortet.«

Sie seufzte. »Ich nehme an, wir werden es herausfinden.«

»Ich nehme an, das werden Sie.«

 

Am Limit
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