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In diesem Raum war es noch kälter, und dafür gab es einen guten Grund. Leichen benötigen Kälte, um erhalten zu bleiben. Der Verwesungsprozess macht sterbliche Überreste ansonsten ausgesprochen unerfreulich, vor allem wenn man sich in ihrer Nähe aufhält.

Puller schaute auf die einsame Gestalt auf der Bahre. Abgesehen vom Kopf war sie von einem Laken verhüllt. Puller befand sich allein in dem Raum. Brown wartete vor der Tür, um ihm ein wenig Privatsphäre zu geben.

Die Gesichtszüge der Toten waren aus naheliegenden Gründen sehr bleich, aber sie war mühelos als Tante Betsy zu erkennen. Puller hatte ihren Tod nicht bezweifelt, aber zumindest hatte er jetzt die Bestätigung.

Man hatte ihr Haar gebürstet; es lag flach am Kopf an. Puller streckte die Hand aus und berührte die weißen Strähnen. Sie fühlten sich rau an. Er nahm die Hand zurück. Er hatte viele Leichen in den verschiedensten Stadien der Verwesung gesehen; viele hatten sich in einem schlimmeren Zustand befunden als seine Tante. Aber Betsy hatte zur Familie gehört. Puller hatte auf den Knien dieser Frau gesessen, hatte sich ihre Geschichten angehört, ihr Essen gegessen. Sie hatte ihm geholfen, das Alphabet zu lernen und die Liebe zu Büchern zu entwickeln; sie hatte ihn in ihrem Haus spielen und Krach machen lassen, wann immer er wollte. Aber sie hatte ihm auch Disziplin, Zielstrebigkeit und Loyalität eingeimpft.

Pullers alter Herr hatte sich drei Generalssterne verdient, aber seiner älteren Schwester hätten sie ebenfalls zugestanden, fand Puller.

Er schätzte ihre Größe. Ungefähr eins fünfundsiebzig. Sie war Puller wie eine Riesin erschienen, als er ein Junge gewesen war. Vermutlich hatte das Alter sie genauso schrumpfen lassen wie ihren Bruder. Puller hatte seine Tante lange nicht gesehen, hatte es aber nie allzu sehr bedauert, da andere Dinge seine Zeit in Anspruch nahmen. Kriege führen, zum Beispiel. Und Mörder jagen.

Aber jetzt bedauerte er, die Verbindung zu dieser Frau, die ihm in der Jugend so viel bedeutet hatte, verloren zu haben. Nun war es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen.

Würde sie auch hier liegen, wenn er die Verbindung aufrechterhalten hätte? Vielleicht hätte sie sich früher an ihn gewandt, hätte ihn direkt an ihren Sorgen teilhaben lassen.

Die Schuldkarte kannst du nur bis zu einem gewissen Grad spielen, John. Du hättest sie nicht retten können, egal, wie sehr du es gewollt hättest. Aber vielleicht kannst du sie rächen, falls sie ermordet wurde. Nein, nicht vielleicht – du wirst sie rächen.

Puller untersuchte sie auf professionellere Weise. Dazu gehörte ein gründliches Abtasten des Kopfes. Er brauchte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Eine Abschürfung oberhalb des rechten Ohrs, eigentlich ein Bluterguss. Das Haar verdeckte ihn, doch als Puller es zur Seite schob, war er deutlich zu sehen.

Bei der Autopsie hatte man ihre Kopfhaut aufgeschnitten und die Gesichtshaut nach unten gezogen, um das Gehirn freilegen zu können. Puller sah es an den Nähten am Hinterkopf. Er wusste auch, dass man ihren Schädel mit einer Stryker-Säge geöffnet hatte, damit man das Gehirn herausnehmen, untersuchen und wiegen konnte. Ein Y-Schnitt hatte ihre Brust geöffnet. Ein paar der Nähte waren zu sehen. Alle wichtigen Organe hatten die gleiche Aufmerksamkeit erfahren.

Puller konzentrierte sich wieder auf die Abschürfung. Möglicherweise hatte jemand das Trauma durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand verursacht. Es konnte aber auch von einem Sturz herrühren, bei dem Betsy sich den Kopf an der Steinumfassung des Brunnens angeschlagen hatte. Ein kleiner Schnitt war zu sehen, aber Puller bezweifelte, dass er stark geblutet hatte. Die Wunde befand sich nicht in der Nähe der Kopfhaut, die wie ein Superhighway aus kleinen Adern war und schon bei einem winzigen Schnitt höllisch blutete. Auf einem der Steine in Betsys Garten hatte er einen Fleck gesehen, möglicherweise Blut. Aber falls Blut ins Wasser gelangt war, hätte es sich schnell aufgelöst.

Die Gerichtsmedizinerin musste zu dem Schluss gekommen sein, dass die Abschürfung durch den Sturz und den Zusammenprall mit dem Stein verursacht worden war. Ein Trauma, hervorgerufen durch gewaltsame Anwendung eines stumpfen Gegenstands, vor allem am Kopf, führte fast immer zu der Schlussfolgerung, dass ein Mord vorlag, doch offensichtlich war man bei Tante Betsy nicht zu diesem Ergebnis gekommen.

Warum nicht?, stellte Puller sich die naheliegende Frage.

Polizeichef Bullock hatte gesagt, die offizielle Todesursache sei Asphyxie. Das konnte viele Ursachen haben, ob nun Krankheiten wie ein Emphysem oder eine Lungenentzündung oder ein Unfall wie Ertrinken. Ging es jedoch um einen Straftatbestand, konnte Tod durch Asphyxie nur auf dreierlei Weise verursacht werden.

Erstens Strangulation, zweitens Ertrinken, durch eine andere Person verursacht, drittens Ersticken.

Puller untersuchte den Hals nach möglichen Ligaturmalen. Aber die Haut war unversehrt. Es gab auch keine venösen Schwellungen – vergrößerte Adern, die sich durch Druck und Einschnüren der Blutgefäße am Ort der Verletzung bildeten. Quetschte man etwas, schwoll es an.

Es gab noch andere Hinweise auf Strangulation, aber die konnte Puller nicht überprüfen. Ein vergrößertes Herz beispielsweise, insbesondere der rechte Ventrikel. Puller untersuchte die Lippen der Toten auf Zyanose, eine blaue Verfärbung der Lippen, die bei einer Strangulation zu beobachten war. Aber davon war nichts zu sehen.

Er schlug das Laken zur Seite und überprüfte Betsys Hände. Die Fingerspitzen wiesen keine Anzeichen für Zyanose auf. Auch Abwehrverletzungen gab es nicht – keinerlei Hinweise darauf, dass Betsy sich gewehrt hatte, falls sie angegriffen worden war. Aber dazu dürfte sie auch keine Gelegenheit gehabt haben, falls man sie schnell gelähmt hatte.

Als Nächstes untersuchte er ihre Augen und das umliegende Gewebe nach petechialen Blutungen, stecknadelkopfgroßen roten Flecken, verursacht vom Druck auf die Blutgefäße. Er fand keine.

Also schieden Ersticken und Strangulation vermutlich aus. Damit blieb nur Ertrinken, was die Gerichtsmedizinerin ja auch als Todesursache angegeben hatte.

Aber war es ein Unfall gewesen, oder hatte jemand nachgeholfen?

Beim Ertrinken gab es verschiedene Stadien, von denen jedes forensische Spuren hinterließ. Geriet eine Person im Wasser in Schwierigkeiten, verfiel sie typischerweise in Panik und bewegte sich wild und unkontrolliert, wobei sie kostbare Energie verschwendete und der Körper an Auftrieb verlor. Dies führte dazu, dass die Person unterging – mit der Folge, dass sie noch mehr Wasser schluckte, was wiederum die Panik steigerte. Die Person hielt den Atem an, bis sie schließlich Luft holen musste und noch mehr Wasser einatmete, woraufhin rosafarbener Schaum ausgeatmet wurde. Schließlich trat der Atemstillstand ein, und dann kam der letzte Kampf, ein paar schnelle Atemzüge auf der Suche nach Luft. Dann war es vorbei.

Ist es so abgelaufen, Tante Betsy?, dachte Puller.

Falls sie sich den Kopf angeschlagen und das Bewusstsein verloren hatte, bevor sie im Wasser gelandet war, hätte sie keine Panik verspürt. Wäre sie aber bei Bewusstsein gewesen und hätte lediglich den Kopf nicht aus dem Wasser heben können, weil sie zu schwach oder zu desorientiert gewesen war oder weil ihr jemand den Kopf unter die Oberfläche gedrückt hatte, wäre es eine schreckliche Todesart gewesen.

Wie Waterboarding, nur dass am Ende der Tod stand.

Puller blickte zur Tür, hinter der Brown wartete. Er wollte den Körper seiner Tante einer genauen Untersuchung unterziehen, aber falls Brown hereinkam und ihn dabei überraschte, wie er den nackten Körper der Frau abtastete, würden die Dinge vielleicht ein bisschen außer Kontrolle geraten, und er fand sich in einer Gefängniszelle wieder, aller möglichen Perversitäten angeklagt.

Puller beschloss, stillschweigend davon auszugehen, dass seine sechsundachtzigjährige Tante nicht vergewaltigt worden war. Dennoch schob er das Laken ein Stück weiter zur Seite und untersuchte flüchtig Arme und Beine. Am Ansatz ihrer rechten Wade fand er einen weiteren Bluterguss, der möglicherweise vom Sturz herrührte. Falls dem so war, stützte es die Unfalltheorie.

Puller zog das Laken wieder zurück und betrachtete die Tote.

Dann holte er das Handy hervor und machte aus verschiedenen Winkeln Fotos von dem bedeckten Körper. Das entsprach nicht gerade dem Standard des Tatortprotokolls, aber er musste mit dem arbeiten, was er hatte.

Mehr konnte Puller hier nicht erfahren.

Aber er vermochte den Blick nicht von seiner Tante zu lösen, als er das Handy schließlich wegsteckte. Er konnte sie einfach noch nicht zurücklassen.

Es war seit Langem eine unverrückbare Familienregel, dass Pullers unter keinen Umständen weinten. Puller hatte sich bei den Kämpfen im Nahen Osten immer strikt daran gehalten, obwohl er genug Gelegenheit gehabt hatte, wegen Dutzender gestorbener Kameraden zu weinen. Nur einmal, in West Virginia, hatte er gegen diese Kardinalregel verstoßen, als er jemanden hatte sterben sehen, der ihm ans Herz gewachsen war.

Vielleicht war es ein Zeichen von Schwäche. Oder es war ein Zeichen, dass er menschlicher wurde, nicht mehr wie eine Maschine funktionierte.

Im Augenblick vermochte Puller nicht zu sagen, was von beidem zutraf.

Als er weiter auf Betsys sterbliche Überreste blickte, fühlte er, wie seine Augen feucht wurden, doch er wehrte sich dagegen. Später würde noch Zeit zum Trauern sein. Jetzt musste er erst einmal herausfinden, was genau mit seiner Tante passiert war.

Betsys Brief hatte Puller davon überzeugt, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war. Bis er schlüssige Beweise hatte, die etwas anderes besagten, blieb es für ihn dabei: Seine Tante war ermordet worden.

Er ließ die Toten zurück und wandte sich wieder den Lebenden zu.

Aber er würde Betsy nicht vergessen.

Und er würde sie im Tod nicht im Stich lassen, wie er es im Leben getan hatte.

 

Am Limit
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