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In der Nacht waren weitere achtzig Einheiten geliefert worden.
Wie ein Uhrwerk.
Vier Boote voll.
Sie sahen genauso aus wie die letzte Lieferung.
Erschöpft. Resigniert. Ohne Hoffnung.
Heute Nacht beobachtete Mecho von einem anderen Standort. Er zog es vor, keine festen Verhaltensmuster zu entwickeln. So etwas konnte einen umbringen. Er hatte keinen Grund zu der Annahme, dass jemand seine Anwesenheit vermutete. Aber möglich war es trotzdem, denn er ging davon aus, dass das Leben dieser Männer vom Misstrauen beherrscht wurde.
Genau wie seins.
Nach der Explosion in Lamperts Haus würden sie noch vorsichtiger sein. Es mochte verlockend gewesen sein, die heutige Lieferung abzusagen, aber die Gier nach Geld war anscheinend zu groß. Und vermutlich war das Boot bereits unterwegs gewesen, als der Bentley in die Luft geflogen war.
Also ging die Show weiter.
Diese Leute trugen die farbcodierte Kleidung der vorherigen Gruppe. Mecho kam zu dem Schluss, dass es heute Nacht vor allem Drogenmulis und Prostituierte waren, die bei Weitem profitabelste Gruppe. Die einfachen Arbeiter, die in schmucken Vorstädten im Süden stumm Gras mähten oder im Mittleren Westen genauso stumm Kisten in Lagerhäuser schleppten, brachten das wenigste Geld ein.
Trotzdem war die Gewinnspanne ausgezeichnet, nur eben nicht vergleichbar mit dem Geldstrom der Drogen und Huren.
Das vierte Festrumpfschlauchboot kehrte zum Mutterschiff zurück.
Mecho wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Lastwagen zu, in den man die achtzig Menschen gesperrt hatte. Die Ladetür wurde geschlossen und verriegelt. Natürlich war der Laderaum schalldicht isoliert. Schreie würde man nicht hören können, doch Mecho ging davon aus, dass die Gefangenen ohnehin zu verängstigt waren, um einen Laut von sich zu geben.
Er eilte zu seinem Motorroller. Als der Lastwagen losfuhr, begleitet von den beiden SUV, folgte Mecho ihnen im Abstand von mehreren Hundert Metern, ohne befürchten zu müssen, die Fahrzeuge aus den Augen zu verlieren. Als die erste menschliche Ladung am Strand eingetroffen war, hatte er einen Sender unter dem Lastwagen angebracht. Die Wächter hatten den Fehler gemacht, die Fahrzeuge zu verlassen, um näher an den Strand zu gelangen. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, dass es ein Problem sein könnte, ihre hintere Flanke zu entblößen.
Doch es war ein Problem. Sogar ein großes.
Aber des einen Problem war des anderen Gelegenheit.
Sie fuhren vier Meilen nach Osten. Ihre Route führte weg vom Golf. Das Ziel war keine Überraschung: ein Lagerhaus in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet, weit von den Touristenfallen, den makellos weißen Stränden und dem smaragdgrünen Wasser entfernt.
Diese Gegend hatte das Aussehen und den Gestank der brutalen Wirklichkeit. Eine Welt, in der Menschen für einen beschissenen Lohn eine beschissene Arbeit verrichteten und sich fragten, wann sie endlich ihr Glück machten.
Mecho verstand das sehr gut. Er hatte sich das Gleiche gefragt. Weit weg von hier. Ein ganzes Universum weit weg.
Wo bleibt mein verdammtes Glück?
Vielleicht ist dieses Glück ein Schlauchboot mit menschlichem Vieh.
Nachdem der Lastwagen ins Lagerhaus gefahren war, ratterte das Tor nach unten. Ein SUV war dem Lastwagen gefolgt, während der andere draußen stehen blieb.
Mecho konnte sich denken, was in dem Lagerhaus geschah.
In gewisser Weise war es wie beim Zoll, zugleich aber auch das Gegenteil. Die Leute aus dem Lastwagen bekamen andere Kleidung und Dokumente, außerdem etwas zu essen und zu trinken. Und man teilte ihnen Dinge mit, die sie noch mehr verängstigen und demütigen würden. Zum Beispiel: »Du wirst genau das tun, was wir dir sagen. Tust du es nicht, stirbst nicht nur du, sondern deine ganze Familie in dem Kaff, aus dem wir dich geholt haben …«
Man würde ihnen Anweisungen erteilen. Sie würden eine Zeit lang schlafen können. Die zukünftigen Prostituierten würden die besten Ruheplätze und Rationen bekommen, denn ihr Aussehen und ihre Gesundheit waren wichtig, jedenfalls im Augenblick. Später würde sich das ändern, und dann würde man die jungen Frauen eiskalt ausrangieren. Bis dahin waren die meisten von ihnen so hoffnungslos von Drogen abhängig, dass sie keine Chance mehr hatten, jemals wieder clean zu werden. Sie würden sich irgendwo verkriechen und einsam und allein verrecken.
Auch die Drogenmulis bekamen etwas, um ihre Eingeweide darauf vorzubereiten, mehr Drogenpäckchen aufzunehmen, als sie sich je hätten vorstellen können. Bei zehn Prozent von ihnen würden diese Päckchen platzen, während sie sich noch in ihren Körpern befanden. Jeder dieser Mulis würde daran sterben. Heroin oder Kokain, das in so gewaltigen Mengen in den Blutkreislauf gelangt, kann kein Körper verarbeiten.
Gut für die Menschheit, schlecht für die zehn Prozent Mulis.
In der Industrie nennt man diese zehn Prozent »akzeptable Geschäftskosten«. Und genau wie Kreditkartenunternehmen, die ihre Zinsen erhöhten, um die Verluste durch Hacker und Versager auszugleichen, erhöhten die Menschenhändler ihren Viehbestand, um die Verluste zu kompensieren.
Unternehmen reichten die Kosten jedes Mal weiter, ob sie nun Milchprodukte oder Menschen verkauften.
Wieder konnte Mecho nichts tun, um den achtzig Leuten im Lagerhaus zu helfen. Aber deshalb war er auch nicht hier.
Er saß direkt neben dem Eingang an einem Zaun, der den Gewerbepark umschloss, auf seinem Motorroller und wartete.
Er zog ein Foto aus der Tasche. Obwohl es dunkel war und er den Scheinwerfer des Motorrollers ausgeschaltet hatte, bevor er sich den Lagerhäusern genähert hatte, konnte er vor seinem geistigen Auge die junge Frau auf dem Foto sehen.
Sie hatte große Ähnlichkeit mit Mecho. Dafür gab es einen Grund.
Familie war nun mal Familie.
Sie hieß Rada. In seiner Sprache bedeutete das »Fröhlichkeit«.
Davon hatte sie einst im Übermaß besessen.
Aber das war vorbei. Mecho wusste es, ohne es mit Sicherheit zu wissen.
Manchmal wünschte er sich, Rada wäre tot.
Denn am Leben zu sein und zu tun, was sie tat, musste schlimmer sein als der Tod.
Wenn ich nur wüsste, wo sie ist.
Deshalb war er hergekommen.
Um einen Hinweis zu finden.
Aber das war nicht alles.
In seiner Jackentasche steckten noch andere Bilder. Alles Frauen. Alle jung.
Diese Frauen waren nicht mit ihm verwandt, aber das spielte keine Rolle. Es gab eine andere Verbindung. Eine starke Verbindung. Das reichte ihm.
Mecho hatte nicht die leiseste Ahnung, in welchem Teil der Welt sich die Frauen befanden.
Und es war eine große Welt.
Er brauchte Hilfe.
Heute Nacht würde er versuchen, sich Hilfe zu besorgen.
Eine Stunde verstrich, dann öffnete sich das Tor. Der SUV kam heraus, und das Tor schloss sich wieder.
Der zweite SUV blieb stehen, wo er war, während sich der erste Wagen dem Tor des Gewerbeparks näherte. Es öffnete sich automatisch, und der Wagen jagte hindurch.
Mecho wusste, dass in dem SUV vier Männer saßen.
Als er seinen Motorroller anließ, um ihnen zu folgen, war es ihm egal, welcher der vier Männer ihm helfen würde.
Einer würde ihm helfen. Er würde sie sich vornehmen, bis er den Richtigen gefunden hatte. Für Mecho waren sie keine Menschen. Genauso wenig, wie die Fracht im Lastwagen für sie Menschen waren.
Diese Männer existierten nur noch, um von Mecho für seine Ziele benutzt zu werden. Auf welche Weise, entschied er allein.
In gewisser Hinsicht war auch er Geschäftsmann.
Nur dass sein Profit nicht in Geld gezählt wurde.
Er wurde in Gerechtigkeit gezählt.
Er wurde in Vergeltung berechnet.
In Mechos Fall war beides dasselbe.