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Puller löste sich aus der Deckung des Baumes und sah sich mit seinem Nachtsichtgerät um. Den Überwachungsplatz hatte er mit der gleichen Sorgfalt ausgewählt wie auf einem Schlachtfeld. Er verschaffte ihm maximale Übersicht und setzte ihn minimal neugierigen Blicken aus.

Carson trank einen Schluck aus einer Flasche Wasser und schaute ihm zu. Es war heiß und schwül, und der Schwefelgestank war übelkeiterregend.

Außerdem war es zwei Uhr morgens, und sie waren seit drei Stunden hier.

»Irgendwas zu sehen?«, fragte Carson leise.

Puller schüttelte den Kopf, ohne dabei die Beobachtung einzustellen.

»Wie lange warten wir noch?«

»So lange wir müssen, General. Bei solchen Dingen gibt es keinen Zeitplan.«

»Also die ganze Nacht?«

»Beim ersten Tageslicht gehen wir. Selbst an einem Ort wie dem hier werden sie am Tag nichts unternehmen.«

»Was glaubst du, worum geht es?«

Puller zuckte mit den Schultern, lehnte sich wieder an den Baum, blieb aber angespannt und bereit, sofort zu reagieren. »Drogen. Waffen. Die Kolumbianer haben die Drogenpipeline an die Mexikaner verloren. Aber im Golf wimmelt es noch immer von Schmugglern.«

»Dann könnte es heute Nacht brenzlig werden. Möglicherweise haben wir nicht genug Feuerkraft.«

»Bei diesem Einsatz geht es nur um das Sammeln von Informationen, nicht um Konfrontation. Wir melden unsere Erkenntnisse den zuständigen Behörden.«

»Was die Konfrontation angeht, könnten wir keine Wahl haben, falls man uns entdeckt.«

»Das Risiko hat man auf jedem Schlachtfeld.«

»Und dann noch auf amerikanischem Boden. Das hat man uns nicht beigebracht, als es um Strategie und Taktik ging.«

»Ja. Es wäre besser gewesen.«

»Stimmt. Ich werde mit den zuständigen Leuten darüber reden. Falls ich es überlebe, mit dir herumzuhängen.« Sie schwiegen, bis Carson fragte: »Beschäftigt dich sonst noch etwas?«

Puller beschäftigte tatsächlich noch etwas. Er hatte die Ermittlungen deshalb weitergeführt, weil er vor Masons Versteck auf die Uhr geblickt hatte. Und alles, das er herausfinden konnte, hatte seinen Verdacht verstärkt. Das betrübte ihn nicht, es machte ihn wütend. Aber er würde diesen Zorn in produktive Kanäle leiten. Er freute sich sogar auf die Gelegenheit.

»Nichts Konkretes«, sagte er.

Carson wollte etwas erwidern, aber Puller hob die Hand. »Bleib unten«, zischte er.

Wenige Sekunden später hörte Carson, was Pullers schärfere Sinne bereits registriert hatten.

Der Lastwagen kam über die von den Bäumen verdeckte, unbefestigte Straße. Er bog ab, fuhr langsam in Richtung Strand und hielt auf dem kleinen Parkplatz. Der Fahrer stellte den Motor ab. Mehrere Männer stiegen aus, während Puller und Carson sich auf ihrem Beobachtungsposten so klein wie möglich machten.

Puller hob einen Finger und bedeutete Carson, dass sie sich von nun an nur mit Zeichen verständigen würden. Sie nickte.

Im Sand liegend verstärkte Puller die Leistung seines Nachtsichtgeräts und richtete es auf den Lastwagen, der sich ungefähr hundert Meter von ihrer Position entfernt befand.

Zuerst glaubte er, dass sich ein anderes Fahrzeug mit dem Lkw treffen würde, aber das machte keinen Sinn. Zwei Lastwagen an einem heimlichen Treffpunkt, das war nicht logisch. In einem Lagerhaus konnte man einen Austausch unbeobachtet vornehmen, aber nicht hier. So nahe parkte man nur aus einem einzigen Grund am Wasser: wenn man dort eine Lieferung erwartete.

Eine Minute später erwies sich Pullers Schlussfolgerung als zutreffend.

Der Bootsmotor war nicht laut, aber auf dem Wasser trugen Geräusche weit. Das Boot bewegte sich schnell. Dreißig Sekunden später erkannte Puller die Umrisse eines RIB. Es war der gleiche Typ Amphibienboot, den die Rangers benutzten.

Als das RIB sich dem Ufer näherte, konnte Puller die Menschen an Bord ausmachen. Es waren viele – zu viele für das kleine Boot.

Carson berührte seinen Arm und zeigte zum Land. Puller blickte in die gewiesene Richtung und sah, wie die Männer vom Lastwagen zum Strand liefen.

Jetzt hätte er ein Vermögen für eine Nachtsichtkamera gegeben, um zu dokumentieren, was dort gleich passieren würde. Menschen wurden vom RIB gezerrt. Puller konnte sehen, dass sie gefesselt und geknebelt waren. Außerdem trugen sie Hemden in verschiedenen Farben. Puller schob das Nachtsichtgerät hoch, um die Farben erkennen zu können: Die Hemden waren grün, rot und blau.

Er spürte einen sanften Druck am Arm und drehte sich um. Carson blickte ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Geschehen am Strand zu.

Die Leute wurden zum Lastwagen getrieben, wo zwei Männer sie bewachten.

Puller richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Strand, wo das erste RIB mittlerweile verschwunden war, während ein zweites landete. Alles, was sich gerade eben zugetragen hatte, wiederholte sich bei der zweiten Gruppe Gefangener.

Ein drittes RIB landete am Ufer, entlud seine Passagiere und legte wieder ab.

Dann kam ein viertes RIB, und noch einmal wiederholte sich alles.

Nachdem das letzte RIB wieder auf dem Meer verschwunden war, wurde der Lkw verriegelt, und drei Männer stiegen ins Führerhaus.

»Was tun wir jetzt?«, flüsterte Carson.

Puller beschäftigte dieselbe Frage.

Was tun wir jetzt?

»Wir müssen sofort die Polizei rufen«, drängte Carson.

Puller schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ungläubig blickte sie ihn an. »Bist du verrückt? Diese Leute waren Gefangene, Puller.«

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Dann rufen wir die Cops.«

»Noch nicht.«

»Wann würde es dir denn passen?«

Puller verfolgte, wie der Lastwagen losfuhr. »Gehen wir«, sagte er.

 

Am Limit
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