32
Puller erlebte zum ersten Mal, wie Männer ohne Flugzeug flogen.
Zumindest sah es so aus.
Ihre Füße verloren den Kontakt zum Boden, als wären sie mit Klavierdraht umwickelt und jemand hätte einen Schalter umgelegt, der sie gen Himmel hob.
Im nächsten Augenblick krachten ihre Schädel aneinander. Es hörte sich an, als würden zwei Melonen zusammenprallen. Puller konnte verfolgen, wie sich der brutale Zusammenstoß auf den Gesichtern der Männer spiegelte. Die Augen zuckten, rollten zurück und schlossen sich. Die Münder öffneten sich weit, stießen Schmerzensschreie aus und schlossen sich ebenfalls, klappten dann aber wieder auf, während die Körper zu einer toten, schlaffen Last wurden und auf den Boden krachten. Sie schlugen hart auf. Die Pistolen schlitterten durchs Zimmer. Blut strömte aus den offenen Mündern, wo die Zähne tief in die Zungen gebissen hatten.
Hinter den beiden kleinen Männern stand der Hüne, der beeindruckende Mann, den Puller bereits zweimal gesehen hatte.
Anscheinend hatte die Nachhut etwas Unverzeihliches getan: Sie hatte das Zimmer des Riesen ohne dessen Erlaubnis als Falle benutzt. Das war der einzige Grund, der Puller einfiel, warum der Mann getan hatte, was er getan hatte.
Er richtete sich auf, starrte den Hünen an. Die M11 lag schwer in seiner Hand. Der riesige Mann war unbewaffnet, wirkte aber trotzdem bedrohlich, wenn nicht tödlich, und vollkommen furchtlos, wie er da stand und Pullers Blick erwiderte.
»Danke«, sagte Puller.
Der Hüne schwieg. Er warf einen Blick auf Pullers Handfeuerwaffe, als wollte er abschätzen, ob sie eine Bedrohung war, um die man sich sofort kümmern musste. Dann stellte er einen gigantischen Stiefel auf den Oberkörper des ersten Mannes und schob. Der Bewusstlose rutschte in Pullers Zimmer. Einen Augenblick später schickte ein weiterer Stoß seinen Komplizen hinterher.
Der Hüne sah Puller an.
Puller sah den Hünen an.
»Ich werde versuchen, in Zukunft leiser zu sein«, sagte Puller.
Er glaubte, die Andeutung eines Lächelns zu sehen, bevor der Mann die Tür zu seinem Zimmer schloss. Augenblicke später hörte er protestierend quietschende Bettfedern. Anscheinend legte sich der Riese nach diesem unbedeutenden Zwischenfall schlafen.
Puller steckte die Waffe weg, zog sie aber sofort wieder, fand sein Ziel und war bereit abzudrücken.
»Ich bin’s! Ich bin’s!«
Cheryl Landry hielt ihre Pistole demonstrativ in die Höhe.
Puller senkte die M11 und schob die Nachtsichtbrille auf die Stirn.
»Tut mir leid.«
Landry betrachtete den menschlichen Abschaum, der im Zimmer verteilt lag.
»Mein Gott, Puller. Was haben Sie hier für ein Gemetzel angerichtet, verdammt? Draußen im Flur liegen noch drei.«
»Ich nehme sie, wie sie kommen.« Er steckte die Waffe weg.
»Es war klug von Ihnen, mich anzurufen. Tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig geschafft habe.«
»Ich hätte warten können, aber das hier war meine Sache. Sie hätten nichts tun können.«
»Trotzdem«, erwiderte Landry. »Warum haben Sie nicht gewartet, bis ich da war?«
»Das war mein Kampf. Unnötig, Sie darin zu verwickeln. Vom Aufräumen mal abgesehen.«
»Soll ich das so übersetzen, dass Sie der Ansicht sind, ich wäre für so etwas nicht zu gebrauchen?«
»Sie sind Cop, Landry. Hätten wir diese Clowns zusammen bekämpft, müssten Sie den Rest Ihres Lebens Formulare ausfüllen, um den Grund dafür zu erklären. Und Ihre Karriere wäre trotzdem im Eimer. Im Übrigen hätte ich kein Problem damit, wenn Sie mir den Rücken decken. Glauben Sie mir, das sage ich nicht einfach so dahin.«
Seine Worte schienen sie zugleich wütend zu machen und zu beschwichtigen. Sie schob die Waffe ins Gürtelhalfter. Sie war nicht in Uniform, sondern trug Jeans, Tennisschuhe mit schwarzen Sohlen und einen grauen Hoodie mit schwarzem T-Shirt darunter.
Puller beobachtete, wie sie stumm zählte.
Fünf hier, drei im Korridor, interpretierte er.
Ungläubig blickte sie ihn an.
»Sie haben ganz allein acht Kerle ausgeschaltet?« Ihr Blick fiel auf die Pistolen, Baseballschläger und Eisenstangen. »Und die Typen waren bewaffnet?«
Eine Millisekunde lang lauschte Puller dem Schnarchen, das aus dem Nebenzimmer drang. Der Hüne war schnell eingeschlafen. Aber irgendetwas sagte ihm, dass der Mann binnen weniger Sekunden aufwachen und jeden Angreifer umbringen konnte. Er kam zu dem Schluss, dass es viel zu kompliziert sein würde, den Riesen in die Diskussion mit Landry einzubeziehen.
»Es waren acht dumme Kerle«, sagte er. »Die Bewaffnung hat nichts damit zu tun. Was nutzen einem die schönsten Brechstangen und Totschläger, wenn man nicht damit umgehen kann.«
»Aber Sie sprachen nur von drei Typen, die zuvor das Mädchen angegriffen haben.«
Puller nickte und zeigte auf den Weißen, den Schwarzen und den Latino. »Die drei Komiker da. Das Mädchen ist zu verängstigt, um Anzeige zu erstatten. Ich übernehme das gerne. Die waren nicht hier, um mich willkommen zu heißen. Das war versuchter Mord.« Er hielt inne. »Und ich bezweifle, dass sie einen Waffenschein haben. Kennen Sie einen von denen?«
Landry zog eine kleine, aber starke Taschenlampe aus der Hoodietasche und leuchtete jeden der dort liegenden Männer an.
Sie nickte. »Ja, die beiden hier.« Sie zeigte auf den Schwarzen und den Weißen. »Soviel ich weiß, gehören sie keiner Gang an. Aber sie sind aktenkundig.«
»Ich habe gehört, dass keine Gang sie will, weil sie zu dämlich sind.«
»Wo haben Sie das denn her?«
»Eine vertrauliche Quelle.«
»Sie sind nicht mal zwölf Stunden hier. Woher haben Sie so schnell vertrauliche Quellen?«
»So was erarbeitet man sich.«
»Ich rufe einen Wagen, damit man sie abtransportiert.«
»Okay.«
»Das Protokoll muss noch aufgenommen werden.«
»Ja, jede Wette.«
»Aber das kann bis morgen warten.«
»Fein.«
»Können Sie anderswo übernachten?«
Puller dachte darüber nach. Das Haus seiner Tante war eine Möglichkeit. Aber im Augenblick betrachtete er es als einen Tatort, an dem noch nicht sämtliche Spuren gesichert waren. Selbst wenn er dort nur eine Nacht verbrachte, konnte das wichtige Beweise vernichten. Deshalb konnte er sich nicht dazu überwinden, obwohl es bequem für ihn gewesen wäre.
»Ich schlafe in meinem Wagen.«
»Die Corvette?«
»Nein. Ein SUV. Ich hielt die Corvette für zu auffällig.«
»Da haben Sie recht.«
»Also werde ich im Auto schlafen.«
»Auf der Straße?«
»Wieso? Sorgen Sie da nicht auch für Sicherheit?«
»Puller, Sie haben gerade acht Kerlen aus Paradise die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Ich bin sicher, die Typen haben Freunde und Familie, die gern Vergeltung üben wollen. Sie werden nach Ihnen suchen, ob Sie nun im Auto oder einem anderen billigen Motel unterkommen.«
»Nun ja, ich könnte mir eine Decke besorgen und mich an den Strand legen …«
»Sie verstehen nicht, worauf ich hinauswill. Diese Leute könnten Sie umbringen.«
»Haben Sie einen Vorschlag? Mir fällt gerade nichts ein.«
Landry sah unsicher aus, dann unbehaglich. Diese Veränderung erregte Pullers Interesse. Er fragte sich, was sie sagen wollte.
»Sie können bei mir bleiben. Natürlich nur heute Nacht«, fügte sie schnell hinzu.
»Wohnen Sie in Paradise?«
»Direkt nebenan, in Destin.«
»Wollen Sie nicht in Paradise wohnen?«
»In Destin gefällt mir die Aussicht besser. Außerdem ist es nur eine Viertelstunde entfernt. Aber das ist eine sehr wichtige Viertelstunde, jedenfalls für Sie. Ich bezweifle, dass die Freunde und Familien Sie dort finden.«
»Sie müssen mich nicht aufnehmen.«
»Ich weiß. Ich hätte es Ihnen auch nicht angeboten, wenn ich es nicht wollte.«
»Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Mein Bruder ist in der Army, wie ich Ihnen bereits sagte. Er hat Sie in meinem Auftrag überprüft. Er sagte mir, es gäbe keinen Unteroffizier mit einer besseren Dienstakte. Der einzige Minuspunkt ist, dass Sie nicht nach West Point gegangen sind. Und Ihr Vater, sagte er mir, war eine Mischung aus George Patton und Norman Schwarzkopf.«
»Da würde ich nicht widersprechen. Obwohl er vermutlich eher nach Patton schlägt, wenn man danach geht, wie er sich an einem Krankenbett benimmt.«
»Also bleiben Sie bei mir?«
»Okay, aber nur diese Nacht.«
»Nur diese Nacht«, wiederholte sie, zückte ihr Handy und rief Polizei und Krankenwagen für acht Männer, denen man die Scheiße aus dem Leib geprügelt hatte.
Nachdem sie das Handy weggesteckt hatte, sagte sie: »Bullock wird wegen dieser Sache mit Ihnen sprechen wollen.«
»Darauf wette ich. Übrigens bin ich ihm gestern Abend begegnet.«
»Hat er Ihnen den Kopf abgerissen?«
»Ich glaube, wir sind zu einer Übereinkunft gelangt.«
»Gut. Aber ich würde mich nicht darauf verlassen, dass die Übereinkunft nach diesem Blutbad hier noch gilt.«
»Kann schon sein.«
»Irgendwie haben Sie einen neuen Rekord für schwere Körperverletzung in Paradise aufgestellt.«
»Tatsache?«
»Bleiben Sie noch lange?«
»Ich wünschte, ich könnte es Ihnen genau sagen, aber das kann ich nicht.«
»Ihre Tante?«
»Meine Tante.«
»Sie können einfach nicht aufhören, Puller, was?«
»Nein. Warum sollte ich?«