35
Cheryl Landry regte sich um sechs Uhr morgens.
Um zehn nach sechs trug sie Strandshorts und ein Bikinitop, über das sie ein kurzärmeliges T-Shirt gezogen hatte. Mit Flipflops an den Füßen und einem großen Strandtuch unter dem Arm öffnete sie die Tür ihres Schlafzimmers und sah Puller an dem kleinen runden Küchentisch sitzen, wo er eine Tasse Kaffee trank und die Morgenzeitung las. Er trug Trainingsklamotten: schwarze Shorts, armygrünes T-Shirt und Turnschuhe.
Er schaute auf, bemerkte ihren erstaunten Blick und hielt die Tasse hoch.
»Möchten Sie einen Kaffee, bevor Sie ins Wasser gehen?«
»Nein, danke.« Sie ging zum Balkon und holte ihr Paddelbrett.
»Ich denke darüber nach, auf Kräutertee umzusteigen«, sagte Puller, als sie wieder hereinkam.
»Ernsthaft?«
»Koffein stört die Treffsicherheit. Das wäre Grund genug für das Militär, Kaffee zu verbieten, aber so weit wird es nie kommen. Es ist zu tief eingegraben in die Psyche des Verteidigungsministeriums.« Er hob die Zeitung. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Sie lag vor der Wohnungstür.«
»Kein Problem. Ich bekomme die Zeitung nur, weil sie kostenlos ist. Größtenteils lese ich die Nachrichten online.«
Puller warf einen Blick auf die erste Seite, die von einem Foto der verstorbenen Mr. und Mrs. Storrow beherrscht wurde.
»Der Storrow-Mord ist das große Thema.«
Sie nickte. »Ich könnte mir vorstellen, dass einige Leute in den Nachbarstädten die Sache aufblasen, um Paradise Touristen wegzunehmen.«
»Ist das Geschäft hier so hart?«
»Wenn es um die Touristendollars geht, schon.«
Puller stand auf, spülte die Tasse aus und stellte sie in die Spülmaschine.
»Kommen Sie mit an den Strand?«, fragte Landry.
»Ich laufe lieber – während Sie tun, was auch immer Sie da tun.« Er zeigte auf das lange rote Paddelbrett.
»Das ist ein Paddelbrett«, sagte sie und schien überrascht zu sein, dass er das nicht wusste.
»Tatsache?«
»Man steht darauf und paddelt.«
»Dachte ich’s mir«, sagte Puller.
»Die gibt es schon eine ganze Weile. Sie kommen nicht oft an den Strand, was?«
»Nein.«
»Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.«
»Oh, ich finde nicht, dass es einfach aussieht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das Ding mein Gewicht trägt.«
Auf dem Flur fragte sie: »Wie weit laufen Sie?«
»Wie lange paddeln Sie?«
»Ungefähr fünfundvierzig Minuten.«
»Dann laufe ich so lange«, sagte Puller.
»Danach trainiere ich im Fitnessraum.«
»Okay.«
»Sie auch?«
»Ich auch«, erwiderte er. »In letzter Zeit habe ich das vernachlässigt. Ich muss wieder damit anfangen.«
»Sie sehen aus, als wären Sie in Bestform.«
Er hielt ihr die Aufzugtür auf, als sie das lange Paddelbrett in die Kabine bugsierte.
»Der äußere Eindruck kann täuschen.«
Puller fand ein Stück festen Sand und joggte los. Er hatte zugesehen, wie Landry ihr T-Shirt ausgezogen hatte und mit ihrem Brett über die Wellenbrecher hinaus ins Wasser gegangen war. Sie legte sich auf das Brett und paddelte weiter hinaus, wo das Meer ruhig und flach war. Dann stieg sie auf das Brett und benutzte das Paddel abwechselnd auf jeder Seite.
Sie paddelte parallel zum Strand in dieselbe Richtung, in die Puller lief, also konnte er sie im Auge behalten. Zu dieser frühen Stunde waren noch nicht viele Leute unterwegs. Ein paar alte Männer hatten ihre Angeln in den Sand gerammt, unterhielten sich und tranken Kaffee aus Thermoskannen. Eine alte Frau ging mit gesenktem Kopf vorbei und schwang dabei die Arme in elliptischen Bewegungen. Für Puller sah es aus, als machte sie irgendeine physiotherapeutische Übung. Vielleicht waren bei ihr beide Schultersehnen gerissen.
Ein Pärchen joggte vorbei, begleitet von einem irischen Setter. Seemöwen stiegen in den Himmel und tauchten auf der Suche nach Frühstück in die grünen Wellen.
Puller warf einen Blick auf die Uhr, machte kehrt und lief in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Er sah, dass auch Landry umdrehte.
Nach fünfundzwanzig Minuten Laufen fühlte Puller sich gut aufgewärmt. Seine Lunge arbeitete auf Hochtouren, seine Beine fühlten sich lebendig an, seine Arme kraftvoll. Um Army Ranger zu werden, war er buchstäblich Tausende Meilen gelaufen. Bei den Special Forces ging es hauptsächlich um die Ausbildung an der Waffe und Ausdauer. Ja, sie alle stemmten Gewichte. Und ja, sie alle waren stark wie Bären. Aber es war die Ausdauer, die den wirklichen Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutete.
Am Ende der fünfundvierzig Minuten stand Puller an der Stelle im Sand, an der er losgelaufen war, bewegte Arme und Beine und hielt seinen Puls hoch, erlaubte seinem Körper jedoch, langsam abzukühlen.
Landry kam ans Ufer gepaddelt, erreichte die Wellen, stand auf und kämpfte sich zum Strand durch. Sie nahm T-Shirt und Handtuch aus dem Sand und ging mit ihrem Brett zu Puller.
»Ich muss mich rasch umziehen«, sagte sie. »Wie war der Lauf?«
»Wie immer. Sind alle gleich.«
»Sie sind gar nicht außer Atem. Erstaunlich, für eine so weite Strecke.«
»So weit war die gar nicht. Wie war das Paddeln?«
»Erleuchtend.«
»Wirklich?«
»Es gibt einem Zeit zum Nachdenken. Da gibt es nur dich, das Brett und das Wasser.« Sie hielt inne und schaute auf dem Weg zur Wohnanlage zu ihm hoch. »Haben Sie beim Laufen nachgedacht?«
»Jetzt, wo Sie es erwähnen … ich glaube schon.«
»Und?«
»Ich muss noch ein bisschen länger nachdenken.«
Landry trocknete sich ab, bevor sie ins Haus ging. Gemeinsam fuhren sie im Aufzug hinauf zu ihrer Wohnung.
Sie brauchte fünf Minuten, um das Salzwasser abzuspülen und sich umzuziehen. Nach dem Duschen trug sie eine schwarze Trägerhose, die über dem Knie endete, ein enges T-Shirt mit einem Sport-BH darunter und Turnschuhe mit Sportsocken. Ihr feuchtes Haar war mit einem grünen Haargummi zurückgebunden.
Der Fitnessraum der Wohnanlage war groß und effizient eingerichtet. Es gab Universal-Kraftmaschinen, Gewichte, Kniebeugenständer, Hanteln, einen Kardiobereich mit Laufbändern, Crosstrainer und einen Stair Climber. Hinzu kam eine freie Fläche, auf der anscheinend Fitnesstraining gemacht wurde.
Landry trainierte an den Universal-Maschinen, während Puller Lockerungsübungen machte, gefolgt von Klimmzügen, Liegestützen, Freiübungen und Beinübungen. Er forderte die untere Körperhälfte.
Als sie fertig waren, trockneten sie sich ab, holten sich Wasser aus einem kleinen Kühlschrank neben dem Ausgang und gingen zurück zum Aufzug.
»Sie machen viel Beintraining«, sagte Landry. »Die meisten Männer konzentrieren sich auf den Bizeps.«
»Ich hab’s nie geschafft, auf den Händen zu laufen.«
Sie lachte.
»Machen Sie das jeden Morgen?«, wollte Puller wissen.
»Wenn ich kann.«
»Dann leben Sie ewig.«
Sie lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Es sei denn, ich fange mir im Dienst eine Kugel ein.«
»Das kann immer passieren.«
»Ich nehme an, für Sie gilt das Gleiche.« Sie warf einen Blick auf seine Wade und seinen Unterarm mit den Narben, die er im Kampf davongetragen hatte. Sie zeigte darauf. »Irak? Afghanistan?«
Er nahm einen Schluck Wasser. »Beides.«
»Mein Bruder ist noch immer da drüben.«
»Dann hoffe ich, er kommt bald gesund nach Hause.«
»Das hoffe ich auch.«
»Bleibt er dann hier?«
»Wahrscheinlich nicht. Er will die volle Zeit dienen.«
»Die Army ist ein guter Arbeitgeber. Er wird bestens zurechtkommen.«
»Aber Sie sind ein bisschen voreingenommen, nicht wahr?«
»Ich bin sogar ausgesprochen voreingenommen.«
»Was haben Sie heute vor?«
»Ich schaue mich im Haus meiner Tante um und überprüfe ein paar Dinge.«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Puller, Sie wissen doch, was Chief Bullock gesagt hat.«
»Das ist alles geregelt. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich ihm gestern Abend begegnet bin. Am Haus, das meine Tante mir vermacht hat. Die Dokumente sind rechtsgültig. Außerdem hat der Anwalt mir den Schlüssel gegeben.«
Landry nahm die Hand zurück. »Oh. He, das ist großartig.« Sie hielt kurz inne. »Sie glauben wirklich, der Tod Ihrer Tante war kein Unfall?«
»Sobald ich es genau weiß, sind Sie eine der Ersten, die es erfährt.«
Sie kehrten in die Wohnung zurück, duschten und zogen sich um.
Puller machte frischen Kaffee und schenkte Landry eine Tasse ein, als sie in ihrer Uniform erschien. Sie tranken den Kaffee auf dem Balkon und schauten zu, wie die Sonne höher stieg. Unten füllte sich allmählich der Strand; einige Familien lieferten sich Wettkämpfe um die besten Plätze.
»Wollen Sie längere Zeit hierbleiben?«, fragte Puller.
»Darüber habe ich noch nicht weiter nachgedacht. Was ist mit Ihnen? Sie bleiben doch bestimmt bis zur Pensionierung bei Onkel Sam.«
»Vermutlich.«
»Und danach? Sie wären immer noch ziemlich jung.«
»Wer weiß.«
»Sie könnten Polizist werden.«
»Ja.«
Sie lächelte wieder. »Sind Sie immer so gesprächig?«
»Für meine Verhältnisse bin ich regelrecht geschwätzig.«
Sein Handy summte. Er warf einen Blick auf das Display. Es war Kristen Craig vom Kriminallabor der Army. Vielleicht konnte sie ihm sagen, wer die Männer waren, die ihn verfolgten.
Landry deutete auf das Mobiltelefon.
»Zurück an die Arbeit?« Landry sah ein wenig enttäuscht aus.
»Zurück an die Arbeit.«