3. Dezember, 23:20 Uhr
Magnus stoppte den Bv 206. Wenn er noch näher heranfuhr, konnte Sara trotz des Winds möglicherweise den Dieselmotor hören. Er würde sich zu Fuß anschleichen, in ihr Versteck eindringen und sie umbringen. Magnus war ohnehin am liebsten zu Fuß unterwegs.
Er sprang aus dem Wagen, schwang die kompakte MP5 über die Schulter und schob sich mehrere Ersatzmagazine in die Taschen. Mit der Beretta in der rechten und einer ausgeschalteten Taschenlampe in der linken Hand näherte er sich dem alten Minenschacht. Er bewegte sich vorsichtig und ruhig. Wenn Clayton die Wahrheit gesagt hatte, hatte es Magnus mit einer Pilotin der Air Force und einem kleinen alkoholkranken Wissenschaftler mit einem kaputten Knie zu tun. Das schien zu bedeuten, dass er es mit leichten Gegnern zu tun hatte, doch Magnus war nur deshalb noch am Leben, weil er schon vor langer Zeit gelernt hatte, dass es so etwas wie leichte Gegner nicht gab: Schusswaffen waren die großen Gleichmacher auf der Welt. Und Sara Purinam hatte eine Schusswaffe.
Angewehter Schnee bedeckte fast vollständig das alte Holztor am Mineneingang. Der Wind heulte zwischen den Bäumen, und auch die Mine selbst schien zu stöhnen. Clayton hatte immer behauptet, das seien die Geister der Männer, die darin gestorben waren, doch in Wahrheit war es nichts als Luft, die in einem verdeckten Ventilationsschacht zirkulierte.
Magnus näherte sich dem Tor, er versank bis zur Hüfte in unberührtem Schnee. Irgendetwas stimmte hier nicht. Nirgendwo gab es Spuren. Die Schneewehe vor dem Tor war nicht einmal ein klein wenig eingedrückt. Er versuchte abzuschätzen, wie viel Schnee in den letzten drei Tagen gefallen war. Viel, aber nicht so viel, dass der angewehte Schnee schon wieder vollkommen glatt liegen würde. Es sei denn, Clayton hätte ihn vor dem Tor aufgehäuft, während Sara und Tim bereits in der Mine waren, und der Sturm hätte die Oberfläche geglättet. Oder es gab noch einen anderen Zugang zur Mine.
Oder – und das war wahrscheinlicher — Clayton hatte gelogen.
»Du zähe alte Drecksau«, sagte Magnus leise. »Das hätte ich dir nicht zugetraut.«
Ein Geräusch im Wald, an der Südseite des Wegs. Magnus warf sich flach zu Boden, sein Körper versank im Schnee. Er schob die Beretta in das Holster und zog die MP5 vom Rücken. Ohne Deckung hob Magnus den Kopf gerade so weit, dass er über den Schnee hinwegspähen konnte. Er suchte den Wald ab, konnte in der Dunkelheit aber nichts erkennen.
Noch ein Geräusch. Ein seltsames Gurgeln, das aus der Richtung des Bv 206 kam. Sein Rückweg war abgeschnitten. Magnus duckte sich und kroch nach links auf das Tor vor dem Minenschacht zu. In der Mine war niemand, das war offensichtlich. Wenn das eine Falle war, wollte er seinen Gegnern kein leichtes Ziel bieten, indem er die Taschenlampe einschaltete.
Aber er musste wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Er packte die MP5 mit der rechten Hand, hielt sich aber weiterhin zusammengekauert. Er streckte den linken Arm aus und legte die Taschenlampe auf die Schneewand. Er richtete sie auf den fünfundzwanzig Meter entfernten Wald und schaltete sie an.
An der ersten Baumreihe, die Schneemobil-Piste säumte, funkelten dicht über dem Boden die Augen mehrerer Tiere im Strahl der Taschenlampe. Magnus schwang das Licht in einem weiten Bogen von rechts nach links, von den Bäumen zum Bv 206 und wieder zurück. Überall, wo der Strahl hinfiel, leuchteten Augen auf. Wenigstens zwei Dutzend Paare verteilten sich über fünfzig Meter.
Magnus schaltete die Taschenlampe aus. Die Kühe? Nein … diese Wesen waren in den Kühen gewesen. Sie waren es, für die schweren Käfige gebaut werden sollten. Aber das Flugzeug war doch erst vor drei Tagen notgelandet – wie konnten die Neugeborenen dann so groß sein?
Ein einzelnes Brüllen erhob sich im Wald, auf das kurz darauf Dutzende Stimmen in einem wild lärmenden Durcheinander tierischer Frage- und Antwortlaute reagierten. Im fahlen Mondlicht, das durch die Wolken drang, brachen die Kreaturen plötzlich zwischen den Bäumen hervor wie ein Trupp heranstürmender Infanteristen.
Zwanzig Meter. Und sie kamen immer näher.
Magnus sprang auf und rannte auf das halbverfallene Minentor zu. Er senkte seine Schulter und krachte mitten durch das splitternde, in alle Richtungen davonwirbelnde alte Holz. Während er weitersprintete, richtete er den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden des Minenschachts und versuchte, nicht auf der gefrorenen Erde auszurutschen.
Er war kaum zehn Meter weit gekommen, als er hörte, wie sich die Kreaturen durch die Überreste des Tores drängten. Magnus blieb stehen, wirbelte herum und richtete Taschenlampe und MP5 zurück auf den Eingangsbereich. Wenn er einhändig schoss, konnte er schlecht zielen, doch bei diesen beengten Verhältnissen spielte das keine Rolle. Er gab drei Feuerstöße zu jeweils drei Schuss ab, der Geschosslärm hallte als ohrenbetäubendes Echo von den Felswänden wider. Die erste Kreatur, die durch das Tor kam, hatte einen schwarzen Kopf und eine weiße Nasenspitze. Drei Kugeln Kaliber .40 bohrten sich durch Fell und Knochen in ihren Schädel. Unter Zuckungen und um sich tretend fiel das Ding zu Boden und versperrte mit seinem wuchtigen Körper halb den Eingang.
Der zuckende Strahl der Taschenlampe verlieh der Alptraumszenerie eine nervöse Intensität. Noch mehr schwarz-weiße Ungeheuer mit großen Köpfen, schwarzen Augen und zischenden Mäulern voller dolchartiger Zähne schoben sich durch das Tor und drängten über ihren noch immer um sich tretenden Artgenossen hinweg.
Magnus drehte sich wieder um und rannte weiter, bemüht, auf dem abschüssigen, gefrorenen Boden das Gleichgewicht zu halten. Er folgte dem Schacht, der eine scharfe Rechtskurve machte.
Und sah die Sackgasse.
Der wild auf und ab hüpfende Strahl seiner Taschenlampe zeigte ihm einen bis zur Decke reichenden Berg aus Felsbrocken und zerschmetterten Holzbalken. Magnus kletterte auf der Suche nach einem Durchgang nach oben. Zu seiner Rechten sah er seine einzige Chance – eine dunkle, niedrige Ausbuchtung, nicht größer als ein Sarg.
Ohne stehen zu bleiben um nachzudenken, schob sich Magnus in die winzige Lücke im Geröll. Er drückte die MP5 eng an seinen Körper und grub sich mit dem hinteren Ende der Taschenlampe vor wie ein tollwütiger Dachs, der unter wackligem Stroboskoplicht in einem Erdloch Deckung sucht. Er musste sich genügend Platz schaffen, damit er sich umdrehen konnte.
Tierisches Gebrüll erfüllte den Schacht und hallte dröhnend von den eingestürzten Felswänden wider. Magnus stieß ein Grunzen aus, als er sich fast wie ein Fötus zusammenrollte, um sich wieder nach vorn zu drehen, die Schulter und das Gesicht dabei gegen die Wand gedrückt, als quetsche ihn eine riesige irdene Faust zusammen. Gefrorener Sand riss ihm die Wange auf. Er ignorierte den Schmerz und kämpfte sich so weit herum, bis er mit nach vorn gestreckten Beinen auf seinem Hintern saß, wobei der enge Sarg aus Erde und Geröll ihn zwang, seinen Kopf links unten zu halten.
Ein überbreiter Kopf schob sich in den beengten Raum und füllte ihn vollständig aus. Die Kreatur riss das Maul auf, konnte es jedoch nicht ganz öffnen. Der Oberkiefer riss Erde aus der Decke, während die Unterseite des Unterkiefers Magnus’ Füße und Schienbeine flach auf den Boden drückte. Eine heiße, feuchte Atemwolke strömte aus der Kehle des Wesens. Der Strahl der zitternden Taschenlampe reichte bis weit hinab in seinen Schlund.
Waren das etwa die Mandeln?
Das Ding spürte Magnus’ Füße unter seinem Kiefer. Seine Zähne schnappten danach, es versuchte, den Kopf nach links zu drehen, damit es Magnus’ Knie und Oberschenkel erwischen konnte.
Magnus gab drei Feuerstöße ab. Neun Kugeln ließen Zähne splittern, rissen die Zunge auf und bohrten sich in das Gehirn. Aus allen Wunden spritzte Blut – auf Magnus’ Hände, seine Jacke, seine Beine und sein Gesicht, wo es sich mit dem Blut aus seinen eigenen Schürfwunden vermischte.
Die Kreatur stieß einen gurgelnden Würgelaut aus. Über ihrem halbgeschlossenen Maul waren die großen schwarzen Augen zu sehen, in denen nur noch ein verschwommener Blick stand. Schlaff glitt das Wesen aus dem Loch zurück und stürzte nach unten.
Kaum war die enge Öffnung wieder frei, sah Magnus den nächsten Streifen schwarz-weißen Fells. Er gab zwei weitere Feuerstöße ab, war aber nicht sicher, ob er etwas getroffen hatte.
Er wartete.
Keine weiteren Köpfe erschienen vor seinem winzigen Loch.
Magnus wand sich hin und her, um ein neues Magazin aus seiner Tasche zu ziehen. Er ließ es einrasten und wartete auf den nächsten Angriff. Aber es kam keiner.
Er hatte im Gefecht noch nie wirklich Angst gehabt, aber das … das war etwas vollkommen anderes. Angst war allerdings kein Grund, um aufzugeben. Wenn sie wiederkamen, würde er kämpfen.
Es gab sehr viel unrühmlichere Arten zu sterben.
Er hörte, wie anscheinend ein Kadaver über gefrorene Erde geschleift wurde, und dann Geräusche, die ihn an Wölfe erinnerten, die einen Hirsch zerrissen, wie er das von Sendungen im Discovery Channel kannte.
Den Rücken gegen das hintere Ende seiner winzigen Höhle gedrückt, richtete er die Taschenlampe nach draußen auf die gegenüberliegende Wand. Er sah nichts. Was immer auch vor sich gehen mochte, es ereignete sich ein paar Meter von seiner Stelle entfernt.
Er konnte die Kreaturen im Schacht hören, konnte hören, wie sie atmeten und gelegentlich leise wimmerten und knurrten wie große, verspielte Hunde.
Die Kreaturen warteten. Sie würden ihn aushungern.
Vom Blut seines neuen Feindes bedeckt, versuchte Magnus, sich in eine günstigere Position zu schieben und es sich bequem zu machen. So war das nun mal im Gefecht – er hatte seine plötzlichen Momente des reinen Entsetzens erlebt, doch jetzt musste er sich anscheinend auf eine Phase der Langeweile einstellen.
Falls er jemals wieder aus diesem Schlamassel herauskommen sollte, wusste er schon, wie er das feiern würde – und sein guter alter Freund Clayton Detweiler würde eine entscheidende Rolle dabei spielen.