30. November: Endspiel

Implantation + 21 Tage

 

Magnus saß vor seinem gesicherten Terminal, und seine kräftigen Finger trommelten in einem unermüdlichen Rhythmus auf den Schreibtisch – babababam, babababam, babababam. Er wartete darauf, dass Dantés Gesicht auf dem Monitor erschien. Währenddessen las er die E-Mail noch einmal.

VON: FARM GIRL

AN: BIG POPPA

BETREFF: KOMISCHE STREICHE ZU HAUSE

ICH HABE VON DEM KOMISCHEN SCHERZANRUF BEI DAD

GEHÖRT. DIESE VERRÜCKTEN SCHERZANRUFER!

ES WAR DUMM, DASS DER SCHERZBOLD SO EINEN

STREICH DURCHGEZOGEN HAT. DADS JUNGS IM BÜRO

WERDEN DEN ANRUF ZURÜCKVERFOLGEN. SIE WERDEN

MINDESTENS FÜNF, HÖCHSTENS SECHS TAGE

BRAUCHEN. ÜBRIGENS WÜRDE ICH DEN WAGEN STEHEN

LASSEN. DAD SUCHT IHN. GANZ ENERGISCH.

TTYL — FARM GIRL

Es war vorbei. Sogar Danté musste das jetzt einsehen. Sie konnten nirgendwo mehr hin. Die C-5 aus dem Hangar zu holen, war bestenfalls ein Glücksspiel, und selbst wenn sie es schafften, von der Insel zu starten, ohne entdeckt zu werden, gab es nirgendwo eine weitere geheime Forschungseinrichtung. Fischer hatte Zugang zu mehreren Überwachungssatelliten. Ihm standen Leute zur Verfügung, die nach ihnen Ausschau hielten. Gewiss, er konnte nicht jeden Ort auf der Welt gleichzeitig im Auge behalten, aber alle wüssten, dass es galt, nach einer C-5 zu suchen. Es wäre nicht mehr möglich, Fluglotsen zu bestechen. Wenn die C-5 an einem Radarsystem vorbeikam – selbst wenn es sich nur um einen kleinen Flugplatz handelte –, war die Sache gelaufen.

Bestenfalls noch fünf Tage, vielleicht sechs.

Endlich verschwand das Genada-Logo und das von Panik erfüllte Gesicht seines Bruders war zu sehen.

»Magnus, was zum Teufel geht da vor? Die Jungs an den Computern haben mir gesagt, dass von unserem System aus das USAMRIID angerufen wurde.«

»Das war Jian«, sagte Magnus. »Sie hat sich in den gesicherten Terminal gehackt und dein Ende der Verbindung benutzt, um Fischer anzurufen.« Er beobachtete Dantés Gesicht und sah darin die zu erwartende Welle der Gefühle – Ungläubigkeit, Verärgerung und schließlich Besorgnis.

»Was … was hat sie ihm gesagt?«

»Das Übliche. Was es zum Mittagessen gab, der Stand beim Ancestor-Projekt, solche Dinge. Das einzig Gute ist, dass sie es nicht mehr schaffte, ihm unsere Position durchzugeben. «

»Du hast die Verbindung rechtzeitig unterbrochen?«

»So könnte man das nennen, ja.«

»Du … du hast doch nicht …«, begann Danté. »Magnus, bitte, sag mir, dass du das nicht getan hast.«

Magnus schwieg.

»Aber sie ist das ganze Projekt, du Idiot! Scheiße, was sollen wir denn ohne sie nur machen?«

Magnus war vor Ort, er traf Entscheidungen in Echtzeit, er rettete Genada den Arsch – und ausgerechnet ihn nannte Danté einen Idioten?

»Was nun?«, schrie Danté und schüttelte in mehreren hundert Kilometern Entfernung die Faust vor der Kamera. »Das ist wirklich eine brillante, für unsere Geschäfte besonders hilfreiche Entscheidung, du verdammter Irrer. Was zum Teufel sollen wir nur machen?«

»Wir bringen die Sache zu Ende, ehe der Schaden noch größer wird«, sagte Magnus. »Wir verwischen alle Spuren und bereiten uns auf die nächste Gelegenheit vor.«

»Was meinst du damit – die Sache zu Ende bringen, bevor der Schaden noch größer wird?«

»Mein großer Bruder, du solltest besser den Kopf aus deinem Arsch ziehen, und zwar schnell. Kapierst du das denn nicht? Jian hat Fischer angerufen. Er will Colding und Rhumkorrf. Er hofft, dass sie die Seiten wechseln, so dass er uns wegen anderer Dinge anklagen kann. Aber wenn wir Colding und Rhumkorrf Fischer tatsächlich überlassen, werden wir dafür sorgen, dass sie nicht mehr reden. Er hat dieses Spiel so aufgezogen, nicht wir. Er soll bekommen, was er will, und die G8 werden sich absolut zweifelsfrei davon überzeugen können, dass Genada nicht mehr mit transgenen Organismen experimentiert. Mehr wollen die Regierungen doch gar nicht. Unsere Anwälte werden dafür sorgen, dass die Konten wieder freigegeben werden. Presto chango, und wir machen weiter.«

Danté beugte sich so weit zur Kamera vor, dass sein Gesicht den gesamten Bildschirm ausfüllte. »Das können wir nicht tun! Das sind unsere Leute, und wir sind so kurz vor dem Ziel! Sobald diese Wesen zur Welt gekommen sind, werden die Öffentlichkeit und die Presse dafür sorgen, dass sich uns niemand mehr in den Weg stellt. Dann haben wir gewonnen! Wir brauchen nur noch ein paar Tage.«

Magnus achtete darauf, dass seine Miene völlig ausdruckslos blieb, doch tief im Innern fühlte er etwas, das er nur selten empfand – Traurigkeit. Der arme Danté. Er schaffte es nie, die Entscheidungen zu treffen, die getroffen werden mussten.

Plötzlich strahlte Dantés Gesicht, als sei ihm gerade die Lösung für alle Probleme der Welt eingefallen. Er sah aus wie ein behindertes Kind, dem es nach Stunden des Misserfolgs endlich gelungen war, einen Käfer zu fangen. »Manitoba! Hör zu, wir bringen die C-5 nach Manitoba. Ich sorge dafür, dass die entsprechenden Gehege gebaut werden, in denen man ein Tier von der Größe eines Tigers unterbringen kann.«

Magnus nickte. Klar. Warum nicht. »Okay, Bruder, wie willst du das schaffen?«

»Denken wir mal nach. Heute Nacht zieht ein größerer Blizzard über dem Lake Superior auf. Seine Ausläufer sind auf Black Manitou wahrscheinlich schon zu spüren. Der Wetterbericht sagt, dass der Sturm fast zwei Tage lang anhalten wird, und dass gleich danach schon der nächste kommt. Ich nehme an, dass du mit Farm Girl gesprochen hast.«

»Ich habe eine E-Mail von ihr bekommen«, sagte Magnus. »Sie meint, dass wir noch fünf Tage haben.«

»Perfekt«, sagte Danté. »Ich muss zuerst ein bisschen an meiner Reiseroute arbeiten, damit ich Fischers Leute abhängen kann. Ich komme dann in vier Tagen nach Black Manitou, sobald der zweite Sturm ein wenig nachlässt. Ich bringe unseren Fluchtplan und die weitere Strategie mit. Okay?«

»Wie schlimm sind diese Stürme?«

Danté griff nach der Tastatur. Gleich darauf zeigte der Bildschirm eine Wetterkarte von Michigan. Das Land war braun, das Wasser war blau, und der gewaltige Sturm war eine wütende grüne Masse, die wie ein dickes Leichentuch über der Nordküste des Lake Superior hing.

»Gut, gut, gut«, sagte Magnus. »Das ist wirklich ein großer Sturm.«

Die Karte verschwand, und wieder erschien Dantés Gesicht. »Winde, die fast Hurrikan-Stärke haben. Bei diesem Wetter fliegt niemand, und jedes Boot wird zur Todesfalle. Gib mir nur vier Tage, Magnus. Ich komme am vierten Dezember. Wir werden eine Möglichkeit finden, die C-5 von dort weg und nach Manitoba zu schaffen, ohne dass uns jemand entdeckt. Wir müssen eine Möglichkeit finden.«

Magnus nickte. »Vier Tage? Ich denke, damit kann ich leben.«

»Wunderbar«, sagte Danté. »Du wirst sehen, kleiner Bruder, wir ziehen diese Sache durch. Gemeinsam.«

Magnus lächelte und beendete die Verbindung. Eine Familie war schon etwas Seltsames. Man konnte sich aussuchen, wen man vögelte oder wen man umbrachte, aber seinen eigenen Bruder konnte man sich nicht aussuchen.

Zum Hauptsitz von Genada fliegen? In einem riesigen Flugzeug, das von Fischer gesucht wurde? Danté hatte den Verstand verloren.

Magnus rief das Passwort-Programm des Computers auf und sperrte alle Zugänge außer seinem eigenen. Als er fertig war, verließ er den Überwachungsraum und ging zum Hangar.

Implantiert
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