8. November: Eine einmalige Gelegenheit
Die fünf Besucher in Genadas plüschigem Konferenzraum wirkten, als hätten sich sich für ein Gruppenfoto von Fortune 500 zusammengefunden, das die reichsten Menschen der Welt zeigen soll. Zwei Männer und eine Frau aus Amerika, ein britischer Playboy und Unternehmer sowie ein chinesischer Schiffsmogul. Beide Amerikaner hatten Milliarden mit Technologiefirmen gemacht, der eine mit Software, der andere mit einer Suchmaschine, während die Frau eine Handvoll Hotels, die schon länger im Besitz ihrer Familie waren, zur zweitgrößten Hotelkette der Welt ausgebaut hatte.
Der Schiffsmogul stellte das größte Risiko dar. Sollte die chinesische Parteiführung von dieser Aktion erfahren, würde Danté jede Menge Fragen beantworten müssen. Die chinesische Regierung betrachtete sich als den einzigen größeren Investor bei diesem Projekt. Wenn das Unternehmen Erfolg hatte, wären die Chinesen in der Lage, den etwa anderthalb Millionen Bürgern zu helfen, die in ihrem Land auf eine Organtransplantation warteten. Weil es pro Jahr nur etwa einhunderttausend potenzielle Spender gab, war die Volksrepublik fast verzweifelt darum bemüht, diesen Mangel zu beheben. Die Lage war düster. Immer wieder berichteten Menschenrechtsorganisationen darüber, dass Gefangene ermordet wurden, um in den Besitz ihrer Organe zu gelangen. China brauchte eine Lösung. Rhumkorrfs Projekt war genau das.
Doch natürlich war der Schiffsmagnat nicht zu einem der reichsten Menschen auf diesem Planeten geworden, indem er leichtfertig Informationen über exklusive Investitionsmöglichkeiten preisgab. Er würde keine Probleme machen. Jedenfalls hoffte Danté, dass er keine Probleme machen würde.
Danté begrüßte die Milliardäre, schenkte ihnen sein bezauberndstes Lächeln und kam ohne lange Vorreden gleich zum Geschäft. »Genada hat bei einem entscheidenden Projekt Probleme mit dem Cash-flow. Wir brauchen Kapital, und wir brauchen es sofort. Dies eröffnet Ihnen innerhalb eines begrenzten Zeitfensters die Möglichkeit zur Investition. Sie alle haben ein Vertraulichkeitsabkommen unterschrieben, weshalb ich Ihnen die entsprechenden Informationen nicht länger vorzuenthalten brauche.«
Er griff nach einer Fernbedienung, drückte auf einen Knopf und schaltete den Flachbildschirm ein, der an einer der Wände hing. Die schematische Darstellung einer gezackten roten Linie erschien, die nach oben anstieg.
»Diese rote Linie stellt die wachsende Anzahl von Menschen in den Vereinigten Staaten dar, die unter einer tödlichen Krankheit leiden und auf eine Organtransplantation warten. Im Augenblick sprechen wir von einhunderttausend Betroffenen. Vor fünf Jahren waren es achtzigtausend und vor einer Dekade sogar nur dreiundfünfzigtausend. Alle zehn Minuten wächst diese Liste um einen weiteren Namen. Nur etwa fünfzehntausend Organe werden dieses Jahr zur Verfügung stehen; etwa fünfundfünfzig Prozent davon stammen von verstorbenen Spendern, bei den übrigen handelt es sich um Organspenden von Lebenden. In den Vereinigten Staaten beträgt die Wartezeit auf eine Niere über vierzehn Monate. Jedes Jahr wächst der Abstand zwischen Bedarf und Verfügbarkeit von Organen um etwa zwölf Prozent. Etwa vierzehntausend Amerikaner werden alleine in diesem Jahr sterben, weil sie auf ein Organ warten, das nie kommen wird.
Diese Zahlen beziehen sich, wie gesagt, nur auf die Vereinigten Staaten. Weltweit liegt einigen Schätzungen zufolge die Zahl der Menschen, die auf Nierentransplantationen warten, in der Größenordnung von bis zu 750 000. Ganz zu schweigen vom Bedarf an Herzen, Lungen und Lebern.
Genada schätzt, dass der Durchschnittspreis für ein Ersatzorgan etwa bei fünfzigtausend Dollar liegen wird. Daraus ergibt sich ein jährlicher Markt mit einem Umfang von über siebenunddreißig Milliarden. Und das ist nur der gegenwärtige Markt. Da sich in Indien, China und anderen Schwellenländern die allgemeinen Lebensbedingungen und die medizinische Versorgung ständig verbessern, erwarten wir, dass sich die Anzahl der Menschen, die eine Organspende benötigen, in den nächsten zehn Jahren verdoppeln wird. Habe ich bis hierher Ihre Aufmerksamkeit?«
Die Köpfe der fünf potenziellen Investoren nickten gleichzeitig.
»Zur Zeit versuchen mehrere Unternehmen, diesem Mangel abzuhelfen durch ein Verfahren, das als Xenotransplantation bezeichnet wird. Dabei werden Organe oder Gewebe von einer Spezies auf eine andere übertragen.«
»Körperteile von Tieren«, sagte ein kleiner Mann mit dicker Brille und dichter Haarmähne. Es war der amerikanische Software-Magnat – laut einigen Statistiken der reichste Mann der Welt. »Pavianherzen, Schweinelebern und Ähnliches.«
Danté nickte und lächelte. »Beim heutigen Stand der Technik kann ein Xenotransplantat die Betroffenen einige Tage bis, im Höchstfall, einige Wochen lang am Leben erhalten. Und dies auch nur dann, wenn der Patient die ganze Zeit über im Krankenhaus bleibt. Denn das menschliche Immunsystem greift in der Regel das Organ an. Die meisten Firmen suchen deshalb nach einem Weg, die Immunreaktion auszuschalten, doch indem man sich bemüht, dieses Problem zu lösen, beschwört man eine viel größere und weitaus verheerendere Gefahr herauf. Durch Xenotransplantation wird es möglich, dass ein Virus von einer Art auf die andere überspringt. Wenn man einem Menschen ein fremdes Organ einpflanzt, pflanzt man ihm auch sämtliche Viren ein, die sich in diesem Organ befinden. Üblicherweise sterben diese Viren rasch ab, denn ihr Aufbau ist nicht unbedingt dazu geeignet, einen menschlichen Wirtskörper anzugreifen. Doch wenn sich die Viren so weit anpassen, dass sie menschliche Zellen befallen, dann kann es zu einer Infektion kommen, gegen die Menschen keine natürlichen Antikörper haben.«
»Das H1N1-Virus«, sagte der Schiffsmagnat. »Schweinegrippe, SARS, Vogelgrippe. Sie alle wurden von Viren verursacht, die von einer Art auf die andere überspringen.«
»Oder das, was gerade in Grönland passiert ist«, sagte die einzige Frau am Tisch. »Das klingt für mich nicht nach einer seriösen Investition. Es hört sich eher wie eine Möglichkeit an, Millionen Menschen umzubringen.«
Diese Bemerkung überraschte Danté. Die vier Männer sahen die Frau an. Offensichtlich hatten sie von den Ereignissen in Grönland noch nichts gehört, doch ihr Vertrauen schwand trotzdem dahin. Anscheinend war Genada nicht das einzige Unternehmen mit Kontakten bis ganz nach oben. Danté fragte sich kurz, ob Farm Girl ihre Informationen auch an andere Parteien verkaufte.
»Genada hat die Lösung«, sagte er. »Vielleicht haben wir sogar die einzige seriöse Investitionsmöglichkeit auf diesem Gebiet anzubieten. Denn wir gehen so vor, dass jede Möglichkeit einer Virenübertragung von der Spenderart auf den Menschen vollkommen ausgeschlossen ist.«
Er drückte auf einen Knopf seiner Fernbedienung. Das neue Bild zeigte eine kleine Kreatur, die, umgeben von der exotischen Vegetation eines längst versunkenen Dschungels, zusammengekauert auf einem verrottenden Baumstamm saß. Der Körperbau dieses Wesens war mehr oder weniger tränenförmig – dick in der Mitte, zu den Hüften hin schlanker und in einem kurzen, spitzen Schwanz endend. Die Hinterbeine standen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad von den schmalen Hüften ab, was dazu führte, dass Knie und Füße weiter vom Rumpf entfernt waren als etwa bei einer Katze oder einem Hund. Auch die Vorderbeine standen deutlich vom Rumpf ab, doch der Winkel war nicht ganz so groß. Ein dünnes silbriges Fell bedeckte den geschmeidigen kleinen Körper. Obwohl es einige Züge mit einem modernen Tier gemeinsam hatte – besonders was die langen Schnurrhaare anging, die aus den Seiten seiner spitzen Nase ragten – , sah es unverkennbar urzeitlich aus.
»Das ist ein Thrinaxodon. Es lebte vor etwa zweihundert Millionen Jahren. Es gehört zu einer Gruppe von Tieren, die als Synapsiden oder Proto-Säugetiere bezeichnet werden. Etwas Ähnliches wie das Thrinaxodon steht am Ursprung aller Säugetiere. Dieses Etwas ist Ihr und mein Vorfahre, der Vorfahre von Hunden und Delfinen und allen anderen Säugetieren. Diesen Vorfahren, meine Freunde, wird Genada neu erschaffen. Und er wird jedem von Ihnen sehr viel Geld einbringen.«
Der Mann mit der dichten Haarmähne erhob sich. Er lächelte breit, und seine Augen funkelten vor Aufregung. »Nur damit ich das richtig verstehe – Sie erschaffen diesen Vorfahren, dieses Wesen, damit sie Menschen seine Organe einpflanzen und ihr Leben retten können, und gleichzeitig eliminieren Sie die Möglichkeit gefährlicher Viren?«
Danté nickte. »Wir werden ein Tier schaffen, das diesem Stammvater aller Säugetiere ähnelt. Da der gesamte Weg schon mit der DNS beginnt, können wir sicherstellen, dass das fertige Tier keine natürlich vorkommenden Viren in sich tragen wird, die durch die entsprechende Anpassung Menschen infizieren würden.
Die Katalogisierung und das Arbeiten mit diesen computerisierten biologischen Daten fällt in das Gebiet einer Wissenschaft, die als Bioinformatik bezeichnet wird. Das Humangenomprojekt und Celera Genomics haben den gesamten genetischen Code des Menschen sequenziert bis hinunter zum letzten Nukleotid, doch Menschen waren erst der Anfang. Wissenschaftler haben Tausende von Säugetieren sequenziert und die digitalisierte Analyse in öffentlich zugänglichen Datenbanken wie Gen-Bank verfügbar gemacht. Durch diese Genome sowie die Daten über die Tiere, die wir selbst sequenziert haben, verfügt Genada über den vollständigen Code fast jedes Säugetiers auf diesem Planeten.«
»Eines verstehe ich nicht«, sagte der Schiffsmagnat. »Sie haben die Genome heutiger Tiere, aber nicht das Genom dieses Vorfahren?«
»Genmutation ist das Fundament der Evolution«, sagte Danté, »aber nicht alle Gene besitzen dieselbe Mutationsrate. Wenn sich, ausgehend von der Linie eines gemeinsamen Vorfahren, verschiedene Arten abzweigen, mutieren einige Gene schneller als andere und einige überhaupt nicht. Indem wir sozusagen ein molekulares Uhrwerk benutzen, können wir bestimmen, welche Sequenzen sich verändert haben, und indem wir dieses Gen mit demselben Gen eines anderen Säugetiers vergleichen, können wir sagen, welche Sequenz älter ist und dadurch dem genetischen Code des gemeinsamen Stammvaters nähersteht.«
Die Frau lächelte. »Ich bin sprachlos. Das Konzept ist so simpel. Man nimmt einfach den gemeinsamen Nenner. Sie lassen alles weg, was einzigartig ist, wodurch nur noch übrig bleibt, was alle gemeinsam haben.«
Danté nickte. Sie verstanden es. Die Frau war am schwierigsten zu überzeugen. Der Schiffsmogul war bereits dabei, das war völlig offensichtlich, doch wenn die Frau investierte, würden auch die übrigen drei folgen.
»Unsere Mitarbeiter haben ein Evolutionslabor in Form eines Computerprogramms geschaffen«, sagte Danté. »Dieses Programm erstellt eine statistische Analyse der verschiedenen Genome, basierend auf der wahrscheinlichen Funktion jeder Gensequenz. Der Computer arbeitet mit dem digitalisierten Genom des Stammvaters aller Säugetiere; er sagt Form und Funktion voraus, nimmt Änderungen vor, trifft neue Vorhersagen und berechnet die Wahrscheinlichkeit erwünschter Eigenschaften. Es ist genau wie bei der Evolution – nur umgekehrt. Und alles läuft millionenmal schneller ab als in der Natur. Wir schaffen diese Kreatur im Computer, Nukleotid für Nukleotid. Da wir sie aus dem Nichts schaffen, wissen wir mit absoluter Sicherheit, dass sie nicht durch Viren kontaminiert sein kann.«
Der Chinese meldete sich zu Wort. »Aber das Tier auf dem Bildschirm ist zu klein. Sie könnten mir sein Herz nicht einsetzen.«
»Korrekt«, sagte Danté. »Doch das Tier auf dem Bildschirm wurde nur deshalb in silica – im Computer – geschaffen, damit wir eine Basis haben. Das liegt bereits hinter uns. Denn von dieser Basis ausgehend, hat der Computer inzwischen spezifische virtuelle Gene hinzugefügt, die die Größe und die Verträglichkeit der Organe im Hinblick auf den Menschen kodieren. Unsere erste lebende Generation wird nicht perfekt sein, aber wir können den Phänotyp analysieren – die Größe des Tieres und sein Aussehen. Und wir können ihn mit dem Genotyp vergleichen – der tatsächlichen DNS-Kodierung. Sobald wir das getan haben, werden wir das Genom so lange modifizieren, bis die Organe des Tiers ideal für die Transplantation in den Körper eines Menschen geeignet sind.«
Der Mann mit dem dichten Haar setzte sich wieder. »Aber wenn Sie über diese ganze Technologie verfügen, warum schaffen Sie dann nicht einfach einzelne Organe?«
»Manche Firmen arbeiten daran, das Problem auf genau diesem Weg zu lösen, doch bisher ist das noch nicht möglich. Und wenn es einmal möglich sein sollte, braucht man ein teures Labor oder Fertigungszentrum, um einzelne Organe heranzuzüchten. Kurz gesagt, die Kosten pro Organ wären astronomisch. Hingegen werden die Vorfahren, die Genada schafft, Herdentiere sein. Und was ebenfalls absolut wichtig ist: Sie werden in der Lage sein, sich fortzupflanzen. Wir haben nichts weiter zu tun, als sie auf eine Weide zu führen und sie zu füttern. Die Nachfrage nach Organen steigt? Dann züchten wir einfach mehr Tiere.«
»Was ist mit PETA?«, fragte die Frau. »Was ist mit der Animal Liberation Front? Sie haben die Forschungen zur Xenotransplantation ins Visier genommen.«
»Wir sind davon überzeugt, dass wir auch in dieser Hinsicht einen Wettbewerbsvorteil haben«, sagte Danté. »Unsere Exemplare dieses Vorfahren kommen in der Natur nicht vor. Wir haben sie gemacht, bis hinab zum letzten DNS-Strang. Diese Tatsache werden wir sogar als Argument benutzen, wenn wir die Forderung aufstellen, dass andere Firmen ihre Forschungen an Schweinen und Primaten einstellen. Wenn Genada das Problem gelöst hat, sind solche potenziell gefährlichen Forschungen nicht weiter notwendig.«
Der Softwaremagnat lachte. »Sie wollen ein Monopol. Ein Monopol auf das menschliche Leben.«
Danté nickte. »Meine Dame, meine Herren, nichts verkauft sich so gut wie das Leben selbst. Wenn wir Erfolg haben, werden wir der einzige Verkäufer sein. Wir werden verlangen können, was immer der Markt hergibt. Und angesichts der Millionen von Menschen, die nicht bereit sind zu sterben, wird der Markt sehr viel hergeben.«
Eine Stunde später waren die fünf gegangen, und alle hatten dieselbe Entscheidung getroffen: ja. Das verschaffte Genada genügend Kapital für mindestens ein weiteres Jahr.
Magnus wäre überaus zufrieden.