1. Dezember, 7:34 Uhr

Sara wagte einen Blick aus der Box. Durch das offene Scheunentor sah sie Sven, seinen Hund und ein paar Kühe weit entfernt auf dem schneebedeckten Feld.

»Los, Tim. Wir gehen.«

»Gehen – wohin?«

Die Eine-Million-Dollar-Frage. Sie konnten in Svens Haus gehen, darauf warten, bis er zurückkam, und dann … was? Den alten Mann mit ihrer Beretta erschießen? Ihn als Geisel nehmen? Es gab keinen anderen Ort, der ihnen Schutz bieten konnte. Außer …

»Die verlassene Stadt«, sagte sie. »Genau in der Mitte der Insel. Dort können wir uns eine Zeit lang verstecken und unser weiteres Vorgehen planen.«

»Wie weit ist es bis dahin?«

»Etwa neun Kilometer.«

Tim starrte sie an, als wüchse ihr ein Penis aus der Stirn. »Neun Kilometer? Zu Fuß?«

Sara nickte. »Das ist die einzige Möglichkeit.«

»Falsch. Es gibt noch eine.« Er deutete auf die Pistole an Saras Hüfte.

»Nein«, sagte Sara. »Wir wissen nicht, ob Sven irgendetwas mit dieser Sache zu tun hat. Ich werde ihn nicht verletzen.«

»Du musst den alten Kerl ja nicht umbringen. Halte ihm einfach die Waffe ins Gesicht und – »

»Nein, Tim. Ich weiß Bescheid, was Waffen angeht. Wenn man so ein Ding auf einen Menschen richtet, dann sollte man besser bereit sein, es auch zu benutzen, und ich werde diesen alten Mann nicht erschießen. Außerdem muss er sich anscheinend alle paar Stunden bei Magnus melden.«

»Oder Colding.«

Sara schwieg.

»Ich bin für das Haus«, sagte Tim.

»Spielt keine Rolle, wofür du bist.«

Sara kroch zum Scheunentor und sah hinaus. Sven war noch immer bei den Kühen aus der C-5. Mookie hüpfte durch den Schnee und zog einen weiten Kreis um die Herde. Sven würde auf demselben Weg zurückkommen, auf dem er nach draußen gegangen war, was bedeutete, dass Sara und Tim den Vordereingang nicht benutzen konnten. Es lag zu viel frischer Schnee. Sven würde unweigerlich ihre Spuren sehen.

Sara drehte sich um und ging tiefer in die Scheune hinein. Sie suchte nach einem weiteren Ausgang. Direkt gegenüber dem großen Schiebetor sah sie eine Tür mit einem Fenster in der oberen Hälfte. An einer kleinen Stelle wischte sie mit ihrem Ärmel den Frost ab und spähte hinaus. Draußen gab es nichts zu sehen außer weiteren Schneewehen, einem winzigen, schneebedeckten Schuppen und ein paar von Schneemützen überzogenen Zaunpfählen.

Vorsichtig öffnete sie die Tür, damit der Schnee, der sich auf der anderen Seite angehäuft hatte, nicht in die Scheune rutschte. Der Schnee sah dort aus wie eine hüfthohe weiße Mauer. Sie trat darüber hinweg, drehte sich um und half dem humpelnden Tim Feely. Behutsam schloss sie die Tür. Etwas Schnee fiel in die Scheune, aber sie hoffte, dass er unter den noch immer laufenden Heizgeräten schmolz, bevor Sven zurückkam.

Sie und Tim standen nebeneinander, den Rücken gegen die Scheune gedrückt. Vor ihnen lag eine unberührte weiße Fläche, die nur von einigen hohen Schneeverwehungen unterbrochen wurde. Eine einzelne Fußspur führte zum Schuppen. Die Abdrücke waren mit kaum zwei Zentimetern Schnee bedeckt, wodurch sie verschwommen und unscharf aussahen.

»Sieh dir das an«, sagte Tim. »Die Fenster im Schuppen sind nicht zugefroren. Er ist beheizt.«

Er hatte Recht. Wahrscheinlich gab es darin ein elektrisches Heizgerät, wie in der Scheune auch. Verlockend, aber zu riskant.

»Wir können uns hier nicht verstecken«, sagte Sara. »Anscheinend ist Sven irgendwann letzte Nacht in den Schuppen gekommen. Gut möglich, dass er heute wieder hineingeht. Das Ding ist keine vier Quadratmeter groß. Unmöglich, sich da zu verstecken, wenn er hier auftaucht.«

»Scheiße. Was jetzt, Cowboy?«

»Wir gehen einfach los und hoffen, dass er nicht so schnell zum Schuppen kommt und unsere Fußspuren sieht, die aus der Scheune führen. Los jetzt!«

Sie schob ihre Schulter unter Tims Arm, um einen Teil seines Gewichts zu tragen. Zusammen stapften sie durch den tiefen Schnee.

 

Sven sah sich überall um, suchte Hinweise auf irgendein menschliches Wesen. Jemand würde in der Nähe sein. Musste in der Nähe sein. Schließlich konnten dreiundvierzig Kühe nicht einfach aus dem Nichts auftauchen. Es handelte sich nicht um James Harveys Herde. Soweit Sven wusste, waren James’ Kühe nicht trächtig, und diese hier waren so trächtig, wie es trächtiger kaum noch ging.

Mookie hatte sich ganz in ihre übliche Aufgabe gestürzt. Sie kreiste die Herde ein und fixierte die Tiere, wobei sie den Kopf dicht über dem Boden hielt. Wenn ihre Augen Laser wären, hätte sie es sogar geschafft, ein Loch in den Mond zu bohren. Sie sorgte dafür, dass die Kühe zusammenblieben und wartete auf Svens Befehle.

Sven ging zu einer der Kühe hin. Bis auf einen schwarzen Augenfleck war ihr Kopf vollkommen weiß. Auf dem Plastikschild in ihrem Ohr stand A-34. Direkt darunter hatte jemand mit Filzstift Molly McButter geschrieben. Die Kennzeichnung bedeutete, dass die Kühe zur Hauptherde aus dem Süden der Insel gehören mussten.

Wie zum Teufel hatten die Tiere über fünfzehn Kilometer weit nach Norden ziehen können – bei Nacht und während eines Blizzards, der alles auf den Kopf stellte?

»Na, Molly, wie geht’s dir? Ich wette, du hast eine interessante Nacht hinter dir, eh?«

Die Kuh schwieg.

Sven sah keine Spuren. Es gab nur einige wenige Streifen im Schnee. Das bedeutete, dass die Kühe schon mehrere Stunden am Waldrand gestanden und das Ende des Sturms abgewartet hatten, während der Weg, auf dem sie gekommen waren, zugeschneit worden war.

Sven tätschelte Molly und redete beruhigend auf sie ein. »Nun, meine Damen, das Beste wird sein, wenn ich euch alle in Sicherheit bringe, eh? Der nächste Sturm ist schon angekündigt.«

Er hob die Hand. Mookies Kopf wirbelte herum, der Rest ihres Körpers blieb regungslos, die Augen auf Sven gerichtet. Höchste Konzentration. Nichts auf der Welt gefiel ihr so gut – abgesehen vielleicht von einem kleinen Nickerchen.

»Mookie, such.« Der wendige Hund schoss durch den Schnee, stürmte in den Wald und begann, nach verirrten Tieren zu suchen, um sie zur Herde zurückzutreiben.

Sven startete das Schneemobil und führte die Herde in die Scheune.

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