11. November: Zwei zum Preis von einem
Implantation + 2 Tage
Auf dem unteren Deck der C-5 beobachtete Jian, wie Tim mit dem Messwandler über den Bauch von Kuh 34 strich. Das von der Decke hängende Geschirr verlief unter den Beinen, den Hüften und der Brust des Tieres hindurch, trug sein ganzes Gewicht und hob es ein wenig an.
Der Messwandler lieferte die Daten für das tragbare Ultraschallgerät, das sich direkt außerhalb der Box von Kuh 34 befand. Doktor Rhumkorrf saß mit seinem knochigen Hintern auf einem Holzhocker vor dem Gerät. Seine Hände spielten mit den Tasten, während er geistesabwesend einen schwarzen Trackball streichelte.
Über der Tastatur befand sich ein Videomonitor, der bisher nichts als einen blauen, immer länger werdenden Balken zeigte, der etwas mehr als die Hälfte seiner vollständigen Länge erreicht hatte. Über dem Balken standen die Worte 52 PROZENT.
Im Laufe ihrer Karriere hatte Jian miterlebt, wie aus körnigen, zweidimensionalen Schwarz-Weiß-Ultraschallbildern dreidimensionale, zunächst noch auf eine Perspektive begrenzte Darstellungen wurden, die sich später zu dem weiterentwickelten, was ihnen heute zur Verfügung stand: drehbare 3-D-Modelle mit animierten Bildern, die die natürlichen Bewegungen eines Tieres im Mutterleib zeigten.
75 PROZENT
Man musste es einfach spüren: Die Spannung, die in der Luft lag, und die Befriedigung darüber, dass sie nach Jahren der Arbeit ihrem Ziel immer nähergekommen waren.
82 PROZENT
»Wir alle sollten uns nicht zu sehr hinreißen lassen«, sagte Rhumkorrf, obwohl er der Einzige war, der überhaupt sprach. Geistesabwesend schaukelte er mit seinem Hocker ein wenig hin und her, während er darauf wartete, dass die Daten zu einer Aufnahme verarbeitet wurden. »Als Erika … ich meine, als Doktor Hoel und ich das ausgestorbene Quagga wieder zum Leben erweckten, brauchten wir zweiundfünfzig Implantationszyklen, bevor wir das Genom so weit korrigiert hatten, dass wir eine Lebendgeburt erreichen konnten.«
88 PROZENT
Jian fühlte sich erleichtert, voller Leben, ja sogar … leicht. Sie hatte während der letzten Wochen etwas Gewicht verloren. Einerseits lag das daran, dass sie vergessen hatte zu essen; andererseits hatte sich ihr Magen bei so viel quälendem Stress die ganze Zeit über verkrampft. Zwei Tage nach einer Implantation wäre ein normaler Säugetierembryo nichts weiter als ein winziger roter Punkt, der ein wenig aus der Gebärmutterwand herausragt. Wie eine Art großer, feuchter Pickel. Doch nach ihren Berechnungen und angesichts der astronomischen Wachstumsrate, die sie bei den Embryos in vitro beobachtet hatten, musste das, was sich in der Gebärmutter von Kuh 34 befand, deutlich größer sein.
94 PROZENT
Tims Hand fuhr weiter mit dem Messwandler über den frei hängenden Bauch der Kuh. Er sah müde aus. Vielleicht sogar ein wenig betrunken. Schon wieder. Seit sie gelandet waren, hatte er nicht mehr gelächelt. Auf Baffin Island hatte Tim ständig gelächelt.
100 PROZENT … VERARBEITUNG LÄUFT …
Der blaue Balken erreichte seine volle Länge, und plötzlich erschien ein goldfarbenes Bild.
Sie starrte auf den Monitor.
Tim trat aus der Box. Er sah auf den Bildschirm und blieb abrupt stehen. »Leck mich doch, das gibt’s doch gar nicht«, sagte er leise.
Langsam und ungläubig schüttelte Jian den Kopf. Sie hatte gewusst, dass die Kreatur schnell wachsen würde – so hatte sie den Code schließlich angelegt. Aber das hier?
»Jian«, sagte Rhumkorrf, »Sie sind sogar noch begabter, als ich angenommen habe.«
Die Ultraschallaufnahme zeigte zwei Föten, die sich, die Gesichter einander zugeneigt, in einer engen Umarmung befanden. Langsam fuhr Rhumkorrf mit seiner rechten Hand über den Trackball, wodurch das 3-D-Bild so gedreht wurde, dass man winzige fötale Merkmale erkennen konnte. Die überdimensionierten Köpfe bildeten sich bereits heraus; jeder von ihnen war größer als der Rest des dazugehörigen Körpers. Große schwarze Flecken verrieten die sich entwickelnden Augen. Winzige Ansätze zu Gliedmaßen schoben sich aus dem Rumpf. Sie sah die geisterhaften Umrisse der im Entstehen begriffenen inneren Organe.
»Feely«, sagte Rhumkorrf. »Wie schwer sind diese Embryos Ihrer Meinung nach?«
»Hmm … zwischen zweihundert und zweihundertfünfzig Gramm. Mindestens.« Tim sprach kaum hörbar flüsternd weiter. »Vielleicht sogar noch ein wenig mehr. Das normale embryonale Wachstum einer Säugetierart, deren ausgewachsene Vertreter etwa einhundertachtzig Pfund schwer sind, sollte zu diesem Zeitpunkt bei weniger als drei Gramm liegen.«
»Eine achtzigmal höhere Wachstumsrate«, sagte Rhumkorrf. »Das ist noch mehr, als Sie vorausberechnet haben, Jian. Fantastisch!«
Fantastisch. War das das richtige Wort, um diese Dinge zu beschreiben? Nein, das war es nicht. Von einer einzigen Zelle zu einem Gewicht von knapp einem Pfund in weniger als achtundvierzig Stunden. Sie hätte begeistert sein sollen. Doch stattdessen hatte sie Angst.
Und sie war nicht ganz sicher, warum.