6:49 Uhr
Magnus parkte den Bv 206 hinter der aufgegebenen Lodge, so dass sich das Gebäude zwischen ihm und der Kirche befand. Er stellte den Motor ab, sprang raus und hängte sich die MP5 über die Schulter.
Er war allein.
Ganz allein.
Und Sara Purinam war schuld daran.
Wenn sie das Flugzeug entsprechend ihrer Befehle geflogen hätte, wäre die Maschine über dem Wasser explodiert und die Kreaturen wären gestorben … und Danté wäre noch immer am Leben.
Er hatte noch nie zuvor einen echten Verlust erlebt. Sein Vater war gestorben, aber er war alt und sein Herz war schwach gewesen. Magnus hatte sich innerlich viele Jahre lang darauf vorbereiten können. Doch jetzt … jetzt ging es um seinen Bruder, um das Einzige, was ihm an Familie noch geblieben war. Auf diesen Schmerz, auf diese Qual, die ihn bis auf den Grund seines Innersten zerriss, hatte Magnus sich nicht vorbereiten können. Es tat weh, und das setzte ihm in einer Art und Weise zu, wie es kein körperlicher Schmerz je getan hatte.
Sara. Es war alles nur ihre Schuld.
Ihm war nicht aufgefallen, dass ihn eine der Kreaturen verfolgt hätte, doch das bedeutete nicht, dass sie nicht hinter ihm her waren. Zunächst war er langsam gefahren, hatte gehofft, dass er mit leiserem Motor unbemerkt bleiben würde, doch nach einem Viertelkilometer hatte er Gas gegeben und die Höchstgeschwindigkeit ausgereizt. Hatten sie das gehört? Er wusste es nicht. Aber selbst wenn die Kreaturen ihn gehört hatten, würden sie mindestens zehn Minuten vom Hangar bis hierher brauchen, auch wenn sie den ganzen Weg über rannten.
Er hatte also genügend Zeit, zu tun, was getan werden musste.
Er drehte sich noch einmal langsam um die eigene Achse, spähte im Rundumblick die Gegend aus. Nichts zu sehen. Die Kirche war nur fünfzig Meter von der Lodge entfernt.
Jetzt kriegst du, was dir zusteht, du Drecksschlampe.
»Oh nein.« Sara bückte sich noch tiefer auf dem Glockenturm zusammen, bis sie nur noch knapp über die Brüstung sehen konnte. »Tim, bleib in Deckung. Ich glaube, das ist Magnus.«
Tim schob sich langsam an den Rand des Turms und sah hinab. »Oh, fuck. Er ist hinter uns her. Er kommt direkt auf uns zu. Erschieß ihn!«
Sara spürte Tims Angst, fühlte mit ihm, denn ihr ging es genauso. Der Killer wirkte völlig ruhig, als er über den runden Platz in der Mitte der Stadt schritt. Er hielt eine Maschinenpistole in den Händen. Die Morgensonne schimmerte auf seinem kahlen Kopf. Seine Kleider waren schmutzig und voller Blutflecken.
Wessen Blut war das?
Wenn Magnus sie hier oben nicht sah, wäre sie in der Lage, wenigstens einen Schuss abzufeuern, bevor er reagieren konnte. Ein Schuss, mit einer Pistole aus einer Höhe von fast vier Stockwerken, und dazu zitterten ihre Hände, weil die Temperatur unter dem Gefrierpunkt lag.
Ja, sie teilte Tims Angst, aber in ihr brannte auch eine rasende Wut. Dieser kahlköpfige Bastard hatte Alonzo, Miller und Cappy ermordet, und dafür würde er bezahlen.
Magnus kam näher, bewegte sich leichtfüßig und elegant wie ein Sportler. Sie musste ihre Angst unter Kontrolle bekommen, musste zur Soldatin werden und den Killer erledigen. Sie konnte es schaffen. Sie musste es schaffen. Sara zielte, umfasste den geriffelten Griff der Beretta mit aller Kraft und spürte, wie ihr das kalte Metall in die Handfläche schnitt. Sie würde Magnus auf halber Strecke zwischen Lodge und Brunnen erledigen, wo er keinerlei Deckung hatte.
Nur noch ein paar Schritte …
Magnus blieb stehen. Hier stimmte etwas nicht. Er konnte es spüren. Die Haare in seinem Nacken hatten sich aufgerichtet, und das lag nicht an der bitteren Kälte. Die Trauer hatte ihn bei seinen Entscheidungen durcheinandergebracht. Trauer und das Bedürfnis zurückzuschlagen, sich zu rächen … das war der Grund, warum er sich im Augenblick in einer taktisch absolut miserablen Position befand. Offenes Gelände, keine richtige Deckung. Seine Instinkte drängten ihn, kehrtzumachen und sich seinem Ziel auf anderem Weg zu nähern.
Doch die Kreaturen waren bereits hierher unterwegs. Er hatte nicht mehr genug Zeit.
Und die Schlampe musste bezahlen.
Langsam erhöhte Sara den Druck auf den Abzug, genauso, wie ihr Vater es ihr gezeigt hatte, als sie in den Wäldern um Cheboygan auf Hirschjagd gegangen waren. Sie drückte ab … und zuckte ein wenig zusammen, als sich der Schuss mit einem lauten Knall löste.
Er hörte das Dröhnen der Pistole nur eine Millisekunde, bevor sich die Kugel in seinen kräftigen linken Oberschenkel bohrte. Der Schmerz schoss durch sein Bein, doch es war nicht das erste Mal, dass Magnus angeschossen wurde. Reflexartig sprang er nach rechts.
Ein zweiter Schuss dröhnte. Vorbei.
Magnus landete auf seiner rechten Schulter, noch während er sich abrollte, stellte er die MP5 auf Dauerfeuer.
Ein dritter Schuss. Die Fotze blieb völlig ruhig, zielte und versuchte, ihre Schüsse genau zu platzieren, auch wenn sie nicht traf. Er hörte, wie die Kugel an seinem rechten Ohr vorbeizischte, als er aufsprang.
Magnus feuerte in weniger als einer Sekunde zehn Schüsse ab.
Sara schaffte es gerade noch, sich zu ducken. Funkensprühend prallten die Kugeln an den Granitwänden ab und rissen kleine Splitter aus dem Gestein, die auf ihren zitternden Körper herabregneten. Sie hatte ihn getroffen, sie wusste, dass sie ihn getroffen hatte – also warum konnte er immer noch das Feuer erwidern?
»Tim, bleib unten!« Ein überflüssiger Rat, denn wenn Tim sich noch mehr zusammengekauert hätte, wäre er mit dem Steinboden verschmolzen.
Sara bemühte sich, ihre Atmung zu kontrollieren. Wenn es ihr gelingen würde, nur noch einen einzigen gezielten Schuss abzugeben …
Erst fünf Sekunden, nachdem die Kugel sich in sein Bein gebohrt hatte, begann der wirkliche Schmerz einzusetzen.
Magnus zog sich humpelnd zurück, wobei er das MP5 noch immer auf den Kirchturm gerichtet hielt. Er feuerte fünf weitere Salven ab. Wieder blitzten Funken auf wie bei einem kleinen Feuerwerk, als die Kugeln gegen das Granit schlugen. Er hatte sich wie ein Vollidiot verhalten. Für Handfeuerwaffen blieb die Kirche eine uneinnehmbare Festung. Er brauchte den Plastiksprengstoff. Verdammt, vielleicht brauchte er sogar die Stinger. Das würde die beschissene Situation klären. Und zwar dauerhaft.
Er ignorierte die rasenden Schmerzen in seinem Bein, zog das leere Magazin aus seiner Waffe und ließ ein neues einrasten, während er sich zurückzog und dabei den schwarzen Turm nicht aus den Augen ließ.
Sara wollte noch einmal schießen, wollte Magnus erledigen, aber es gelang ihr nicht, sich aufzurichten. Sie schaffte es einfach nicht, über die Brüstung zu spähen und sich den umherfliegenden Kugeln auszusetzen. Sie wollte ihren Körper zwingen, sich zu bewegen. Doch ihr Körper weigerte sich.
Von irgendwo hinter der Lodge ertönte Magnus’ sonore Stimme.
»Du hast mich nicht getötet, Sara. Du kannst mich nicht töten.«
Seine Stimme schien den ganzen Wald auszufüllen, als seien die Bäume von einem übernatürlichen Geist besessen, der sie in Stücke reißen wollte. Und plötzlich wollte sie, dass die Monster zurückkamen – dass sie zurückkamen und Magnus erledigten. Doch sie waren nirgendwo zu sehen.
»Jetzt wird es schlimm werden für dich«, tönte Magnus. »Wirklich schlimm.«
Sie schrie zurück, ohne den Kopf über die Brüstung zu heben: »Warum erledigst du es dann nicht? Warum kommst du nicht einfach und bringst es hier und jetzt zu Ende?«
»Wiiiiirklich schlimm«, kreischte Magnus. »Ich werde dir die Pulsadern aufschneiden, damit du zusehen kannst, wie du verblutest. Ich werde dich verbrennen, bis deine Knochen schwarz sind. Ich verspreche dir, du verrottete Hure, ich verspreche dir, dass du mich anflehen wirst … und wenn du es tust, werde ich nicht zuhören.«
Sara kniff die Augen zusammen, um gegen die Anspannung zu kämpfen, die sich in ihrem Kopf und ihrer Brust aufbaute. Wie viel würde sie noch ertragen können? Jetzt wusste Magnus ganz genau, wo sie war. Sie konnte nicht weglaufen – nicht, solange die Kreaturen da draußen umherstreiften. Magnus wäre nicht so dumm, noch einmal aus der Deckung zu kommen. Sie musste einen anderen Unterschlupf finden, den sie ebenso gut verteidigen konnte.
Magnus würde sie umbringen, sie langsam ausbluten lassen, sie verbrennen …
Nein, sie durfte nicht zulassen, dass die Todesangst sie überwältigte. Sie würde gegen dieses Arschloch ankämpfen, sie würde gegen ihn kämpfen, bis es nichts mehr gab, mit dem sie sich zur Wehr setzen konnte.
»Tim, erheb deinen Arsch. Wir gehen nach unten.«
Tim kroch zur Falltür. Vorsichtig kletterte er nach unten, sein kaputtes Knie machte ihm noch immer sehr zu schaffen. Sara folgte ihm nach unten und fragte sich dabei, wie lange es dauern würde, bis Magnus seinen nächsten Angriff startete.