3. Dezember, 23:07 Uhr

Gary Detweiler hatte so etwas noch nicht erlebt. Ein heftiger Wind türmte die Wellen drei Meter hoch. Überall trieben Eisschollen. Obwohl wahrscheinlich keiner dieser Brocken groß genug war, um der Otto II ernsthaften Schaden zuzufügen, war Gary absolut sicher, dass er das nicht unbedingt herausfinden wollte, während sich das Boot mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Knoten durch die Wogen pflügte.

Als die Insel in Sicht kam, schaltete er die Positionslichter aus und navigierte nur noch mit GPS und seinem Nachtsichtgerät. Die dichten Wolken verbargen die Sterne und schwächten das Mondlicht zu einem fahlen Schimmer ab, doch das reichte für das Nachtsichtgerät, das ihm in verschiedenen neongrünen Farbschattierungen den Weg zeigte, den er nehmen musste.

Je näher er dem Hafen kam, umso dicker wurde das Eis. Baseballgroße Stücke sammelten sich wie dicht gepacktes Treibgut, wodurch das Wasser wie wogendes Land aussah, das sich mit jedem Wellenberg hob und mit jedem Wellental senkte. Die Otto II durchpflügte diese Oberfläche und ließ einen Pfad freien Wassers hinter sich zurück, der jedoch nur wenige Sekunden lang bestand, bevor er unter den treibenden Eisstücken wieder verschwand.

Mächtige Wellen schlugen gegen die Pylone an der Hafeneinfahrt. Tatsächlich schlugen sie gegen die sechs Meter hohen Eisklumpen, die Pylone bedeckten. Gary schüttelte verwundert den Kopf. Wenn diese Kälte anhielt, dann wäre die Hafeneinfahrt in etwa einem Tag zugefroren. Danach würde es nur noch Stunden dauern, bis der gesamte Hafen von einer Eisschicht bedeckt wäre. Genau das war im Winter ’68 geschehen – jedenfalls hatte ihm das sein Vater erzählt.

Gary zog den Gashebel zurück, und reduzierte damit die Geschwindigkeit und – wichtiger noch – den Motorenlärm. Der Wind war so laut, dass er das Blubbern des Motors übertönte, es sei denn, jemand erwartete ihn auf dem Dock. Die Otto II glitt durch die vereiste Hafeneinfahrt. Innerhalb der Hafenmauern waren die Wellen nur noch einen Meter hoch. Gary traute kaum seinen Augen – das Eis hatte nicht nur die Pylone, sondern auch Ufer und Dock anwachsen lassen – um mindestens neun Meter. Unermüdlich schleuderten die Wellen Wasser und neue Eisstücke gegen die zugefrorene, sich verbreiternde Küstenlinie.

Und jenseits des Hafens? Ein Psychopath mit einer Waffe. Korrektur: Waffen, und zwar einer ganzen Menge davon. Aber das spielte keine Rolle. Sein Vater brauchte ihn. Diese Menschen brauchten ihn. Er musste nichts weiter tun, als auf die Insel zu kommen, es bis zur Kirche zu schaffen und sie zurückzubringen. Sobald sie im Boot und runter von der Insel waren, waren sie in Sicherheit.

Er konnte nicht am Dock anlegen. Das Eis war dort wahrscheinlich viel zu dick, aber an der Grenze zum offenen Wasser war es zu dünn. Irgendwo in der Mitte wäre es so stabil, dass es sein Gewicht tragen würde. Er schob den Gashebel ein wenig vor, erhöhte ein wenig die Geschwindigkeit. Der äußere Rand des Eises brach mit einem deutlich hörbaren Knacken an den Bootswänden. Das Knacken verwandelte sich in ein Knirschen und dann in ein Mahlgeräusch, während das Boot langsamer wurde und zentimeterdicke Eisschollen beiseiteschob. Schließlich hielt die Otto II viereinhalb Meter vom Dock entfernt an.

Gary schaltete den Motor ab, so dass nur noch das Heulen des Windes und das Schaben der Eisbrocken zu hören waren, die mit der Wellenbewegung aneinanderrieben, als ob jemand Styroporplatten übereinanderschob. Er zog seine orangefarbene Schwimmweste an. Wenn er ohne sie ins Wasser stürzte, hätte er kaum eine Chance, lange genug zu überleben, um es wieder zurück in die beheizte Schiffskabine zu schaffen.

Er griff nach dem Landungshaken, ging zum Bug und drückte die Spitze des Stocks gegen das Eis. Es schien dick genug, um ihn zu tragen.

Er schwang ein Bein über die Reling, hielt sein Gewicht aber noch auf der Innenseite des Bugs und setzte den Fuß aufs Eis. Dann drückte er mit dem Fuß gegen das Eis. Es hielt. Er setzte den anderen Fuß aufs Eis, hielt jedoch Oberkörper und beide Arme noch im Boot. Er drückte heftiger, so dass das Eis mehr von seinem Gewicht tragen musste. Es hielt immer noch. Die Wellen schleuderten Wasser und Eisstücke gegen seine Füße. Er schluckte heftig und verlagerte langsam sein Gewicht, wobei er sich mit den Händen immer noch an der Reling festhielt, um nicht einzubrechen, wenn das Eis plötzlich nachgeben sollte.

Das Eis hielt.

Langsam schob er einen Fuß nach dem anderen voran, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass er sein Gewicht stets auf beide Beine verteilte. Gefährlich würden jetzt nur die ersten Meter. Am Dock musste das Eis mindestens fünfzehn Zentimeter dick sein, stark genug, um ein Dutzend Männer zu tragen.

Drei Meter vom Boot entfernt knackte das Eis unter seinem linken Fuß. Mit einem gurgelnden Geräusch strömte das Wasser durch die dünnen Risse.

Gary verharrte vollkommen regungslos und wartete eine scheinbare Ewigkeit lang darauf, dass das Eis brach. Doch es hielt. Er schob seinen linken Fuß nach vorn an den wässrigen Rissen vorbei. Nach ein paar tastenden Schritten wusste er, dass er es geschafft hatte. Vorsichtig ging er den Rest der Strecke zum Dock.

Gut möglich, dass die schneebedeckte Insel bei Tag eine echte Schönheit war, doch in der Dunkelheit wirkte sie durch das Nachtsichtgerät wie grün eingefärbtes, atomverseuchtes Ödland. Wind trieb Pulverschnee über das Ufer. Schneebedeckte Kiefern sahen aus wie schwere, von grünlich-weißem Schleim bedeckte Monster.

Gary tastete unter dem Schneeanzug nach der Ausbuchtung an seiner linken Hüfte – das Gewicht der Waffe verschaffte ihm eine gewisse Beruhigung. Er ging zum Schuppen am Anfang des Docks. Mit seinem Ski-Doo-Schneemobil würde er die eineinhalb Kilometer bis zur Geisterstadt rasch hinter sich bringen. Zu Fuß ginge alles leiser und diskreter, doch irgendwo da draußen war Magnus Paglione, und Gary hatte keine Lust, sich mit ihm auf einen Wettlauf auf Leben und Tod einzulassen. Irgendwie hatte er den Verdacht, dass ein ehemaliger Killer der Special Forces besser in Form war als ein Kiffer, der es sich am liebsten am Strand gemütlich machte.

Er stapfte durch eine Schneewehe, die den Eingang blockierte und betrat den Schuppen. Bei den ersten beiden Startversuchen gab der Motor des Ski-Doo nur ein kurzes Gurgeln von sich und erstarb dann wieder. Beim dritten Versuch erwachte er dröhnend zum Leben.

Gary schleuderte die Schwimmweste beiseite. Wenn er fliehen oder sich verstecken musste, war Leuchtorange nicht gerade die günstigste Farbe. Gary steuerte die Maschine hinaus auf den Weg. Er fuhr langsam, damit der Motor so leise wie möglich blieb. Er ließ die Scheinwerfer ausgeschaltet und orientierte sich mit Hilfe seines Nachtsichtgeräts. Das Ski-Doo glitt durch den bis zu fünf Zentimeter tiefen Schnee, der sich angesammelt hatte, seit der Weg zum letzten Mal geräumt worden war. Rechts und links erhoben sich dunkle Wälder wie die Wände eines Canyons.

Schon nach drei Minuten konnte Gary den Kirchturm zwischen den Baumwipfeln erkennen. Er schob sich das Nachtsichtgerät vom Gesicht, öffnete seinen Schneeanzug und zog eine Taschenlampe heraus. Er richtete die Taschenlampe auf den Turm und ließ sie zweimal aufleuchten.

 

Sara und Tim saßen aneinandergedrückt unter drei Decken, die den kalten Wind kaum abhalten konnten, der durch die Zinnen des Glockenturms blies. Als Sara das zweimalige Aufblitzen auf dem dunklen Weg sah, der zum Hafen führte, konnte sie es zuerst nicht glauben — es wirkte so unecht. Beim zweiten doppelten Aufblitzen jedoch war sie sich sicher.

»Absolut unmöglich«, sagte Tim.

»Absolut möglich«, sagte Sara. Sie hob ihre eigene Taschenlampe, was aufgrund der dicken Fäustlinge von Clayton gar nicht so einfach war, und ließ ihrerseits als Antwort das Licht zweimal aufblitzen. Dann legte sie die Taschenlampe ab, griff nach dem Fernglas und suchte den schwach erleuchteten Platz mitten in der Stadt ab.

 

Gary sah die zwei Lichtblitze. Er musste vorsichtig sein. Konnte ja sein, dass Magnus sich dort oben versteckte und Gary in eine Falle zu locken versuchte. Erneut tastete er nach seiner Waffe, nur um sich ihrer noch einmal zu versichern. Alles war so verrückt, wirklich total durchgeknallt – er war doch nur ein Typ, der meistens in Bars rumhing, gelegentlich mit seinem Boot rausfuhr und nebenher ein bisschen Pot verkaufte. Er war kein Actionstar wie Onkel Clint.

Gary steckte die Taschenlampe weg und schob sich das Nachtsichtgerät wieder vor die Augen. Er konnte nicht wissen, wer sich wirklich im Glockenturm befand, weshalb es vernünftig war, für eine schnelle Fluchtmöglichkeit zu sorgen. Er wendete das Ski-Doo nur wenige Meter außerhalb der alten Stadt, so dass die Nase der Maschine in Richtung des Weges zeigte, auf dem er hergekommen war. Er rutschte vom Schneemobil. Jetzt oder nie. Sein Vater brauchte ihn. Ein schneller Gang zur Kirche und wieder zurück, und alles wäre so gut wie erledigt.

Erst als er die Stadt erreichte, sah er, dass sich etwas bewegte.

 

Sara senkte das Fernglas. »Verdammt, was ist das?«

»Was zum Teufel ist was?« Tim griff nach dem Fernglas, doch Sara schlug seine Hand weg und sah selbst wieder hindurch. Dort unten in der Dunkelheit bewegte sich etwas. Etwas Großes. Es lauerte zwischen den Bäumen am Rand der kleinen Stadt.

»Oh nein«, sagte sie leise. »Oh mein Gott, nein.«

 

Gary erstarrte. Anfangs hatte er noch gehofft, dass es am Nachtsichtgerät lag, doch er wusste, dass damit alles in Ordnung war. Am Stadtrand, nahe der Lodge, nicht einmal dreißig Meter weit entfernt stand … ein … Bär? Nein, der Kopf war zu groß. Viel zu groß. Durch das Nachtsichtgerät schimmerte das schwarz gefleckte weiße Fell dieses Dings in einem unnatürlichen Hellgrün. Ständig hob und senkte sich etwas auf seinem Rücken.

Das Wesen riss die Augen weit auf. Gary wusste das, weil durch das Nachtsichtgerät plötzlich zwei grün-weiße glühende Punkte in der Mitte des großen Kopfes zu sehen waren.

Die Kreatur sah ihn an. Ihr Maul war halb geöffnet, und ihre langen, spitzen Zähne schimmerten wie feuchte Smaragde.

 

»Lauf, du Idiot«, flüsterte Sara. »Siehst du sie nicht, verdammt nochmal?«

Der junge Mann stand vollkommen regungslos da und starrte auf die schattenhafte Gestalt an der Ecke der Lodge. Offensichtlich sah er nicht, wie die anderen Kreaturen – Sara schätzte, dass es mindestens zwanzig waren – aus allen Richtungen der Stadt auf ihn zukamen.

»Sara«, zischte Tim. »Was ist los? Sag was.«

Sie reichte ihm das Fernglas und deutete nach unten. »Sag mir, dass ich verrückt bin. Sag mir, dass diese Dinger nicht das sind, wofür ich sie halte.«

Tim starrte nur eine Sekunde lang hin. »Oh Scheiße, das gibt’s doch nicht.«

Das war nicht das, was Sara hören wollte. Sie begann, die Stadt und den Horizont nach irgendetwas abzusuchen, mit dem sie dem Mann dort unten helfen konnte.

 

Der Wind pfiff durch die schneebedeckten Kiefern. Langsam zog Gary einen seiner Handschuhe aus, ohne den Blick von der bärenartigen Kreatur in der Nähe der Lodge zu lösen. Wenn es ihm nicht gelang, Sara und Tim aus dem Gebäude zu holen, würden die beiden dort tagelang festsitzen. Er wusste zwar nicht genau, was für ein Tier er vor sich hatte, doch es handelte sich eben nur um ein Tier. Er war ein Mensch mit einer Schusswaffe.

Langsam griff er in seinen Schneeanzug, versuchte, seine Angst unter Kontrolle zu halten und ruhig zu bleiben. Irgendwo zu seiner Linken knackte ein Ast. Gary begriff, dass der Ast groß sein musste, wenn er das Geräusch trotz des Windes hören konnte. Wirklich groß. Besorgt drehte Gary sich um; er wusste bereits, was er sehen würde. Etwas mehr als zwanzig Meter von ihm entfernt schimmerte eine weitere dieser bärenartigen Kreaturen mit riesigem Maul grün im Licht des Nachtsichtgeräts. Auch dieses Wesen hatte seinen Blick direkt auf ihn gerichtet.

Das bescheidene Maß an Mut, das Gary gehabt haben mochte, löste sich augenblicklich in Luft auf. Waren da noch mehr dieser Kreaturen? Und wenn ja, wie viele noch? Gary blieb still stehen, sehr still, während sein Blick über die Landschaft schweifte.

Eine dritte Kreatur beim Geschäft für Jagdbedarf.

Eine vierte und eine fünfte bei der Kirche.

Eine sechste am Waldrand zu seiner Rechten.

Gary drehte sich um. So schnell wie das in seinem unförmigen Schneeanzug nur möglich war, sprintete er los. Das Wisch-Wisch seiner aneinanderreibenden Hosenbeine klang wie eine düstere Parodie auf im Winter spielende Kinder.

 

Vorsichtig nahm Sara die Kreatur ins Visier, die die Jagd auf Gary Detweiler anzuführen schien. Ein plötzlicher Schlag stieß sie gegen eine der Säulen und kräftige, knochige Finger legten sich über ihren Mund. Tim hatte sie umgerissen. Sara brachte wütend die Hände nach oben, um den Mann abzuschütteln, doch Tim beugte sich so weit vor, dass sich seine Lippen gegen ihr Ohr drückten.

»Beweg dich nicht!«, zischte er. »Bleib vollkommen ruhig. Diese Dinger sind direkt unter uns!«

Sie schob ihn weg, rührte sich aber nicht von der Stelle. Vorsichtig spähte sie über die Brüstung den Glockenturm hinab. Überrascht und erschrocken riss Sara die Augen auf. Im Mondlicht, das den schneebedeckten Boden in einen grau-weißen Schimmer tauchte, zählte sie sieben Kreaturen, die allesamt zum Glockenturm hinaufsahen.

Sie sehen uns direkt an.

Zuerst kam es ihr so vor, doch dann begriff Sara, dass die Wesen ihre Köpfe suchend hin und her drehten. Sie sahen Sara nicht an, aber es war ganz offensichtlich, dass sie nach ihr suchten.

Ein Brüllen – tief und rau und hasserfüllt und wild – erhob sich auf dem Weg, der zum Dock führte.

 

Als er dieses erste Brüllen hörte, blieb Gary fast das Herz stehen, doch seine Beine waren nicht so dumm – sie stürmten weiter. Gary rannte um sein Leben. Ein weiteres Brüllen, jetzt schon näher. Gary legte all seine Energie in diesen Sprint, seine schweren Stiefel bohrten sich in den schneebedeckten Boden, seine Arme pumpten heftig, seine Beine wirbelten voran.

Wie ein Revolverheld, der sich im Wilden Westen aufs Pferd schwingt, sprang Gary mit gespreizten Beinen nach vorn und landete mit dem Hintern auf dem weichen Sitz des Ski-Doo. Der warmgelaufene Motor sprang beim ersten Versuch an, Gary riss das Gas auf und schoss auf dem Waldweg zurück.

Immer mehr dieser Wesen – oh fuck wie viele sind da denn noch – strömten aus dem Baumdickicht und kamen von allen Seiten auf ihn zu. Die Geschwindigkeit des Schneemobils trug Gary an den keuchenden, muskulösen Körpern vorbei. Für die Fahrt, die, bei aller Vorsicht, auf dem Hinweg fünf Minuten gedauert hatte, brauchte er jetzt, mit Vollgas, nur wenig mehr als eine Minute. Vor ihm erhob sich die Düne, und dahinter lag bereits sein Boot.

Noch eine. Die Kreatur kam von der Hafenseite der Düne. Sie blieb auf der Kuppe stehen, zusammengekauert wie ein Tennisspieler, der darauf wartet, den Ball zurück über das Netz zu schlagen. Gary wurde langsamer. Er zog die Maschine hart nach rechts und näherte sich der Dünenkuppe von der Seite. Das Monster kam die Düne herab, um ihm den Weg abzuschneiden. Als es den Schlitten fast schon erreicht hatte, drehte Gary den Gashebel wieder voll auf. Das Monster versuchte, seinen Weg zu ändern, doch Gary war bereits an ihm vorbei.

Er riss das Schneemobil gerade noch rechtzeitig nach links, um über die Kuppe hinweg hoch in die Luft zu schießen, und dann sah er das Boot wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung vor sich. So nahe. Die Maschine schlug hart auf, Gary bremste. Das Ski-Doo rutschte und schlidderte über den Schnee – doch Gary war bereits vom Sitz gesprungen und losgerannt, bevor das Schneemobil zum Stehen kam.

Ein weiteres Brüllen – Jesus oh Scheiße oh Gott – nur wenige Meter hinter ihm. So nahe, dass er zu viel Zeit verlieren würde, sollte er nach seiner Waffe greifen. Das Ding mit dem riesigen Maul hätte ihn dann längst erreicht.

Gary sprintete das Dock entlang; das eisbedeckte Holz vibrierte unter seinen Stiefeln. Er zählte sechs Schritte, bevor er die heftigeren Vibrationen spürte, die von den stampfenden Beinen der Kreatur kamen.

Er erreichte das Ende des Docks und sprang ab wie ein Weitspringer. Hinter ihm knarrte das Holz, als sich etwas Massives davon abstieß.

Mitten in der Luft schlossen sich mächtige Kiefer um seine Brust. Er fühlte ein Dutzend Stiche und einen gewaltigen Druck, der alles zu zerquetschen schien, und dann krachte er mit voller Wucht auf das Eis wie auf Beton. Das Eis schien eine Sekunde lang – den Bruchteil einer Sekunde lang – zu halten, doch dann brach es unter ihm weg wie eine sich öffnende Falltür, und er sank in das eiskalte Wasser. Die Kälte raubte ihm den Atem. Die Luft blieb ihm mitten in der Brust stecken, starr wie das Eis, das Wasser der Bucht bedeckte.

Der beißende Druck war gewichen.

Schwimm oder stirb.

Er trat heftig mit den Beinen um sich. Das Wasser drang in seinen Schneeanzug und verwandelte ihn in einen Bleimantel, der ihn in die Tiefe zerrte. Er drückte die Beine noch energischer nach unten. Sein Kopf hob sich über die Wasseroberfläche. Einen kurzen, verzweifelten Atemzug brachte er zustande.

Wie der Weiße Hai aus den Tiefen des Meeres tauchte die Kreatur neben ihm auf. Sie schnappte mit ihrem riesigen Maul nach Luft, während ihre gewaltigen Klauen auf das Wasser einschlugen und an der dünnen Eisdecke Halt zu finden versuchten, die unter jedem ihrer Schläge weiter abbrach.

Gary versuchte zu schwimmen. Seine Arme und Beine schienen inzwischen nur noch langsam zu reagieren. Es war, als schwimme er in Treibsand. Immer wieder sank sein Kopf unter Wasser. Er kämpfte sich hoch, doch der Schneeanzug schien ihn so sicher in die Tiefe zu ziehen wie ein Anker.

Schwimm oder stirb.

Er stieß ein wütendes Knurren aus, trat heftig um sich und kämpfte sich an die Wasseroberfläche. Das Boot war so nahe. Er war nur noch wenige Meter entfernt.

Hinter ihm versank die Kreatur ein letztes Mal in den Wellen. Gary warf einen Blick über die Schulter, obwohl er wusste, dass er nur noch wenige Sekunden zu leben hatte, und obwohl er wusste, dass er alle Kraft zusammennehmen musste, konnte er nicht anders.

Überall auf dem Dock wimmelte es von diesen Kreaturen. Das fahle Mondlicht schimmerte in ihrem weißen Kuhfell und ließ die schwarzen Flecken so dunkel erscheinen wie die Nacht selbst. Dutzende der Monster drängten sich an den Rand der Holzplanken und starrten mit schwarzen Augen auf Gary hinab. Doch sie verfolgten ihn nicht. Und er hatte es fast geschafft …

Er versuchte zu schwimmern, doch seine Muskeln gehorchten ihm nicht länger. Seine Kehle verschloss sich, als ob man ihm einen Korken hineingestopft hatte. Er konnte nicht mehr atmen. Der völlig durchnässte Schneeanzug zog ihn wieder in die Tiefe.

Noch einmal hob er die Hand und streckte den Arm nach der Leiter am Heck der Otto II aus. Nasse, glitschige Fäustlinge griffen nach der untersten Sprosse und rutschten ab. Seine Hände sanken herab, und Wasser drang in seinen Mund.

Schwimm … oder

 

Sara und Tim beobachteten die sieben Kreaturen im Kuhfell, die vor der Kirche umherstreiften – die schnüffelten, lauschten, Ausschau hielten. Sie wollten nicht verschwinden.

»Du bist der Experte«, flüsterte Sara mit fast unhörbar leiser Stimme. »Was sollen wir tun?«

Tim schüttelte langsam den Kopf und zuckte mit den Schultern.

Plötzlich hörten die Kreaturen auf zu schnüffeln. Sie hoben die Köpfe und sahen in Richtung Norden. Alle schienen sie etwas zu hören. Auch Sara lauschte, und ein paar Sekunden später hörte sie es ebenfalls … ein schwaches, weit entferntes Geräusch.

Das Geräusch eines Motors.

Wie ein einziges Wesen stürmten die Kreaturen davon. Sara beobachtete, wie sie verschwanden, ihren merkwürdig kauernden, watschelnden Gang, als sie in den Wäldern untertauchten.

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