9. November: Orangefarbene Spinnen

Jian wäre fast gestolpert, doch Coldings starker Arm hielt sie fest. »Mister Colding, ich möchte noch nicht schlafen. Wir haben noch jede Menge Arbeit zu erledigen.«

»Sie überzeugen mich immer noch nicht«, sagte Colding. »Gehen Sie weiter, Mädel, Sie werden jetzt schlafen.«

Er führte sie durch einen der Flure des Landhauses. Jian, Rhumkorrf und Tim hatten die Implantation abgeschlossen. Jede Kuh trug nun eine Blastozyste in ihrem Uterus. Diese Blastozysten würden sich schon bald in die Uteruswand einnisten und einen Embryo und eine Plazenta ausbilden. Danach würde der von Jian entwickelte genetische Code dafür sorgen, dass die Embryonen sich teilten und Zwillinge mit nur einem Chorion und nur einem Amnion bildeten. Mister Feely nannte das das Sonderangebot der Genetik: zwei zum Preis von einem. Manchmal kam es sogar zu einer weiteren Teilung, so dass Drillinge entstanden. Zu all dem kam es natürlich nur, wenn das Immunsystem die Embryonen auch weiterhin als körpereigen akzeptierte.

Bewegung.

Da drüben, zu ihrer Linken. Schnell sah Jian dorthin. Nichts. War da ein orangefarbener Streifen gewesen?

»Jian«, fragte Colding, »sind Sie okay?«

Sie starrte noch einen Augenblick in die Richtung, doch da war tatsächlich nichts. »Ja. Es geht mir gut, Mister Colding.«

Sie gingen weiter. Colding war wirklich ihr einziger Freund, ihr einziger wahrer Freund, seit die Regierung entschieden hatte, dass sie ein Genie war. Damals war sie sieben Jahre alt gewesen. Man hatte sie aus ihrer Heimat in den Bergen fortgeholt, sie ihrer Familie weggenommen und in besondere Schulen gesteckt.

Es dauerte nicht lange, und Jian hatte Anlass zu noch größeren Hoffnungen gegeben. Sie war sogar ihren Kollegen an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften voraus. Im Alter von elf Jahren veröffentlichte sie ihre erste wissenschaftliche Arbeit über Genetik. Mit dreizehn Jahren hielt sie auf Konferenzen Vorträge, und ihr Gesicht ging durch sämtliche Medien. Sie war das Aushängeschild für Chinas Aufstieg zur Wissenschaftsnation.

Dann geschahen zwei Dinge. Sie fing an, schlimme Dinge zu sehen. Und sie entdeckte Computer.

Zunächst waren die schlimmen Dinge eigentlich nur merkwürdige Dinge. Schatten am Rand ihres Gesichtsfelds. Dinge, die sich versteckten, wenn sie nach ihnen Ausschau hielt. Doch die Visionen wurden schlimmer. Manchmal sahen diese Dinge aus wie kleine blaue Spinnen. Manchmal sahen sie wie große, orangefarbene Spinnen aus. Manchmal kletterten sie auf ihr herum. Und manchmal bissen sie sie.

Selbst als Jian den Leuten die Verletzungen auf ihren Armen zeigte, glaubte ihr niemand. Sie bekam Medikamente. Manchmal halfen sie. Manchmal nicht. Was jedoch fast immer half, war der Computer. Jian gehörte zu den ersten Menschen auf der Welt, die es verstanden, einen Computer für die Digitalisierung von Gensequenzen zu nutzen, und die begriffen, dass die Welt aus Silizium und Elektronen die submikroskopische Welt der DNS minuziös nachbauen konnte. Und wenn sie sich in den genetischen Code vertiefte, dann sah sie nur noch diesen Code vor sich. Keine Spinnen mehr.

Die Jahre verstrichen. Einige waren schwieriger als andere. Die Medikamente wechselten. Die Spinnen verschwanden eine Zeit lang, und an ihrer Stelle erschienen grüne Ratten mit langen Zähnen, doch dann kamen die Spinnen zurück, aber die Ratten blieben ebenfalls. Als sich über einen Meter lange purpurfarbene Tausendfüßler den Spinnen und den Ratten anschlossen, wollte Jian zum ersten Mal mit allem Schluss machen. Die Leute hinderten sie daran. Sie hinderten sie daran und sorgten dafür, dass sie sich wieder an die Arbeit machte, doch es ist schwierig zu arbeiten, wenn Spinnen und Ratten und Tausendfüßler einen beißen. Schließlich gaben ihre Vorgesetzten es auf, Arbeiten von ihr zu verlangen, die sie niemals abschließen würde. Sie ließen sie in Ruhe und erlaubten ihr, die computerisierte Welt von vier Buchstaben zu erkunden: A, C, G und T.

Irgendwann im Laufe dieser Forschungen – sie wusste nicht mehr genau, wann – begann sie wieder wissenschaftliche Artikel zu verfassen. Die meisten davon beschäftigten sich mit einer Theorie zur Digitalisierung des gesamten Säugetiergenoms und konzentrierten sich auf die Schaffung einer virtuellen Welt, die zeigen sollte, welche Verbindungen es zwischen den einzelnen Säugetierarten gab. Weil kein direkter kommerzieller oder medizinischer Nutzen erkennbar war, ließen ihre Vorgesetzten sie einfach weiter ihre Artikel schreiben. Wenn auch sonst nichts dadurch zu gewinnen war, so machte ihr Genie doch wenigstens den Ruhm der Chinesischen Volkspartei weithin sichtbar.

Und dann verkündeten Jians Vorgesetzte ihr eines Tages, dass sie das Land verlassen werde. Sie schickten sie zu Danté Paglione und Genada, um mit Claus Rhumkorrf zusammenzuarbeiten. Spiel du nur weiter mit deinen Computern, sagten sie zu ihr. Wenn es funktioniert, wird man dir eines Tages Denkmäler errichten.

Sie begann mit Versuchen am Menschen und verpflanzte ihre mit Hilfe des Computers geschaffenen Genome in den Mutterleib von Freiwilligen, die genau genommen nicht wussten, was sich da eigentlich abspielte. Jian wusste, dass das falsch war, doch wenn man nicht schlafen kann, weil einem ein Dutzend haariger Spinnen über das Gesicht krabbeln, spielen richtig und falsch keine große Rolle mehr.

Die Experimente waren ein schlimmer Fehlschlag. Einige Ergebnisse waren schlimmer als die Spinnen und die Ratten und die Tausendfüßler. Jian versuchte, diese Ergebnisse zu vergessen.

Dann hatte Danté Tim Feely und P.J. Colding eingestellt. Colding sorgte dafür, dass Genada die Versuche am Menschen einstellte. Und er kümmerte sich darum, dass Rhumkorrf Jian neue Medikamente verschrieb.

Die Spinnen verschwanden.

»Das ist Ihr Zimmer«, sagte Colding. »Gefällt es Ihnen?«

Sie berührte die kastanienbraune Tapete und fuhr mit den Fingern über das samtige Muster. Eine einfache Plastiklampe schien an der hohen Decke ein wenig fehl am Platz; es war, als hätte man die Lampe, die eigentlich dorthin gehörte, eben erst entfernt. Ein schönes Holzbett mit vier Bettpfosten erwartete sie, seine dicke weiße Steppdecke rief nach ihr wie ein Liebhaber.

Aber am wichtigsten war natürlich der mit sieben Monitoren ausgestattete Computertisch. Genau wie in der C-5, genau wie auf Baffin Island. Das hatte Danté verstanden. Er sorgte immer dafür, dass Jian arbeiten konnte, wo immer sie auch sein mochte.

»Früher war das ein Ort für die Reichen und Berühmten«, sagte Colding. »Und genau das werden Sie auch bald sein. Reich und berühmt.«

Jian seufzte, als sie auf die Matratze kroch und überrascht feststellte, wie weich die dicke Daunensteppdecke war. Sie legte den Kopf aufs Kissen. Colding legte ihr die Decke um die Schultern.

Sie sah zu Colding auf. »Sie mögen Sara, nicht wahr?«

Er machte den Mund auf, schloss ihn aber gleich wieder.

»Mister Colding, sie ist sehr nett. Sie sollten sich mit ihr verabreden.«

»Ich kann mich mit niemandem verabreden, Jian. Ich will damit sagen, meine Frau starb …« Seine Stimme verklang matt.

»Vor mehr als drei Jahren«, brachte Jian seinen Satz zu Ende. »Das ist eine lange Zeit, Mister Colding.«

»Drei Jahre«, sagte Colding leise, als probiere er aus, ob die Worte ihn schmerzten.

»Gehen Sie zu Sara. Gehen Sie sofort zu ihrem Zimmer und sprechen Sie mit ihr.«

Mit einer Handbewegung schickte sie ihn weg und war eingeschlafen, noch bevor er das Zimmer verlassen hatte.

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