7:06 Uhr
Sara, Tim, Colding, Clayton und Magnus beobachteten, wie die Stinger-Rakete eine weiße Rauchfahne hinter sich herzog. Merkwürdigerweise versuchte das anvisierte Ziel, hektisch seine auf und ab hüpfende kaputte Brille zurechtzuschieben: Claus Rhumkorrf sah die Rakete nicht kommen.
Die anderthalb Meter lange Rakete steuerte den heißen Auspuff des Sikorski an. Rhumkorrf hatte die Nase des Hubschraubers jetzt direkt auf das Stadtzentrum ausgerichtet. Die Rakete durchschlug das Cockpitfenster, und der Aufprall ließ den Sprengkopf explodieren, der sich in einen leuchtend-orangeroten Feuerball verwandelte.
Hubschrauberteile und brennender Treibstoff regneten auf die alte Stadt nieder.
Der Hubschrauber explodierte direkt in Fahrtrichtung des Schneemobils. Colding riss das Steuer hart nach rechts, von der Kirche weg. Die plötzliche Bewegung traf Clayton völlig unvorbereitet und schleuderte ihn vom Sitz. Er schlug auf dem schneebedeckten Boden auf, rollte einmal um die eigene Achse, schlidderte noch ein Stück weit und blieb dann liegen.
Er bewegte sich nicht.
Colding schaffte es, im Sitz zu bleiben, während er darum kämpfte, das Schneemobil wieder unter Kontrolle zu bekommen. Überall um ihn herum fielen brennende Wrackteile zu Boden. Er bremste und zog die Maschine nach links, als das Hubschrauberheck, dessen Rotor sich noch immer drehte, direkt vor ihm in den Schnee krachte. Diesmal jedoch hatte er die Richtung zu scharf gewechselt: Das Schneemobil brach nach rechts aus. Colding sprang von der Maschine, die sich dreimal frontal überschlug. Das Schneemobil landete mit gebrochenem Fiberglasrahmen krachend auf den Kufen, ein Totalschaden.
Colding schlug hart auf. Er roch die brennenden Federn, noch bevor er die Hitze spürte und begriff, dass sein Jackenärmel brannte. Er rollte sich über den Boden und drückte den brennenden Ärmel in den Schnee. Die Flammen erstarben mit einem Zischen, bevor er sich ernsthaft verletzen konnte.
Er erhob sich. Rauch und Dampf stiegen aus seinem Ärmel auf, in seinem Gesicht ein zu allem entschlossener Blick. Er zog das SA80 von der Schulter und sah sich nach seinem Ziel um.
Eine Stimme von hinten.
»Fallen lassen, Bubbah.«
Wut. Angst. Colding zitterte. Er kämpfte dagegen an, herumzuwirbeln und mit dem SA80 das Feuer zu eröffnen. Er würde kaum eine Vierteldrehung schaffen, bevor Magnus ihn erschießen würde. Er konnte nichts tun.
Colding ließ das Gewehr fallen.
»Und die Beretta auch«, befahl Magnus. »Schön langsam.«
Vorsichtig zog Colding die Beretta aus seinem Schneeanzug und warf sie weg. Sie landete mitten im Schnee und verschwand.
»Und jetzt heb die Hände und dreh dich um. Wir beide haben eine Verabredung mit einer scharfen kleinen Lady.«
7:08 Uhr
Ein Schwall brennenden Benzins hatte die Lodge in Brand gesetzt. Sara sah, wie längliche Flammen hoch in den morgendlichen Himmel stiegen und im auffrischenden Wind hin und her tanzten. Innerhalb von fünfzehn Minuten, so schätzte sie, würde das alte Holzgebäude vollkommen in Flammen aufgehen. In mehreren Gebäuden der alten Stadt waren Schwelbrände oder offene Feuer zu erkennen. Die Kombination aus Sikorski und Stinger würde das zu Ende bringen, was fünfzig Jahre zuvor mit einem Minenunfall begonnen hatte.
Noch schlimmer war, dass die Kirche selbst in Flammen aufgehen würde. Ein Stück des Hubschraubermotors war wild kreiselnd durch die Luft gesegelt, bevor es nach gut dreißig Metern in einem hohen Bogen in das Kirchendach gekracht war. Überall flammten kleine Feuer auf, die sich zwischen den Schieferschindeln hindurch bis auf das alte Holz darunter gruben.
Von ihrer Position im Turm aus konnte sich Sara den Flammen nicht nähern. Und selbst wenn das möglich gewesen wäre, hätte sie nichts bei sich gehabt, um das Feuer zu löschen. Der steinerne Glockenturm konnte sie nicht retten: Sobald der Brand sich vollständig ausgebreitet hätte, würden sie und Tim von unten her gegrillt werden, sofern der Rauch sie nicht schon vorher umbrachte.
»Tim, wir müssen hier weg.«
»Scheiß drauf«, sagte Tim. »Der Hubschrauber, die Explosion – der Lärm wird die Monster herlocken.«
»Wir hauen ab, oder wir werden geröstet. Komm schon!«
Einen Augenblick lang rührte sich Tim nicht von der Stelle, doch dann humpelte er mit seiner Krücke zur Falltür. Sara öffnete sie für ihn. Tim begann ungeschickt nach unten zu klettern, als sie plötzlich hörten, wie der Tod seine Stimme erhob.
»Saaaaaraaaaa.« Magnus’ Stimme. Aus dem Inneren der Kirche. »Sara, ich habe jemanden hier, der dich sehen möchte.«
Rasende Wut entstellte Saras Gesicht, obwohl der Drang wegzurennen und sich zu verstecken ihr den Magen zusammenpresste.
Angst hin oder her, es gab nur einen Ausweg, und der führte über Magnus Pagliones Leiche.
»Bleib hier oben«, sagte sie zu Tim. »Um das hier muss ich mich kümmern.«
Sie stieg die Leiter hinab.
7:09 Uhr
Colding stand im Mittelgang der Kirche zwischen zerbrochenen und vermodernden Kirchenbänken, während eine Waffe auf seinen Rücken gerichtet war. Es roch bereits nach Rauch. Zu seiner Linken schlugen kleine Flammen aus dem Dachgebälk und tauchten die Kirche in ein flackerndes Licht. Einige Sonnenstrahlen fielen durch die Bleiglasdarstellung der zwölf Apostel. Auf der Chor-Empore zu seiner Rechten sah er für einen kurzen Augenblick jemanden aufblitzen, der in der Dunkelheit Schutz gesucht hatte.
Sara.
Auch Magnus, der hinter ihm stand, hatte sie gesehen.
»Es ist der Ost«, rief Magnus zur Empore hinauf, »und Sara die Sonne. Ich habe deinen Freund zu einem kleinen Besuch mitgebracht.«
Magnus umfasste die Kapuze von Coldings Parka mit festem Griff und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg. Magnus war zu klug, als dass er die Waffe Colding direkt in den Rücken gedrückt hätte, denn dabei hätte eine rasche Bewegung Coldings dazu führen können, dass der Lauf plötzlich ins Leere zeigte. Colding wusste, dass sich die MP5 in geringer Höhe neben Magnus’ Hüfte befand. Sollte Colding sich jäh umdrehen und ihn anzugreifen versuchen, würde ihm die MP5 Rippen und Magen in Fetzen schießen.
Eine weitere Bewegung auf der Empore, kaum wahrnehmbar und an einer anderen Stelle. »Glauben Sie etwa, dieser Scheiß könnte mich irgendwie beeindrucken?« Die Stimme kam aus den Schatten. »Dieser Bastard wollte mich draufgehen lassen.«
»Oh, ich bitte dich«, sagte Magnus. »Du weißt ganz genau, dass ich dafür verantwortlich war.«
»Bullshit. Ich werde euch beide erschießen. Und diesmal, Magnus, bringe ich die Sache zu Ende.«
Colding sah in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, doch er konnte sie in den dunklen Tiefen der Empore nicht erkennen. Verdammt, sie war geschickt. Colding ballte die rechte Hand zur Faust, streckte den Zeigefinger aus und hob den Daumen gekrümmt nach oben – das Zeichen für eine Pistole. Langsam schob er die linke Hand nach vorn und deutete auf seine Brust. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn verstand und tun würde, was er ihr zeigte.
Und ob sie überhaupt so gut zielen konnte …
Clayton hob den Kopf.
»Oh … ich brauche Urlaub.«
Überall um ihn herum brannte die alte Stadt, sein linkes Bein war gebrochen, die Kreaturen kamen immer näher, und dieser kanadische Scheißefresser hatte ihm den kleinen Finger abgeschnitten. Er krümmte sich zusammen und rührte sich nicht von der Stelle. Zuerst wollte er die ganze Situation überblicken, bevor er irgendetwas unternehmen würde.
Eine Bewegung zu seiner Linken, etwa zwanzig Meter entfernt, am Stadtrand, wo der Pfad in den Wald führte. Etwas Fleischig-Gelbes.
Er lag mitten zwischen brennenden Trümmerteilen, von denen schimmernde Hitzewellen aufstiegen, durch die man nur undeutlich sehen konnte. Wenn er vollkommen regungslos liegen blieb, konnte er sich so vielleicht ein paar Minuten lang vor den Kreaturen verstecken. Doch wenn er nicht von hier verschwand, würden sie ihn früher oder später schnappen.
Langsam drehte Clayton den Kopf nach rechts. Die Lodge brannte. Das trockene alte Holz glühte rot in den Flammen, die neun Meter hoch in die Luft ragten. Dort gäbe es keine Deckung.
Aber unmittelbar hinter der Lodge, jenseits der Flammen, durch die man alles nur wie durch Dunst hindurch erkennen konnte, sah er den kleinen Streifen eines vertrauten schwarz-weißen Musters. Clayton verzog das Gesicht, stellte sich auf den Schmerz ein und kroch langsam los.
7:10 Uhr
Das Feuer im Dachgebälk breitete sich langsam, aber unaufhaltsam aus und erfüllte die Kirche mit zuckendem, flackerndem Licht. Schatten tanzten hin und her und verliehen Kirchenbänken und dem großen Kruzifix ein unheimliches Eigenleben.
Tu es, dachte Colding, als ob sie seine Gedanken lesen könnte. Tu es, erschieß mich.
Magnus hielt sich hinter Colding, doch wieder rief er zur Empore hinauf. »Sara, warum schickst du nicht einfach Feely runter? Ich tausche Colding gegen ihn aus. Ich brauche dich nicht. Ich brauche nur Feely. Du weißt nicht genug, um mir gefährlich zu werden.«
»Warum haben Sie dann versucht, mich umzubringen?« Auch diesmal kam ihre Stimme von einer anderen Stelle.
»Ich wollte nicht dich töten. Ich wollte Feely und Rhumkorrf loswerden. Du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Was auch für meine Crew gilt.«
»Deshalb haben wir allen immer eine Risikozulage bezahlt«, sagte Magnus. »Denk nach. Jian ist tot. Rhumkorrf ist tot. Jetzt brauche ich nur noch Tim, und dann ist das alles hier vorbei. Du und Colding, ihr könnt beide eurer Wege ziehen. Wenn ihr es schafft, die Insel zu verlassen – umso besser. Dann hättet ihr wenigstens eine echte Chance zusammen. Was sagst du dazu?«
Schweigen.
»Was sollte mir Colding noch nützen, wenn er tot ist?«
»Er ist nicht tot«, sagte Magnus. »Er steht direkt – «
Der dröhnende Knall eines Schusses. Es war, als ramme jemand Colding einen Vorschlaghammer in die Brust. Instinktiv duckte er sich nach hinten weg. Seine Füße blieben in einer Kirchenbank hängen, er taumelte gegen Magnus, stürzte auf seine rechte Seite zu Boden Und drehte sich mit dem Gesicht nach unten; er rührte sich nicht mehr.
Magnus verbarg sich halb unter einer Kirchenbank in der Hoffnung, dass Kugeln von Kaliber .40 sie nicht durchbohren würden. Ein weiterer Schuss fiel. Die Kugel klatschte in das gefrorene, modrige Holz.
»Wie finden Sie das, Magnus?«, rief die Stimme aus den Schatten der Empore. »Jetzt haben Sie keinen verdammten Furz mehr, den Sie gegen irgendwas austauschen könnten, Sie krankes Arschloch!«
Er tauchte blitzschnell hinter der Kirchenbank auf und eröffnete das Feuer auf die Chor-Empore. Teile des Geländers lösten sich in einem Schauer aus Holzsplittern auf. Plötzlich war Sara wieder woanders. Magnus duckte sich, als sie erneut auf ihn feuerte.
Sara blieb auf dem Bauch liegen und schoss zwischen den noch stehenden Speichen des Geländers der Chor-Empore hindurch. Das wild flackernde Licht des Feuers machte es schwierig, Magnus ins Visier zu nehmen, der zwischen den Kirchenbänken hindurchkroch und immer wieder auftauchte, um die Empore mit einem Kugelhagel zu überziehen. In all dem Rauch konnte Sara kaum atmen. Sie hatte noch zwei Schuss, vielleicht auch drei – verdammt, sie hatte es nicht mehr geschafft, genau mitzuzählen.
Ich habe auf ihn geschossen. Er WOLLTE, dass ich auf ihn schieße.
Colding musste eine kugelsichere Weste tragen; nur so war zu erklären, warum er so etwas von ihr gewollt hatte. Dadurch, dass sie auf ihn geschossen hatte, beraubte sie Magnus seines menschlichen Schutzschilds, und sie hatte perverserweise so dafür gesorgt, dass Colding außer Gefahr war. Im Stillen betete sie, dass sie sein Zeichen nicht irgendwie missverstanden und gerade den Mann umgebracht hatte, den sie liebte.
Sara drückte sich vom Rand der Empore nach hinten, damit sie sich nicht mehr in Magnus’ Blickfeld befand. Sie rollte sich mehrmals um die eigene Achse nach links. Sie musste in Bewegung bleiben. Ein Brennen schoss durch ihr Bein. Sie trat um sich und schleuderte ein schwelendes Stück Dachgebälk beiseite. Über ihr krochen Flammen die Decke entlang. Wieder rollte sich Sara mehrmals zur Seite, um der heißen Stelle zu entkommen. Flach auf dem Boden liegend schob sie sich vorsichtig erneut nach vorn an den Rand der Empore.
7:11 Uhr
Colding hustete. Ein dünner Faden aus Spucke und Blut landete auf seinem Kinn. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Baseballschläger quer durch die Brust getrieben. Er schob eine Hand unter die kugelsichere Weste. Es tat weh, es tat weh wie verrückt, doch als er seine Hand wieder zurückzog, klebte kein Blut daran. Das Blut in seinem Mund stammte anscheinend nur von der Lippe, die er durchgebissen hatte.
Er spähte unter den Kirchenbänken hindurch, der einzigen Perspektive, die er aus seiner liegenden Position heraus gewinnen konnte. Er konnte Magnus nirgendwo sehen. Alle paar Sekunden krachten Teile des brennenden Dachgebälks herunter wie kleine Meteore, die zur Erde fielen. Einige Kirchenbänke waren von tanzenden Flammen eingehüllt, in anderen schwelte das Feuer nur. Kleine Feuer hüpften über den verzogenen hölzernen Fußboden. Immer mehr beißender Rauch erfüllte die Kirche, verdrängte den Sauerstoff und brannte in seinen Augen.
Colding drückte sich hoch auf die Knie und sah über die Kirchenbank hinweg. Es gab hier genug Deckung, vielleicht versteckte sich Magnus nur ein paar Meter von ihm entfernt. Colding wusste, dass er zum Altar sprinten, die Treppe zur Empore hinaufstürmen und zu Sara durchkommen musste, doch Magnus konnte ihn jederzeit dabei umlegen.
Plötzlich schwangen die schweren hohen Doppeltüren hinter ihm auf und krachten gegen die Innenseiten der Kirchenwände; das Morgenlicht strömte in das brennende Gebäude. Ein Dutzend gelber Rückensegel tauchte hinter den Kirchenbänken auf, schwärmte aus und bewegte sich auf ihn zu.
Der Schmerz in seiner Brust war vergessen. Colding stand auf, schob sich um das Eck der Kirchenbank und sprintete in Richtung Altar.
Als er hörte, wie sich die großen Türen mit einem Knall öffneten, spähte Magnus hinter dem großen Kruzifix beim Altar hervor. Durch das dunstige Hitzeflimmern und die immer größer werdenden Rauchwolken hindurch sah er, wie ein Dutzend Alptraumkreaturen in die Kirche trotteten – die Muskeln so dick wie bei Löwen auf Anabolika, die massiven Köpfe mit Kiefern ausgerüstet, die breiter und länger als die eines Krokodils waren, die seltsamen gelben Rückensegel in gieriger Erwartung zitternd auf- und zuklappend.
Eine Bewegung zu seiner Linken, die Bewegung eines Menschen. Colding, der auf die rechte Ecke des Altars zurannte. Erledige ihn, nimm einen Unsicherheitsfaktor aus dem Spiel und kümmere dich dann um alles Übrige. Magnus hob die MP5.
Jetzt hab ich dich, du Scheißkerl.
Sara hatte gesehen, wie sich Magnus hinter dem Altar versteckte. Sie hatte ihn beobachtet und auf die Gelegenheit zum Schuss gewartet. In einem kurzen Augenblick umfassenden Bewusstseins schien alles wie in Zeitlupe zu passieren, sie konnte alles erkennen: die Monster, die in der Kirche ausschwärmten; Colding, der auf die Treppe zurannte; Magnus, der sich um das Kreuz herumschlich und die MP5 anhob.
Sie erhöhte den Druck auf den Abzug. Unmittelbar bevor sich der Schuss löste, fiel ihr ein Stück brennendes Dachgebälk auf das Bein, wodurch sie die Waffe ein wenig nach rechts verzog und …
… die Kugel Kaliber .40 ein gewaltiges Stück aus dem hölzernen Kruzifix herausriss und sich ein wahrer Sprühregen von Splittern in Magnus’ Wange bohrte. Er duckte sich weg, das Gesicht von Schmerz verzerrt. An der anderen Seite des Kreuzes tauchte er wild um sich schießend wieder auf in der Hoffnung, Colding irgendwie zu treffen, doch dieser verschwand bereits die Treppe hinauf. Magnus sah nach rechts in Richtung des Hauptraums der Kirche. Etwa zwanzig Kreaturen. Einige rannten den Mittelgang entlang, andere krochen über die schwelenden Kirchenbänke – und sie alle hatten es auf ihn abgesehen. Magnus kam hinter dem Kreuz hervor und trippelte auf die Treppe zu, während er mit der MP5 das Feuer auf die Kreaturen eröffnete. Das Wesen, das ihm am nächsten war, stürzte zu Boden. Blut spritzte aus einem halben Dutzend frischer Schusswunden, doch es waren so viele dieser Kreaturen …
Sara schaffte es, die Flammen auf ihrem Hosenbein mit Schlägen zu ersticken. Dann spähte sie über den Rand der Chor-Empore hinweg nach einer weiteren Schussgelegenheit. Rauch brannte ihr in den Augen. Nur mit Mühe konnte sie ein Husten unterdrücken. Magnus schob sich mit schlurfenden Schritten nach links auf die Treppe zu, seine ganze Aufmerksamkeit auf jene merkwürdigen Land-Haie mit den flossenartigen Rückensegeln gerichtet. Er hatte keinerlei Deckung. Sie hob ihre Waffe, doch bereits während sie es tat, gab ihr Unterbewusstsein zu verstehen, dass etwas nicht stimmte.
Der Schlitten ihrer Pistole bewegte sich nicht mehr.
Die Kammer war leer.
Sie schob die Waffe in ihr Holster zurück und rannte auf die Leiter zum Glockenturm zu.
Mit vor Stress und Anstrengung pfeifenden Lungen erreichte Colding die oberste Treppenstufe. Wegen des Rauchs, der in dicken Schwaden über der Chor-Empore hing, musste er heftig husten. Durch die schwarzen Wolken hindurch sah er Sara am anderen Ende der Empore, ihre Füße hatte sie auf der untersten Sprosse einer Metallleiter.
»Peej, mach schon! Komm hier rauf!«
Colding rannte zur Leiter und begann hinaufzuklettern. Gegen allen Anschein hoffte er, dass Sara wusste, was sie tat.
Magnus sprintete die Treppe hinauf, wobei er so lange blindlings nach hinten feuerte, bis ihm ein Klicken verriet, dass die MP5 leer war. Noch im Aufsteigen versuchte er, ein frisches Magazin in die Waffe zu schieben, doch die Treppe war so schmal, dass es schwierig wurde, die Waffe in die entsprechende Position zu drehen, während er zwei Stufen auf einmal nahm. Die hölzernen Stufen schwankten unter dem Gewicht eines Wesens, das sogar noch größer war als er.
Er hatte die letzte Stufe fast schon erreicht, als ihn etwas von hinten traf. Sein Gesicht krachte auf den Steinboden der Chor-Empore, und die MP5 schlidderte davon. Das neue Magazin glitt ihm aus den Fingern, prallte von der Wand ab, rutschte über den Rand der Empore und fiel mitten zwischen die brennenden Kirchenbänke darunter.
Wie eine Flamme schoss ein schneidender Schmerz die Rückseite seines linken Beins hoch.
Magnus rollte sich auf den Rücken, winkelte das rechte Bein an und trat mit aller Kraft zu. Er spürte, wie sein Fuß gegen eine feste Masse aus Muskeln, Haut und Knochen prallte. Die Kreatur brüllte vor Wut und Schmerz. In einer einzigen fließenden Bewegung setzte sich Magnus auf, zog die Füße unter seinen Körper und kauerte sich auf seinen noch immer gebeugten Knien zusammen. Seine Finger ruhten auf dem Boden, die Zehen trugen sein gesamtes Gewicht. Das große Tier hatte sich von dem Tritt erholt. Es reckte seinen Oberkörper und stürmte die letzten fünf Stufen hinauf. Magnus sprang nach vorn. Er duckte sich unter dem Kiefer weg und rammte seine Schulter in die Kehle des Monsters. Der Aufprall schüttelte ihn heftiger durch als alles, was er jemals beim Football erlebt hatte, doch es gelang ihm, den Körper der Kreatur in dem engen Treppenhaus zu verkeilen. Vom Aufprall zurückgeworfen, schob sich Magnus nach rechts und legte seine mächtigen Arme um den fassdicken Hals des Wesens, den linken an die Kehle, den rechten in den Nacken. Der große Körper der Kreatur zuckte zwischen den Wänden des Treppenhauses hin und her und versperrte den anderen den Weg.
Magnus stieß sein eigenes wildes Gebrüll aus und drückte mit aller Kraft zu. Das muskulöse Monster warf seinen Kopf vor und zurück und versuchte, seine Kiefer für den Todesbiss in Position zu schieben, doch es konnte sich auf der schmalen Treppe nicht zur Seite drehen. Magnus stellte sich auf den Rhythmus der Kreatur ein: nach links ausschlagen, Pause, nach rechts ausschlagen, Pause. Dann hob er seine linke Hand und rammte dem Monster seinen Daumen in das rechte Auge. Er schob den Daumen tief nach unten und hakte sich damit in der Augenhöhle fest, indem er den Orbitalknochen wie einen Griff benutzte. Er riss den riesigen Kopf zurück, die Kiefer krachten klack-klack-klackend aufeinander, das Tier versuchte, sich wegzudrehen, doch seine Artgenossen versperrten die Treppe hinter ihm.
In jenem Sekundenbruchteil, den die Kreatur brauchte, um zu begreifen, dass sie nicht zurückweichen konnte, zog Magnus mit der rechten Hand sein Messer. Während sein linker Daumen noch immer in der Augenhöhle des Tieres klemmte, rammte Magnus ihm die Klinge des Ka-Bar in die Kehle.
»Du hast Danté umgebracht!« Spucke spritzte aus seinem Mund, sein Gesicht eine verzerrte Maske psychotischer Raserei. Magnus drehte das Messer, zog es heraus und stach wieder zu.
Blut sprudelte auf den Boden und über seine Beine. Der Strahl war so dick, dass Magnus trotz des Prasselns der Flammen und des Gebrülls der Brüder dieses Bastards hören konnte, wie das Blut laut auf den Steinen aufklatschte.
»Ihr alle habt Danté getötet! Hörst du, Colding? Ich werde dieses Ding hier umbringen, und dann werde ich dich erledigen. Du hast meinen Bruder ermordet!«
Die Kreatur wurde schwächer, und dann schoss sie plötzlich nach hinten die Treppe hinab. Das war doch gar nicht möglich! Magnus war einen Augenblick lang verwirrt, bevor er begriff, dass die anderen Monster die Kreatur aus dem Weg gezerrt hatten. Einige der Wesen fingen an, nach ihr zu schnappen, und bissen große Stücke aus ihr heraus, Fleischfetzen und Blut spritzten an Wände und Decke. Doch es waren nur einige, ein anderer Teil der Horde trampelte über die Fressenden und die Kreatur, die gefressen wurde, hinweg.
Magnus trat vor, um den Kampf aufzunehmen. Die Kreaturen konnten immer nur einzeln die Treppe hinaufgelangen, und er würde sie alle umbringen.
Im Nahkampf.
Eine nach der anderen.
7:14 Uhr
Sara kletterte durch die Falltür. Nur zwei Sprossen unter ihr war Colding stehen geblieben; er schaffte es einfach nicht, sich vom Anblick des Kampfes zu lösen. Er traute seinen Augen nicht. Nur Sekundenbruchteile, bevor ein gewaltiger Kopf aus dem Treppenhaus hervorschoss, drehte sich Magnus seitlich weg, so dass die Zähne der Kreatur mit einem lauten Klacken aufeinander schlugen, ohne etwas zu erwischen. Magnus’ Bein schoss nach vorn. Mit der Sohle seines linken Schuhs drückte er den Kopf des Monsters in eine Ecke der Treppe. Bevor die Kreatur reagieren und den Druck erwidern konnte, rammte Magnus ihr von oben das Messer in das linke Auge. Mit einem Schrei zog er das Messer heraus, drehte den Arm und trieb in einem von unten geführten Hieb die Klinge tief in den Hals des Monsters. Das Wesen kämpfte weiter, obwohl sich sein Blut über die bereits glitschigen Treppenstufen ergoss.
»Nein«, sagte Colding leise. »Du wirst nicht überleben.«
Er drückte seine Füße von außen gegen die Pfosten der Metallleiter und glitt nach unten. Dann griff er nach einem Stück einer heruntergefallenen brennenden Dachstrebe und hielt es wie eine Fackel. Die tanzenden Flammen ließen das brennende Ende zischen und knacken.
»Das ist für Jian und den Doc.« Colding holte aus und schleuderte das brennende Stück Holz nach vorn. Es überschlug sich dreimal in der Luft, bevor das flammenumhüllte Ende Magnus von links im Gesicht traf. Der große Mann schrie auf und fiel nach hinten auf den Rücken. Colding stürmte die Leiter hinauf.
Ein Monster trat aus dem Treppenhaus und kam auf Magnus zu.
Magnus’ Hände drückten gegen die verbrannte Wange. Seine Haut warf Blasen und er schrie vor Schmerz auf, aber wusste, dass er nicht nachlassen durfte. Er setzte sich rasch auf und versuchte, die Füße unter seinen Körper zu ziehen, doch bevor er es schaffte, schnappte ein breites Maul mit langen Zähnen nach seinem Gesicht. Magnus hob die Hände und verhakte seine Daumen von innen in der Haut, die auf beiden Seiten die Kiefer der Kreatur umschloss. Vierhundertsechzig Pfund drückten ihn nach unten. Er streckte die Arme nach vorn, so weit er konnte, während sich seine Finger von außen durch das grobe Fell des Monsters bohrten. Knirschend krachten die Kiefer kaum zwei Zentimeter vor seiner Nase aufeinander. Scharfe Klauen gruben sich in seine breite Brust.
Er versuchte gerade, seine Fersen nach oben zu bringen, um einen Karatetritt in Augenhöhe seines Angreifers zu landen, als eine zweite Kreatur von rechts auf ihn zukam und nach seinem Arm und seiner Schulter schnappte. Ihre Zähne gruben sich in seine Brust und durchbohrten seine Lunge.
Er riss die Augen auf und sein Körper wurde steif. Die Kreatur schüttelte ihn, brach ihm die Knochen, zerfetzte sein Fleisch. Wieder strömte ihm heißes Blut über das Gesicht, doch diesmal war es sein eigenes.
Eine Bewegung zu seiner Linken. Eine dritte Kreatur mit weit aufgerissenem Maul versperrte ihm den Blick auf das flackernde Licht des Feuers. Die einen Meter breiten Kiefer schlossen sich mit alles zermalmender Wucht. Zähne bohrten sich durch seine rechte Schläfe und seinen linken Wangenknochen und schlugen irgendwo in seinem Gehirn aufeinander.
Colding schloss die Falltür des Glockenturms mit einem Tritt. Sara stürzte auf ihn zu, endlich konnte er sie wieder umarmen. Sie wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ihr Körper schmiegte sich an ihn, und er spürte, wie seine Seele einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Er küsste sie auf die rußverschmierte Stirn.
»Ganz ruhig«, sagte er gerade laut genug, um sich durch das prasselnde Feuer Gehör zu verschaffen. Während er sie noch in den Armen hielt, sah er sich rasch um. Fast überall tanzte das Feuer auf dem Dach, die Flammen schossen zwischen den noch vorhandenen Schieferschindeln drei Meter weit in die Höhe. Aus dem Inneren der Kirche hörte er das Knacken schwerer Holzbalken, und dann krachte etwas inmitten der Flammen zu Boden. Kurz darauf hörte er das grauenvolle, tiefe Aufheulen der Kreaturen, die unten in der Falle saßen.
Die Flammen hatten sich fast bis zum Turm ausgebreitet. Zwar würden die Steinwände kein Feuer fangen, doch das war egal, denn die Hitze, die vom Glockenturm wie in einem Kamin weitergeleitet wurde, strömte mit gewaltigem Druck nach oben.
Er strich Sara über den Rücken. »Komm, Sara. Wir müssen von hier verschwinden.«
»Ach, lass sie doch weinen«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah Tim Feely, der sich vollkommen niedergeschmettert auf seine Krücke stützte. »Lass sie einfach weinen, Colding. Es gibt keinen Ausweg mehr. Selbst wenn wir es aus dem Turm nach draußen schaffen würden, dann wartet das hier auf uns.«
Colding schob Sara ein paar Schritte nach links, so dass er über die Brüstung sehen konnte. Dutzende Kreaturen lauerten am Fuß des Glockenturms. Einige versuchten, die schwarzen Felsquader hinaufzuklettern — ohne Erfolg. Andere bissen sogar in das Gestein, so dass Teile ihrer Zähne absplitterten, während sie versuchten, der kleinen Gruppe den Boden unter den Füßen wegzureißen. Alle paar Sekunden stürzte sich eine weitere Kreatur aus den offenen Doppeltüren. Einige der Monster brannten und zogen Rauchfahnen hinter sich her; der Gestank des brennenden schwarz-weißen Fells mischte sich mit dem Brandgeruch, der die gesamte Geisterstadt einhüllte.
Tim hatte Recht. Es war vorbei.
»Pssst«, tröstete Colding sie leise, als er Saras Kopf tätschelte. »Alles wird wieder gut.«
Tim fing an zu lachen – es war das kranke, irre Gelächter eines Menschen, der alle Hoffnung aufgegeben hatte. Doch trotz des Gelächters, trotz des tobenden Feuers und des Gebrülls der hungrigen Kreaturen hörte Colding noch etwas anderes.
Das gluckernde Brummeln des Ted Nugent.
7: 17 Uhr
Clayton Detweiler verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als er mit seinem gebrochenen Bein die Kupplung trat. Der Schmerz beherrschte seine Gedanken, doch er verdrängte ihn und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Er war im Leben schon schwerer verletzt gewesen.
»Ich hab was für euch, ihr kleinen Scheißer.« Mit seiner linken Hand hielt er das Lenkrad, mit seiner rechten die Uzi. »Zeit, die Gegend hier mal mit Leichen zu pflastern.«
Auf seinen schweren Panzerketten tauchte der Nuge hinter der brennenden Lodge auf und rollte in Richtung Kirche. Die Kreaturen, die den Glockenturm belagerten, drehten sich alle auf einmal um und stürmten auf das Fahrzeug zu.
Baby McButter sah, wie das seltsame, lärmende Tier brüllend auf ihre Geschwister zukam. Zuvor war es einfach nur dagesessen, lautlos und ohne sich zu rühren, und es hatte nicht wie etwas Fressbares gerochen. Jetzt schon. Doch es roch auch noch nach etwas anderem.
Es roch wie der Stock.
Dreimal klappte Baby McButter ihr Rückensegel hoch, um Alarm zu geben, doch einige ihrer Geschwister sahen sie nicht. Sie waren zu hungrig, um an die Gefahr zu denken.
Clayton stoppte den Nuge in der Nähe des Brunnens. Er rutschte zur Beifahrerseite, stieß sich auf seinem gesunden Bein ab und schob den Oberkörper aus der Dachluke.
»Habt ihr Hunger?«, schrie er der heranstürmenden Horde zu. »Onkel Clayton hat einen Snack für euch!«
Er schoss mit der Uzi in kurzen, kontrollierten Feuerstößen, genau wie Charlie Heston es ihm beigebracht hatte. Der erste Feuerstoß traf das vorderste Tier und riss es mitten in der Bewegung um. Gleich darauf erwischte Clayton zwei weitere Kreaturen – die erste wurde eindeutig getötet und der zweiten wurde das linke Bein weggerissen. Sie stürzte auf den schneebedeckten Boden und wand sich vor Schmerzen.
Clayton ließ sich ins Fahrzeug zurückgleiten und schloss die Luke. Er ließ den Motor aufheulen und fuhr direkt auf die verwundete Kreatur zu. Clayton Detweiler lächelte, als die Panzerkette die Brust des Wesens durchtrennte und zwei zuckende Körperhälften zurückließ.
Er steuerte zum Glockenturm und stoppte den Nuge. Dann führte er ein neues Magazin ein und schob den Kopf wieder aus der Dachluke. Ein großes Wesen stürmte um die Wölbung des Turms und suchte nach einer Möglichkeit, sich im Gestein festzukrallen. Dieser Bastard musste mal mindestens 500 Pfund wiegen – wenn nicht noch mehr.
»Ach, fick dich!«, meinte Clayton und drückte den Abzug durch. Fünfundzwanzig Kugeln flogen in weniger als drei Sekunden aus dem Lauf. Der Schädel der Kreatur löste sich in einer Wolke aus Hirnmasse, Knochensplittern und Blut auf. Sie stürzte nach vorn, bis sie mit den spärlichen Überresten des Kopfes gegen das vordere rechte Panzerlaufwerk des Ted Nugent krachte.
Clayton schob ein frisches Magazin in die Waffe und sah sich nach einem neuen Ziel um. Jetzt blieben die Monster auf Distanz. Sie versteckten sich in dunklen Ecken oder hinter kleineren Feuern, wo das Hitzeflimmern ihre Köpfe zu geisterhaft schimmernden Dämonenfratzen verzerrte. Die meisten Kreaturen blieben in gut sechs Metern Entfernung zurück, wo sie sich in wilder Verzweiflung auf die Leichen der getöteten Mitglieder ihres Rudels stürzten.
Clayton sah zum Kirchturm hinauf. Er erkannte die Gesichter von Colding, Sara und Tim, die sich fröhlich jubelnd über die Brüstung beugten.
7:19 Uhr
Colding sah zu, wie Clayton aus der Dachluke kroch. Das Gesicht des alten Mannes war schmerzverzerrt, doch er bewegte sich so schnell er konnte, und kletterte in den hinteren Teil des Fahrzeugs. Colding hatte Clayton Detweiler nie für einen schönen Menschen gehalten, doch als er sah, wie dieser Mann jetzt mit dem Transportkorb nach oben schwebte, eine Uzi um den Hals gehängt, vereinigte Clayton gleichzeitig Miss America, Miss Universe und das Playmate des Jahres in seiner fantastischen furzenden Gestalt.
Der Korb erreichte die Brüstung des Glockenturms. Colding hob die Hand und packte Clayton bei der Schulter. »Du bist ein verdammt gerissener alter Bastard! Du hast uns gerettet!«
Clayton schob die Hand weg und gab Colding die Uzi. »Ich bin völlig am Arsch. Wo ist Gary?«
»Ich habe ihn letzte Nacht gesehen«, sagte Sara. »Er musste auf seinem Schneemobil fliehen. Die Monster haben ihn gejagt, aber … ich weiß nicht, ob er es geschafft hat.«
Clayton sackte zusammen. Colding trat in den Transportkorb und schob sich unter seinen Arm, um den alten Mann zu stützen. Sara folgte ihm in den Korb, und dann half sie dem auf seiner Krücke humpelnden Tim. Die vier Menschen standen dicht an dicht. Colding bediente die einfachen Hebel, und der Korb senkte sich auf den Bv.
Die Kreaturen umkreisten ihre Beute, vermieden aber dabei geschickt, selbst zu einem leichten Ziel zu werden. Einige lauerten zwischen den ersten Bäumen am Waldrand, andere verbargen sich hinter brennenden Wrackteilen. Sie waren klug genug, um eine Straße zu blockieren, klug genug, um sich Deckung zu suchen. Colding durfte nicht damit rechnen, dass sie sich überhaupt wie Tiere verhielten.
Sara kletterte aus dem Transportkorb in den hinteren, offenen Bereich des Bv. Dann sprang sie heraus und rannte zur Fahrertür. Colding half Tim aus dem Korb, über den vorderen Teil des Bv hinweg und durch die Luke auf die Rückbank. Clayton schaffte es ohne Hilfe aus dem Korb, doch das linke Bein des alten Mannes sah schlimm aus. Seine Schneehose war in einem merkwürdigen Winkel zur Seite gedreht und schien an einem einzigen, blutigen Gelenk zu hängen. Ein komplizierter Bruch. Colding sah zu, wie Clayton Detweiler sich durch die Deckenluke schob, und versuchte sich vorzustellen, wie zäh dieser Mann sein musste, damit er seine Schmerzen so lange unter Kontrolle halten konnte, bis er sie alle gerettet hatte.
Bewegung. Rascheln. Die Kreaturen kamen näher.
Colding sprang zu Boden und rannte zur Beifahrertür. Er kletterte in den Wagen und schob seinen Kopf aus der vorderen Luke, wie er es bei Clayton gesehen hatte.
Von rechts stürmte eine Kreatur an den Bv heran. Colding hob die Uzi und gab einen raschen Feuerstoß ab. Einige Kugeln gingen ins Leere, doch wenigstens zwei trafen das Ding in die Brust. Es hielt inne, schlidderte noch ein kleines Stück weiter und zuckte wie ein Kind, das von einer Biene gestochen wurde. Colding gab zwei weitere Feuerstöße ab, als es davonhumpelte. Er war nicht sicher, ob er noch einmal getroffen hatte.
Clayton reichte Colding ein frisches Magazin nach oben. »Das ist das letzte«, sagte er. »Verschwenden Sie es nicht.«
Ein volles Magazin, das zweite ungefähr halbleer … fünfundvierzig Schuss, alles in allem.
»Festhalten«, rief Sara. Sie steuerte den Nuge von der brennenden Kirche weg. Der Platz im Stadtzentrum sah wie ein Kriegsgebiet aus; überall lagen verbogene, metallene Wrackteile, und alle Gebäude standen in Flammen.
Colding spürte, wie jemand am Saum seines zerfetzten Parkas zog. Er sah nach unten. Tim reichte ihm eine grüne Leinentasche. Colding warf rasch hintereinander mehrere Blicke hinein, ohne sich dabei länger als eine Sekunde von der Umgebung abzuwenden. Zwei, nein, drei Pfund Demex. Etwa zwei Dutzend Zünder. Sein Herz machte einen Sprung, als er die vier Magazine sah, doch dann wurde ihm klar, dass sie zu Magnus’ MP5 gehörten, die irgendwo in der brennenden Kirche lag.
Sara steuerte den Bv in Richtung Nordosten. Da sein Kopf aus der Luke ragte, der Wind ihm um die Ohren pfiff, das Feuer in der Stadt tobte und der Dieselmotor des Bv munter vor sich hingurgelte, musste Colding schreien, damit sie ihn hörte.
»Sara, wohin fährst du?«
»Zum Hafen! Vielleicht ist Garys Boot immer noch dort. Und dieses Ding hier hat kaum noch Sprit. Wahrscheinlich würden wir nicht mehr bis zum Landhaus kommen, also müssen wir zum Hafen.«
Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr einfach weiter. Den meisten Wrackteilen des Sikorski konnte sie ausweichen; wo das nicht gelang, fuhr sie einfach darüber. Der Nuge hüpfte leicht auf und ab, als er über verbogenes Metall und mehrere kleine Brandherde hinwegrollte.
Sara fuhr aus der Stadt heraus auf die Straße. Zu beiden Seiten erhob sich dichter, schneebedeckter Wald. Der Hafen war etwa eineinhalb Kilometer entfernt.
Drei Kreaturen huschten aus den Bäumen zur Linken. Colding gab einen raschen Feuerstoß auf die Kreatur ab, die die Gruppe anführte. Das Monster wurde langsamer, blieb jedoch nicht stehen. Er gab einen weiteren Feuerstoß von drei Schuss ab. Eine der Kugeln traf die Kreatur ins Auge. Sie ging wild um sich tretend zu Boden. Ihr Kopf zuckte wie auf dem elektrischen Stuhl. Ihre beiden Gefährten blieben stehen und sahen ein paar Sekunden lang dem flüchtenden Fahrzeug nach. Dann drehten sie sich um und griffen ihren gefallenen Kameraden an. Wenige Augenblicke später schlossen sich drei weitere Kreaturen mit brutaler Fressgier an. Die zu Boden gegangene Kreatur wehrte sich verzweifelt. Sie schlug mit ihren langen Klauen um sich und fügte ihren Angreifern mehrere blutige Wunden zu, doch schließlich rührte sie sich nicht mehr. Ihr Kadaver wurde zerfetzt und in riesigen Brocken verschlungen.
Colding hätte nicht im Traum daran gedacht, dass dermaßen ungezügelt brutale Wesen überhaupt existierten. Zum ersten Mal fragte er sich, ob diese Wesen in der Lage waren, sich fortzupflanzen. Sollte das der Fall sein und sollten sie es irgendwie schaffen, von der Insel zu gelangen … na ja, ehrlich gesagt war das dann nicht mehr sein Problem. Damit sollte sich jemand rumschlagen, der auf einer höheren Gehaltsstufe zu Hause war. Er selbst wollte einfach nur diese Leute in Sicherheit bringen.
Die Kreaturen setzten die Verfolgung fort. Sie rannten parallel zum Bv, blieben jedoch zwischen den Bäumen. Sie waren wie Schatten im tiefen Wald: weiß aufblitzendes Fell, das Funkeln eines vorgewölbten schwarzen Auges, aber nicht viel mehr. Etwa alle hundert Meter wurde eines dieser Wesen mutiger und griff an. Colding wartete jedes Mal, bis die Kreatur so nervenzerreißend nahe war, dass er sie nicht verfehlen konnte. Eine erwischte er mit einem glücklich platzierten Kopfschuss, bei dem die Kugel höchstwahrscheinlich in alle Richtungen durch den Schädel der Kreatur wirbelte und das Gehirn in Fetzen riss. Die anderen jedoch reagierten kaum mehr als verärgert über die Kugeln. Sie stürmten heran, fingen sich ein paar Schüsse ein, drehten dann ab und rannten zurück in den Wald. Colding brauchte keine Uzi … er brauchte eine verdammte Kanone.
Der Wind strömte mit über dreißig Stundenkilometer vom Ufer her auf sie ein. Dass der Nuge direkt in die Böen hineinfuhr, machte die Temperatur, die ohnehin nur bei sechs Grad unter null lag, noch schwerer erträglich für Colding. Sein Gesicht brannte. Seine Ohren und seine Nase fühlten sich taub an.
Sara war mit ihrem kontinuierlichen Tempo den kurzen Sprints der Kreaturen überlegen. Nach achthundert Metern fielen die Monster zurück. Das würde Colding einige wertvolle Augenblicke am Dock verschaffen.
Sie überquerten die Kuppe der Düne und rollten die andere Seite hinab. Vor ihnen breitete sich der wogende Lake Superior aus bis zum Horizont. Colding sah Garys Schneemobil in der Nähe des Docks. Und er sah die Otto II. Sie lag am äußeren Ende des Hafens, etwa sechs Meter innerhalb des nördlichen Wellenbrechers.
Der Bv wurde langsamer und rollte mit knirschenden Ketten über das Eis am Ufer, bevor Sara das Fahrzeug in der Nähe des Docks stoppte.
Clayton rief hinaus in den heftigen Wind. »Gary! Sohn! Bist du da?« Keine Antwort. Doch die Böen waren so laut, dass Gary ihn wahrscheinlich nicht einmal gehört hätte, wenn er sich tatsächlich auf dem Boot befunden hätte. Clayton sprang humpelnd aus dem Fahrzeug, griff dann noch einmal nach innen und packte Tims Krücke.
»Hey«, beschwerte sich Tim.
»Leck mich«, meinte Clayton und begann, hinaus auf das Eis zum Boot seines Sohns zu hinken.
Colding warf vom Bv aus einen Blick nach hinten – keine Anzeichen der Kreaturen. Sie hatten es geschafft.
Dann wandte er sich nach vorn zum Boot und sah es.
Sie alle sahen es.
Sara stieg aus der Fahrerkabine. Sie stand nur da und starrte hinüber.
»Nein«, rief Tim, der noch im Bv saß, erschüttert. »Nein. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.«
Colding warf einen Blick hinunter auf Sara, die so kraftlos mit den Schultern zuckte, als laste das Gewicht der ganzen Welt darauf.
Er sah wieder hinaus in den Hafen, seine Gedanken rasten angesichts des jüngsten Rückschlags.
Der Hafen war völlig zugefroren. Bis zur Spitze der Wellenbrecher und sogar darüber hinaus zog sich eine unregelmäßig geformte, schneebedeckte Eisschicht wie ein massives Feld aus geborstenen, weißen Betonblöcken. Die Otto II saß in der Mitte mit einer leichten Schlagseite nach Backbord, wo das Eis unregelmäßig gefroren war und das Boot schräg zur Seite geneigt hatte.
Der kalte Wind fuhr Colding immer stärker in die Knochen. Er wollte sich nur noch hinlegen. Sich hinlegen und schlafen.
»Peej«, fragte Sara, »was sollen wir tun?«
Es gab kein Zurück mehr, es musste einen Weg geben. »Der Bv ist doch ein Amphibienfahrzeug, oder?«
Sara schüttelte den Kopf. »Ja, schon. Aber es ist vollkommen unmöglich, dass es diese Blechbüchse bis zum Festland schafft. Sieh dir mal diese Wellen da draußen an.«
Weit außerhalb der Wellenbrecher erhoben sich viereinhalb Meter hohe Wellen wie Meeresungeheuer, die nach einem Opfer jagten. »Vielleicht schaffen wir es ja nicht bis zum Festland, aber wir könnten raus aufs Eis und ins Wasser fahren und dort auf Hilfe warten.«
Sara zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber wenn uns das Benzin ausgeht, schieben uns die Wellen zurück zur Insel. Du weißt, was dann passiert.«
Colding verlor die Kraft – wegen der Kälte und wegen der Verzweiflung, die wie eine Lawine auf ihn einzustürzen drohte. Die Kreaturen konnten jeden Augenblick auftauchen. »Wir brauchen einen Eisbrecher, um dieses Ding freizubekommen. Irgendwas.«
Sara sah ihn an. »Dann hoffe ich wirklich, dass das ein Eisbrecher in deiner Hose ist und du nicht einfach nur froh bist, mich zu sehen.« Es lag kein Humor in ihren Worten, keine Freude. Sie hatte aufgegeben.
Colding schüttelte den Kopf, und dann fiel ihm die Leinentasche wieder ein, die er sich über die Schulter geworfen hatte. Die Leinentasche voller Plastiksprengstoff und Zündern. Er blickte auf Garys Schneemobil. »Clayton! Kommen Sie!«
Clayton drehte sich um und sah zurück. Seine Miene war voller Trauer. Er legte die Hände um seinen Mund und rief: »Ich muss meinen Sohn finden!«
Colding hob den Arm und winkte Clayton zu sich. »Wenn es uns nicht gelingt, das Eis zu brechen, wird es keiner von uns schaffen. Die Kreaturen werden problemlos ins Boot klettern können. Kommen Sie her und starten Sie Garys Schneemobil. Sofort!«
Clayton sah ein letztes Mal zum Boot und humpelte dann auf die Krücke gestützt zum Schneemobil seines Sohns.
Colding schob sich aus der Luke des Bv, sprang nach unten und schüttete den Inhalt der Tasche auf das schneebedeckte Eis. »Sara, Tim, helft mir. Weiß einer von euch, wie man eine Zeitbombe baut?«
Sie schüttelten die Köpfe. Dann griff jeder von ihnen nach einem Zeitzünder und begann, an den Einstellungen herumzuspielen. Not macht erfinderisch, aber diese Not setzte ihnen wirklich hart zu.
7:28:01 Uhr
Vorsichtig schob sich Baby McButter über die Kuppe der Düne und sah nach unten. Die Beute saß am Rand des Wassers. Baby McButter nahm Witterung auf. Trotz des starken Windes registrierte ihre Nase einen schwachen Hauch des Stocks.
Der Stock hatte sie schon einmal gestochen. Sie wollte nicht noch einmal gestochen werden.
Ihr Magen brannte und knurrte, doch es fühlte sich anders an, nicht mehr so schlimm wie zuvor. Sie ahnte, dass diese Veränderung nichts mit dem Stück Schenkel zu tun hatte, das sie beim Feuer gefressen hatte.
Baby McButter richtete ihr Rückensegel auf, ein unmissverständliches Signal. Hinter ihr schwärmten die überlebenden Kreaturen entlang der Dünenkuppe aus. Für die Beute gab es keinen Ausweg mehr.
7:28:12 Uhr
Garys Ski-Doo im Leerlauf geparkt, beeilten sich Colding, Tim und Sara, noch mehr faustgroße Bomben herzustellen. Die Zeitzünder hatten sich als leicht verständlich erwiesen. Sie hatten alle nach P.J.s Uhr eingestellt, aber sie mussten noch die Detonationszeit festlegen. Colding wusste nicht, wie viele Bomben nötig waren, deshalb wollte er nicht riskieren, dass sie am Ende zu wenige hatten. Doch sie waren fast fertig, nur ein paar noch.
Clayton saß auf der Rückbank des Ted Nugent und lehnte sich gegen das Fenster auf der Beifahrerseite. Keiner wusste, ob er ohnmächtig geworden war oder nicht.
Tim sah von den Zündern und den Kugeln aus Plastiksprengstoff auf, die vor ihm lagen. »Sie sind da.«
Nein, das war zu früh. Colding und Sara warfen einen raschen Blick auf die schneebedeckte Düne. Direkt hinter der Kuppe sahen sie, dass sich etwas bewegte, wie Stöcke, die vom Wind geschüttelt wurden. Kurz blitzte etwas Gelbes auf.
Die Kreaturen griffen nicht an.
Colding dachte daran, wie intelligent sie waren. Sie wussten von den Waffen. Er stand auf, richtete die Uzi auf die Düne und sah rasch auf die Uhr.
»Stellt alle Zünder auf 7:30 ein, sofort! Und packt sie in die Tasche!«
Sara und Tim widersprachen nicht. Sie griffen nach den Bomben und begannen, die Zünder einzustellen. Ob ihnen die Zeit ausreichen würde?
Sara drückte ihm die Tasche in die Hand. »Vermassel es nicht«, sagte sie. Manche Frauen hätten vielleicht Viel Glück gesagt oder Ich hoffe, du weißt, was du tust, doch das war nicht Saras Art. Er gab ihr die Uzi, schwang die Tasche voller Bomben über die Schulter und sprang auf Garys Schneemobil. Dann gab er Gas und steuerte den Schlitten auf das unebene Eis hinaus auf die Otto II zu. Der raue Untergrund machte sich in schmerzhaftem Auf und Ab bemerkbar.
Als er das Boot erreicht hatte, zog er einen weiten Kreis darum und ließ dabei einen Klumpen Plastiksprengstoff nach dem anderen fallen.
7:28:33 Uhr
Sara sah, wie zwei Kreaturen hinter der Dünenkuppe auftauchten und den zugeschneiten Hang nach unten stürmten.
Warum nur zwei?
»Tim, in den Wagen.«
Sara schoss, während sie sich zum Bv zurückzog. Sie hatte Glück mit dem ersten Feuerstoß, der eine der Kreaturen ins linke Vorderbein traf. Das Wesen krümmte sich zusammen und überschlug sich Hals über Kopf in einer Wolke aus Schnee und Sand.
Sie gab einen Feuerstoß auf das zweite Monster ab, das inzwischen nur noch knapp vier Meter entfernt war – so nahe, dass sie die Zunge in seinem offenen Maul sehen konnte. Und genau in dieses offene Maul flogen die Kugeln.
Doch es stürmte immer weiter heran.
Die Angst ließ Saras Finger geradezu am Abzug kleben. Kugeln hagelten in das Gesicht der Kreatur. Erst anderthalb Meter vor Sara blieb sie stehen, schüttelte heftig den Kopf und versuchte, sich abzuwenden, doch es war zu spät. Das Wesen fiel schwer auf die Seite, seine kräftigen Glieder zuckten und traten um sich.
Sara richtete die Uzi auf den Kopf des Monsters und feuerte.
Noch zwei Kugeln kamen aus dem Lauf, dann war aus der kleinen Maschinenpistole nur noch ein Klicken zu hören. Sara blinzelte ein paarmal und versuchte, erneut den Abzug zu drücken, ihr adrenalindurchflutetes Hirn begriff überhaupt nicht, dass sie keine Munition mehr hatte.
Wieder erklang nur ein einzelnes Klicken.
Plötzlich waren die Köpfe von mehr als einem Dutzend Kreaturen zu erkennen. Alle gelben Rückensegel gingen hoch.
»Verfluchte Scheiße«, sagte Tim. »Sie wissen, dass die verdammte Waffe leer ist.«
Die Kreaturen richteten sich auf und stürmten die Düne hinab. Aus ihren weit aufgerissenen Mäulern drang ein lange unterdrücktes Triumphgebrüll.
Sara warf die Uzi weg und sprang auf den Fahrersitz. Sie ließ den Motor aufheulen und fuhr hinaus auf das Eis. Früher oder später würde es brechen, doch der Nuge sollte seetauglich sein. Wenn es ihr gelang, möglichst nahe an die Otto II heranzufahren, hatten sie vielleicht eine Chance.
Sie musste es schaffen.
7:28:54 Uhr
Colding trieb das Ski-Doo bis an seine Grenzen, prügelte das Gefährt über das unebene Eis. Jeden Augenblick konnte die schroffe Kruste unter ihm wegbrechen und er in ein nasses, kaltes Grab stürzen.
Doch das Eis hielt.
Er fuhr bis ganz nach vorn zwischen die Spitzen der Wellenbrecher und stoppte die Maschine knapp neun Meter vom offenen Wasser entfernt. Dem Rand des Eises noch näher zu kommen, wagte er nicht. Dann warf er eine Demex-Bombe. Die faustgroße Kugel prallte einmal auf dem Eis ab und blieb nur anderthalb Meter von der Gischt entfernt liegen. Colding sah zurück zur Otto II. Zwischen dem Boot und der Hafeneinfahrt hatte er zehn Bomben in einer Linie platziert; sechs weitere Bomben zogen sich in einem Kreis um das Boot. Er sah auf seine Uhr. Noch fünfundfünfzig Sekunden.
Das Dröhnen eines Dieselmotors und das Knirschen von Metall zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Bv 206 mit dem Zebramuster donnerte über das Eis. Panzerketten gruben sich in das Eis, das Fahrzeug schaffte höchstens noch 15 Stundenkilometer. Die Horde der Kreaturen lag nur noch neun Meter zurück und kam rasch näher.
Ein kranker, kupferartiger Geschmack machte sich in seinem Magen breit – er würde die Otto II nicht mehr vor den Kreaturen erreichen.
Er warf einen Blick in seine Leinentasche. Noch immer hatte er acht Sprengstoffkugeln.
Und die Zünder tickten.
Fünfzig Sekunden.
Colding drehte das Ski-Doo in Richtung Ufer und gab Vollgas.
7:29:11 Uhr
Sie waren nur noch etwas über sieben Meter von der Otto II entfernt. Sara warf einen Blick in den Seitenspiegel: drei Kreaturen auf Höhe der Heckstoßstange.
Plötzlich hörte sie ein tiefes Splittern und Knacken; dann brach der Bv durchs Eis und landete im Wasser. Die Köpfe der Fahrzeuginsassen wurden nach vorn geschleudert, als wären sie gegen eine Wand gerast.
Eisiges Wasser strömte über die Windschutzscheibe und über das Dach und ergoss sich in die offene Dachluke.
Der kalte Wasserschwall erstickte Saras unfreiwilligen Aufschrei im Hals.
7:29:16 Uhr
Colding sah, wie der Bv im Eis einbrach. Er versank fast ganz, doch dann tauchte er wie ein Korken in Zeitlupe wieder auf. Unter den ersten Kreaturen brach das Eis. Zwei stürzten ins kalte Wasser, die dritte sprang auf den Heckaufleger des Bv und klammerte sich an den zebragestreiften Transportkorb.
Colding konnte Sara jetzt nicht mehr helfen. Er hatte keine Schusswaffe, nicht einmal ein Messer. Sie musste selbst sehen, wie sie zurechtkam.
Er drehte ab nach links, zwischen das Ufer und die Horde der Kreaturen und ließ dabei Sprengstoffkugeln fallen.
Noch vierzig Sekunden.
7:29:21 Uhr
Sara hatte sich wieder unter Kontrolle. Trotz des eiskalten Wassers, das um ihre Knöchel schwappte, trat sie das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Nuge schob sich langsam durch das Hafengewässer.
»Tim, komm her. Und lass deinen Fuß bloß auf dem Gaspedal! « Tim schob sich auf ihren Platz und übernahm das Steuer, während Sara über ihn hinweg auf die Beifahrerseite und dann durch die Dachluke nach oben kletterte. Wasser tropfte von ihren Beinen herab. Sie zog die Beine an, kauerte sich zusammen und versuchte, auf dem glatten Metalldach des schwankenden Bv ihr Gleichgewicht zu halten. Sie mussten direkt an der Otto II festmachen, damit alle an Bord gehen konnten.
Dann hörte sie das Brüllen.
Es war so nahe, dass es ihr in den Ohren schmerzte, so nahe, dass sie den heißen Atem in ihrem Nacken spürte. Sie wusste, dass ihre Zeit gekommen war.
Sara drehte sich um. Sie würde sich ihrem Schicksal stellen. Eine der Kreaturen hockte auf dem Dach des Bv. Ihre langen Klauen kratzten über das Metall, als sie sich festzuhalten versuchte. Sie war nicht einmal einen halben Meter von Sara entfernt. Und so groß. So groß.
Mit ihren gefletschten Zähnen, dem Haar, das ihr nass im Gesicht klebte und den zu hasserfüllten Schlitzen zusammengekniffenen Augen wirkte sie kein Stück weniger wie ein Tier als die Bestie, die gerade dazu ansetzte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.
Na komm schon, du Scheißer. Bringen wir’s hinter uns.
Die Kreatur riss das Maul auf und beugte sich vor.
Sara schloss die Augen.
Fünf Schüsse ertönten.
Die Kreatur zuckte zurück, Blut spritzte aus der Augenhöhle, aus seinem Maul, aus seiner Nase. Die großen Klauenfüße rutschten über das nasse Dach, das Wesen taumelte über Bord und krachte in das eisige Wasser wie ein Felsblock aus einer Höhe von zehn Stockwerken.
Sara drehte sich um. Sie konnte nicht begreifen, dass sie noch am Leben war.
In eine dicke Decke gewickelt stand Gary Detweiler am Bug seines Bootes. Er hielt eine rauchende Beretta in seiner ausgestreckten Hand.
»Scheiße, das wurde auch langsam Zeit.« Claytons Stimme aus dem Nuge. »Wo zum Teufel bist du gewesen, Junge?«
7:29:45 Uhr
Colding ließ die letzte Portion Plastiksprengstoff fallen, wandte sich mit seinem Schneemobil in Richtung der Otto II und riskierte einen kurzen Blick auf seine Uhr.
Zwölf Sekunden.
Er hatte nur eine Chance. Er riss den Gashebel auf, beugte sich nach vorn und hielt sich mit aller Kraft fest, als das Ski-Doo auf das Boot zuraste.
7:29:49 Uhr
Sie hatten keine Zeit, ordentlich anzulegen. Die Backbordseite des Bv krachte gegen das Otto II und brach das Eis weg, das hartnäckig auf der Steuerbordseite des Bootsrumpfs hing. Sara und Tim stolperten an Bord, während Gary seinen Vater aus der Luke zog. Clayton schrie vor Schmerz auf, doch mit der Unterstützung seines Sohnes schaffte er es in das Boot.
Sara sah sich nach Colding um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. »Gary! Wo ist Colding?«
Gary rannte zu der kurzen Leiter, die zur Laufbrücke des Bootes führte. Er kletterte hoch und deutete nach backbord.
Sara sah in die Richtung. Peej raste auf sie zu. Das Ski-Doo rumpelte über das gebrochene Eis wie ein Jeep durch eine zerklüftete Schlucht.
Sie sah auf ihre Uhr. Zwei, eins …
7:30:00 Uhr
Vierundzwanzig Klumpen Demex-Plastiksprengstoff explodierten gleichzeitig. Eisbrocken und Splitter wirbelten wie gefrorene Schrapnells durch die Luft; einige landeten gut eineinhalb Kilometer weit entfernt im Schnee.
Um die Otto II gab es eine sternförmige Detonation, deren Druckwelle sich nach innen fortpflanzte. Sie war so mächtig, dass sie die Kreaturen, die dem Boot am nächsten waren, umriss und ins eisige Wasser schleuderte. Sara und Tim warfen sich auf das Deck, während aus allen Richtungen Eis über das Boot flog.
Colding befand sich auf halber Strecke zwischen dem ringförmig angeordneten Sprengstoff und dem Boot, als es zur Detonation kam. Die Druckwelle erfasste ihn von hinten. Sie war so mächtig, dass sie das Ski-Doo unter ihm wegriss und fortschleuderte wie ein launisches Kind sein Spielzeug. Er flog durch die Luft, das Schneemobil überschlug sich, krachte ins Eis und wurde in Dutzende Teile zerrissen.
Er landete gut vier Meter von der Backbordseite des Bootes entfernt. Sein schlaffer Körper überschlug sich mehrfach und schlidderte noch drei Meter weiter, bevor er anderthalb Meter vom Boot entfernt in das gerade erst freigelegte Wasser stürzte.
Entsetzt beobachtete Sara, wie P.J.s Körper in der Tiefe versank.
»Seil!« Sie riss sich die Jacke vom Leib. »Ich brauche ein verdammtes Seil!«
Die Motoren der Otto II erwachten zum Leben. Gary sah von der Laufbrücke nach unten und deutete auf eine Kiste.
Sara öffnete sie und nahm ein langes zusammengerolltes rot-weiß gemustertes Nylonseil heraus. Gleich darauf stand Gary neben ihr. Die notdürftig angebrachten Verbände über seiner Brust zeigten an mehreren Stellen große, rote Flecken; einige waren frisch und noch feucht.
Sie reichte ihm ein Seilende. »Binde mir das um die Hüfte! « Sie zog ihren Pullover aus und riss sich die Stiefel von den Füßen, während er das Seil um ihren Körper führte.
Sie sah Gary an. »Du wirst mich erst dann hochholen, wenn ich am Seil ziehe, verstanden?«
Gary schüttelte den Kopf. »In dem Wasser bleiben dir nur ein paar Sekunden, Sara. Du kannst nicht – «
Sie griff sich seinen Kopf mit beiden Händen.
»Wenn du mich hochholst, bevor ich ziehe, bringe ich dich um. Hast du das verstanden?«
Gary nickte.
Sara drehte sich weg, setzte einen Fuß auf die Reling und ließ sich ins Wasser hinab.
Die kalte Dusche, die sie abbekommen hatte, als der Bv kurz im Wasser untertauchte, war schon schlimm gewesen, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt erlebte. Sie versuchte, unter Wasser zu bleiben, doch ihr Kreislauf rebellierte und drängte sie instinktiv zur Wasseroberfläche.
Raus hier raus hier raus hier.
Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, mit dem Kopf aus dem Wasser zu kommen, um einen von archaischer Angst erfüllten Schrei auszustoßen.
Sie sah hinauf zum Boot. Gary stand an der Reling. Er hielt das rot-weiße Seil in den Händen, und in seinem Gesicht stand eine Frage geschrieben: Soll ich dich raufziehen?
Sara gab keine Antwort auf die stumme Frage. Mit rasselnden Lungen atmete sie tief ein und zwang sich, wieder abzutauchen. Die Kälte rieb ihr wie Schmirgelpapier über die Haut und jagte ihr schmerzende Nadeln ins Fleisch. Sara machte heftige Schwimmstöße mit den Beinen. Im trüben Wasser konnte sie kaum etwas erkennen.
So kalt …
Der Sauerstoffmangel erzeugte pulsierende Schmerzen in ihren Lungen, doch sie tauchte noch tiefer. Sie würde ihn nicht hier unten lassen. Sie legte all ihre schnell dahinschwindenden Kräfte in ihre nächsten Schwimmzüge.
Wo ist er? Ich darf ihn nicht verlieren …
Sie konnte nichts mehr sehen. Das Blut dröhnte in ihrem Kopf. Ihr Herz hämmerte wie eine große Trommel, immer schneller und schneller.
Ihre Hand schlug gegen einen glitschigen Felsen am Grund des Hafens. Sie konnte nicht mehr, sie musste nach oben. Sie streckte die Hände aus, um sich vom Boden abzustoßen, ihre Finger prallten gegen etwas Weiches.
Weich wie Stoff.
Sie packte zu. Es war ein Körper — Coldings Körper.
Er bewegt sich nicht …
Sara schlang die Beine um seinen Rücken und zog am Seil. Dann schob sie die Arme unter seine Schultern und zog in einer verzweifelten, liebevollen Umarmung seinen Körper an ihre Brust. Das Seil um ihre Hüfte straffte sich, sie wurde zur Wasseroberfläche gezogen.
Kann nicht atmen kann nicht atmen …
Gegen ihren Willen öffnete Sara den Mund. Eisiges Wasser strömte über ihre Zunge in ihre Kehle. Von Panik erfüllt ruderte sie wild um sich, aber sie ließ ihn nicht los.
Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Von Hustenanfällen geschüttelt, schnappte sie nach Luft. Sie spürte die Hände kaum, die sie ins Boot zerrten. Ihr Körper zitterte, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Jemand zog ihr die Hose aus und wickelte sie in eine Decke, noch bevor sie wieder klar denken konnte.
Sie setzte sich auf. Tim beugte sich über Colding und versuchte, ihn wiederzubeleben. Er beatmete ihn und hämmerte auf seinen Brustkorb.
Sara war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie musste ihnen tatenlos zusehen, während ein Hustenanfall nach dem anderen sie durchschüttelte. Die Motoren dröhnten. Sie spürte, wie sich das Boot mit einem Ruck nach vorn schob.
Colding hustete. Eine Wasserfontäne spritzte aus seinen Lungen und landete auf seinem Gesicht. Tim drehte ihn auf die Seite. Colding hustete wieder, und dann hörte Sara den süßen Klang der Luft, die in seine Lungen strömte.
»Hilf mir, ihm die Kleider auszuziehen«, sagte Tim. Sara streckte die Hand aus. Sie und Tim zogen Colding den vollgesogenen Schneeanzug vom Leib. Colding hustete weiter, doch er reagierte und versuchte kraftlos, ihnen die Arbeit zu erleichtern. Sara schmiegte sich an ihn und nahm ihn in die Arme, ihre beiden nackten, nassen, erfrorenen Körper unter derselben Decke vereint. Gary legte ihnen eine zweite Decke um die Schultern. An einigen Stellen war Blut — er selbst hatte sich wenige Augenblicke zuvor noch in diese Decke gehüllt.
»Ihr beide kommt wieder in Ordnung«, sagte Tim. »Ich muss mich um Clayton kümmern.« Er humpelte zum Bug und ließ Sara und Colding zurück, die im Einklang um die Wette zitterten.
»Ich schätze mal, ich schulde dir was«, sagte Colding mit blauen Lippen.
Sara nickte. »Schätze ich auch.«
Sie küssten sich. Ihre Lippen fühlten sich kalt und klamm an, doch das spielte jetzt keine Rolle. Der Tod um sie herum war in diesem Augenblick vergessen, denn Sara war am Leben und sie hatte ihn.
Sie hatten gewonnen. Nicht ohne einen hohen Preis dafür zu zahlen, doch es war vorbei.
Sie hatten überlebt.
Aneinandergekauert und zusammen zitternd blickten sie zurück zum Ufer, als die Otto II langsam Black Manitou Island hinter sich ließ.
Coldings letzte acht Klumpen Plastiksprengstoff rissen das Eis hinter der Horde der Kreaturen im Halbkreis auf. Die Explosionen schleuderten riesige Eisbrocken durch die Luft und brachen eine große Eisscholle vom Uferbereich ab, die die Kreaturen im Hafen gefangen zurückließ.
Auf der Suche nach einem Fluchtweg rannten die Kreaturen auf der Eisscholle hin und her, doch es gab kein Entkommen. Unter dem Gewicht eines der Tiere brach am Rand ein Stück ab, und die Kreatur fiel hilflos um sich rudernd ins Wasser. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie in die Tiefe sank.
Die Eisscholle brach in zwei Teile, wodurch das Gewicht der sieben Kreaturen auf dem linken Bruchstück zu hoch wurde. Es kippte wie eine große Wippe. Die sieben versuchten umzudrehen und die Eisplatte hochzurennen, doch es war zu spät: Sie alle rutschten ins Wasser, ihre aussichtslosen Schwimmversuche wurden ihnen zum Verhängnis.
Die Eisscholle brach immer weiter auseinander.
Sara und Colding hörten das Brüllen der Tiere sogar trotz des Winds und der stampfenden Motoren der Otto II. Eine Kreatur nach der anderen stürzte ins Wasser und verschwand.
Eine letzte Kreatur stand noch auf der Eisscholle. Ihr fehlte das linke Ohr, und ihr Kopf war vollkommen weiß bis auf den schwarzen Fleck, der ihr linkes Auge umgab. Sie drehte sich zum Boot und schien Sara und Colding direkt anzusehen. Dann riss sie ihr Maul auf und stieß mit aller Urgewalt ein rasendes Wutgebrüll aus.
Colding sah, dass sich etwas im Wasser bewegte, einen nassen schwarzen Kopf. Konnten einige dieser Wesen also doch schwimmen? Dann erkannte er, wen er vor sich hatte.
»Mookie«, sagte Colding leise. Er schrie zur Laufbrücke hoch: »Gary, halt das Boot an!«
Der schwarze Border Collie schwamm durch das eiskalte Wasser und hielt direkt auf die kleine Eisscholle zu, auf der die letzte Kreatur trieb.
»Mookie!«, schrie Colding. »Sofort da weg! Komm her, Mädchen!«
Doch die Hündin ignorierte ihn. Sie erreichte die Eisscholle und kletterte mit letzter Kraftanstrengung an ihr hoch.
Baby McButter drehte sich um und sah das kleine Wesen. Diese Beute hatte sie zuvor schon bemerkt. Das kleine Ding war da gewesen, als sie sich aus dem großen Tier heraus ins Freie gegraben und den ersten Biss von der Beute mit dem verletzten Schenkel genommen hatte. Das kleine Ding hatte sie angegriffen, hatte ihr wehgetan.
Mit weit aufgerissenem Maul brüllte Baby McButter ihre Wut heraus. Sie würde sich dieser neuen Herausforderung stellen. Mühsam gelang es der Beute, sich auf die Eisscholle zu ziehen. Auch sie stieß ein Gebrüll aus, und obwohl ihr roroororoo im Vergleich dazu fast bemitleidenswert schwach klang, war es nicht weniger hasserfüllt und nicht weniger urtümlich.
Baby McButter machte einen Schritt auf die Beute zu, blieb dann aber gleich wieder stehen, denn bei jeder Bewegung fing das Eis heftig an zu schaukeln. Sie hatte zugesehen, wie all ihre Geschwister ins Wasser gestürzt und nicht wieder aufgetaucht waren. Sie durfte sich nicht bewegen.
Die kleine Beute rannte bellend auf sie zu, aber hielt sich unmittelbar außerhalb der Reichweite ihrer Krallen. Ihre schwarzen Lefzen waren zurückgezogen und entblößten ihre weißen Zähne. Immer wieder sprang das kleine Ding drohend nach vorn.
Es hörte einfach nicht auf, diesen ärgerlichen Lärm zu machen.
Colding wandte sich vom Kampf auf der Eisscholle ab und sah, wie Tim Clayton dabei half, ins Heck des Bootes zu kommen.
»Dad!«, rief Gary von der Laufbrücke. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Einigermaßen«, sagte Clayton. Er sah hoch und lächelte. »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Und jetzt schaff mich bloß hier weg.«
Colding deutete auf die Eisscholle. »Clayton, Sie kennen doch diese verrückte Hündin. Rufen sie her! Verdammt, was macht sie da überhaupt?«
Clayton lehnte sich schwer an die Reling und sah hinüber. »Wir haben nirgendwo Sven gesehen, eh? Ich glaube, er ist tot, und ich glaube, dass Mookie das weiß. Sie will es diesem Monster heimzahlen.«
Mookie bellte so heftig, dass ihr ganzer Körper zitterte – purer Zorn im nassen schwarzen Fell. Die übrig gebliebene Kreatur schnappte nach ihr. Mookie wich problemlos aus, bellte und knurrte weiter.
Die einohrige Kreatur reckte den Kopf und sprang auf die Hündin zu. Sofort kippte die Eisscholle, die beiden stürzten in das eiskalte Hafenbecken. Der hoch aufgerichtete Rand des Eises fiel mit einem lauten Klatschen auf die Wasseroberfläche zurück. Ein mächtiger Kopf mit einem schwarzen Augenfleck tauchte aus den Fluten auf. Schwach schlug die Kreatur mit den langen Krallen um sich, wobei sie immer wieder den Rand des Eises traf. Mit jedem Schlag brachen einzelne Eisbrocken aus der Scholle heraus, ohne dass das Wesen Halt finden konnte. Es riss sein Maul auf, stieß ein letztes Brüllen aus und versank in der Tiefe.
Colding sah genau hin – voller Hoffnung, von einem einzigen Wunsch erfüllt. Schließlich erkannte er einen kleinen schwarzen Fleck im vom Treibeis bedeckten Wasser.
»Los, Mädchen!«
Die Hündin wirkte erschöpft. Sie paddelte mit ihren Beinen direkt auf das Boot zu, während die Wellen sie hin und her warfen. Sie japste nach Luft, blähte die Wangen und spuckte in hohem Bogen Wasser aus. Colding beugte sich so weit wie möglich vor. Mit letzter Kraft hielt Sara seine Beine fest, damit er sich noch ein wenig weiter über die Reling lehnen konnte. Mookie ging unter, tauchte wieder auf. Sie wurde langsamer. Colding streckte sich noch mehr … und bekam mit seinen Fingern die Hündin am Halsband zu fassen. Er zog sie zur Reling hin. Sara beugte sich zu ihm hinab und half ihm, die geschwächte Hündin an Bord zu hieven. Mookie sank völlig erschöpft mit eingeklemmtem Schwanz zwischen Colding und Gary Detweiler zu Boden, Schauer durchliefen ihren kleinen Körper, ihre Brust hob und senkte sich hektisch: eine weitere, vollkommen entkräftete Überlebende der Katastrophe.
Ihr nasser Schwanz klopfte auf das Deck.
Es war endlich vorbei.
Die sechs Überlebenden von Black Manitou Island steuerten die aufgewühlten Wasser des Lake Superior an.