30. November, 21:03 Uhr
Sara starrte auf die Bombe. So viele Drähte, die mit der Wand, dem Fernseher und dem Boden verbunden waren. Sie kniete nieder, achtete sorgfältig darauf, nichts zu berühren. Ihr Blick schweifte von einer Seite zur anderen, bis sie ihn gefunden hatte – einen kleinen LCD-Timer. Die Anzeige lief: 9:01 … 9:00 … 8:59 … 8:58 …
Beruhige dich beruhige dich bleib ganz cool wenn du nicht klar denkst wirst du sterben.
Colding und Magnus schickten die C-5 nicht nach Manitoba: Sie schickten sie auf den Grund des Lake Superior. Bis sich der Sturm gelegt hätte, wäre keine Spur der C-5 und ihres gesamten Inhalts mehr zu finden. Dreihundert Meter Wasser würden das Wrack für alle Zeiten bedecken.
Sie konnten die Maschine nicht einmal verlassen: Bei diesem Sturm würden sich die Fallschirme nicht richtig öffnen, und sie würden ungebremst in die Tiefe stürzen. Wenn sie der Aufschlag bei dieser tödlichen Fallgeschwindigkeit nicht sofort umbrachte, würden sie kurz darauf im eiskalten Wasser ertrinken. Selbst wenn es ihnen gelang, ein Rettungsfloß zu erreichen, wären sie sechs Meter hohen Wellen und Winden von siebzig Knoten ausgesetzt. Ob mit oder ohne SOS – niemand würde rechtzeitig zu ihnen gelangen.
Sie holte tief Luft. Denk nach. Denk rational. Denk. Es musste einen Ausweg geben. Sara stellte ihre Uhr parallel zur Bombe. Um 21:12 Uhr würde der Plastiksprengstoff die C-5 in Stücke reißen. Sie wusste nicht, wie man eine Bombe entschärfte. Auch keiner aus ihrer Crew wusste das. Diese vielen Drähte … wenn sie die Bombe bewegten, würde sie zweifellos sofort explodieren. Sie könnte zwar damit beginnen, einzelne Drähte herauszuziehen, aber das wäre nur eine verzweifelte, allerletzte Möglichkeit. Sie sprintete ins Cockpit, packte eine Karte und knallte sie auf den kleinen Tisch neben dem Sitz des Navigators. Sie strich die Karte glatt, wobei sie ungewollt Blut über das Papier schmierte.
»’Zo, wo sind wir?«
»Den halben Bogen um den Sturm haben wir hinter uns. Wir sind nur noch hundertsechzig Kilometer von Houghton-Hancock entfernt.«
Sie zeichnete mit dem Finger die Strecke auf der Karte nach. »Wir werden es nicht bis Houghton-Hancock schaffen. Es ist eine Bombe an Bord. Wir haben noch neun Minuten zu leben.«
Sofort schaltete Alonzo den Autopiloten ein, drückte sich aus dem Sitz und trat neben Sara. »Neun Minuten? Wer hat die Bombe gelegt?«
»Das muss Magnus gewesen sein. Ich habe ihn ein paar Stunden vor dem Start hier drin gesehen.« Sie sah auf ihre Uhr. 21:04. Acht Minuten. Sie konnten Houghton-Hancock nicht erreichen. Der verrückte Bogen, den sie laut Magnus’ Anweisung fliegen mussten, hatte sie direkt über die Mitte des Lake Superior geführt. Sie konnten absolut nirgendwohin.
Fast nirgendwohin. Es gab einen Ort, den sie erreichen konnten.
»Flieg uns zurück in den Sturm«, sagte sie. »Hau rein. Vollgas. Wir fliegen zurück zur Insel.«
»Zurück zur Insel? Wo Magnus ist? Kommt nicht infrage!«
Sara verlor die Beherrschung. Sie hob ihre blutverschmierte rechte Hand und packte Alonzo am Kragen seines Parkas. »Wir haben keine Wahl. Sieh dir die verdammte Karte an. Wir können nirgendwo sonst hin, bevor die Bombe hochgeht.«
»Aber er versucht, uns umzubringen – «
Saras linke Hand glitt neben ihre rechte. Mit jedem Wort schüttelte sie Alonzo beim Kragen, zerrte heftig an dem glatten, mit Daunen gefüllten Stoff.
»Das … weiß … ich! Sie schalten das Radar nur bei geplanten Starts und Landungen ein, schon vergessen? Jetzt ist es ausgeschaltet, sie werden nicht bemerken, dass wir kommen. Also flieg uns zurück in den Sturm!«
Sie ließ seinen Kragen los. Er blinzelte ein paarmal. Dann stolperte er zurück zum Kopilotensitz. Die Turbinen heulten auf. Sie hielt den Tisch fest, als die C-5 sich zur Seite neigte und eine Kurve flog.
»Wir fliegen zurück in den Sturm«, sagte Alonzo. »Aber sie brauchen kein Radar, um zu wissen, dass wir kommen. Selbst bei dieser beschissenen Sichtweite werden sie bemerken, wie wir auf dem Landestreifen aufsetzen.«
Es musste eine Möglichkeit geben, irgendwas. Ihr Blick huschte über die Karte … dann erinnerte sie sich an Claytons Worte. Da! Es würde funktionieren, es musste funktionieren, oder sie alle würden sterben. Sie zeigte Alonzo die Karte. »Wir werden nicht auf dem Landestreifen runtergehen. « Bevor er fragen konnte, wo sonst, tippte sie mit dem Finger auf das Ziel. Er warf einen Blick auf die Karte und sah sie an. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Die Rapleje Bay? Unmöglich.«
»Sie ist weit über einen Kilometer lang und zugefroren.«
»Wir landen auf Eis – Eis, das wir erst sehen, wenn wir keine dreißig Meter mehr davon entfernt sind, und von dem wir nicht wissen, wie dick es ist. Ich bringe uns zum Landestreifen. Wir werden uns auf eine Schießerei mit Magnus einlassen müssen.«
»Er hat eine verdammte Stinger-Rakete! Der Landeplatz ist nur ein paar hundert Meter vom Haus entfernt. Wenn er hört, dass wir im Anflug sind, braucht er nicht mehr als dreißig Sekunden, um uns vom Himmel zu holen. ’Zo, wenn du leben willst, dann hast du fünf Minuten, um uns in der Bucht abzusetzen! Lande die Maschine, und dann hilf Miller und Cappy, so schnell wie möglich hier rauszukommen.«
Sie warf die Karte auf den Tisch und stürmte aus dem Cockpit. Wenn es ihnen gelang, die Bucht in fünf Minuten zu erreichen, hatten sie noch zwei Minuten, um ins Freie zu gelangen und sich in Sicherheit zu bringen. Sie rannte durch den kurzen Gang zur Krankenstation, die überall mit Blut beschmiert war. Miller kümmerte sich noch immer um den bewusstlosen Cappy.
»Ich habe die Blutung zum Stillstand gebracht«, sagte Miller. »Hol Doc Rhumkorrf hoch, sofort.«
»Keine Zeit«, sagte Sara. »Hör mir genau zu. Wir haben eine Bombe an Bord. Schnall Cappy an. Wir fliegen zurück in den Blizzard, zurück nach Black Manitou. Notlandung in einer zugefrorenen Bucht. Unsere Chancen stehen absolut mies, aber das ist die einzige Option, die wir haben. Hast du verstanden?«
»Ja, Ma’am.«
»Gut. Wenn wir gelandet sind, wird ’Zo dir helfen, Cappy rauszuschaffen. Beeilt euch, oder ihr werdet alle sterben.«
Sie sprintete weiter durch das Labor auf dem Oberdeck und stolperte die Heckleiter hinab. Rhumkorrf und der bewusstlose Tim waren noch immer in Box drei. Rhumkorrf hatte ein Stück chirurgischen Faden besorgt und war gerade damit fertig, Tims Stirn zu nähen. Sogar unter diesen fürchterlichen Flugbedingungen sah die Naht straff und ordentlich aus.
Rhumkorrf sprach, ohne sich von seiner Arbeit abzuwenden. »Möglicherweise hat Tim innere Verletzungen. Wir müssen ihn unverzüglich in ein Krankenhaus schaffen. Er darf nicht bewegt werden.«
»Das ist mir egal«, sagte Sara. »Wir müssen notlanden, und Tim muss in einen Sicherheitssitz. Sofort.«
Rhumkorrf sah auf. »Notlanden? Was ist los?«
»Magnus hat beschlossen, dem Projekt ein Ende zu machen. Und uns ebenso. Wir haben eine Bombe an Bord, die in sechs Minuten hochgeht.«
Rhumkorrfs Unterkiefer sackte herab. »Eine Bombe? Aber das ist völlig unsinnig. Die Pagliones haben Millionen in dieses Projekt investiert!«
»Und jetzt bringen sie die Sache zu Ende, bevor der Schaden noch größer wird.«
»Aber was ist mit den Kühen? Sie – «
»Scheiß auf die Kühe! Kapieren Sie das denn nicht? Es gibt kein Projekt mehr. Magnus will, dass all diese Dinge hier verschwinden, und wir mit ihnen. Holen Sie die Notausrüstung aus den Schränken in Tims Labor. Wir müssen uns im Winter in einem Wald verstecken, ich weiß nicht, für wie lange. Holen Sie Jacken und Decken, los!«
Rhumkorrf setzte sich stolpernd in Richtung der Schränke in Bewegung und ließ Sara mit dem bewusstlosen Tim Feely zurück. Der junge Mann sah wirklich übel aus. Er lag noch immer in Miss Patty Melts Blut. Sein Kopf ruhte auf den Hinterbeinen der Kuh, seine Unterschenkel auf ihren Vorderbeinen. Die Haut unter den etwa zwanzig Stichen war rot und geschwollen.
Und sein Knie – oh, verdammt. Kein Blut, aber es war so stark angeschwollen, dass sich der Stoff seines Hosenbeins spannte. Man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass Tim Feely nicht würde laufen können. Sie packte seine Hände und zog den Bewusstlosen hoch in Sitzposition. Sie ging in die Hocke, schob ihre Arme unter seinen Achseln hindurch auf seinen Rücken und streckte sich. Tim kam hoch wie eine schlaffe Marionette. Er war überhaupt nicht schwer – völlig durchnässt mochte er einhundertdreißig Pfund wiegen.
Sie packte seine rechte Schulter, schob ihren linken Arm zwischen seinen Beinen hindurch und wuchtete ihn auf ihre Schultern wie ein Feuerwehrmann. Vorsichtig trat Sara über die Beine der Kuh hinaus in den Mittelgang. Dann stieg sie die Leiter hinauf zu den Sicherheitssitzen. Sie ließ Tim von ihrem Rücken gleiten und schloss die Gurte um seinen Körper.
Sie sah auf die Uhr – 21:08 … noch vier Minuten.
Sara rannte durch den Gang zu Rhumkorrf, der Erste-Hilfe-Koffer, Einmannpackungen und Decken aus den Schränken zog. Sie brauchten alles, was sie tragen konnten. Falls sie nicht beim Anflug entdeckt wurden und falls sie die Landung überlebten, war die Insel groß genug, um sich zu verstecken – aber für wie lange?
Sie fand einige Matchbeutel und warf Rhumkorrf einen zu. Er begann, den Beutel mit den Vorräten zu füllen.
»Warum?«, sagte er. »Warum in Gottes Namen wollen sie das Projekt auslöschen?«
»Packen Sie einfach, Doc.«
Sie musste Magnus ausschalten, bevor er überhaupt wusste, dass sie wieder zurück waren. Er verfügte über ein so großes Waffenarsenal im Keller des Landhauses, dass sie und ihre Jungs keine Chance hatten, wenn er, Andy und Gunther in die Offensive gingen.
»Das können die nicht machen«, sagte Rhumkorrf. »Sie können mein Projekt nicht beenden. Das lasse ich einfach nicht zu.«
»Doc, halten Sie verdammt nochmal die Klappe!«
Sie mussten zuerst versuchen, Sven Ballantines Hof zu erreichen. Diese Gebäude lagen der Rapleje Bay am nächsten. Sie mussten Cappy ins Haus schaffen und Sven möglicherweise als Geisel nehmen. Sie hatten schließlich keine Ahnung, was der alte Mann wusste, und auf welcher Seite er stand.
Was ist mit Peej? Auf welcher Seite steht er wohl?
Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen: Colding war ein Mitarbeiter des Projekts, aber sein Arsch befand sich nicht in der C-5, in die jemand eine Bombe geschmuggelt hatte.
Plötzlich stieg die Maschine steil nach oben. Sara musste sich an der Schranktür festhalten, während die Vorräte über den Boden schlidderten. Rhumkorrf stürzte nach hinten und rutschte gegen den schwarzen Labortisch. Die mächtigen Körper der Kühe schwangen in ihren Geschirren hin und her, wieder war das Unterdeck von ihrem Geblöke erfüllt.
»Doc, sind Sie okay?«
»Alles in Ordnung! Ich hole noch ein paar Vorräte.«
»Nein. Gehen Sie zu Ihrem Sitz. Sofort.«
Während Rhumkorrf zu den Sitzen stolperte, neigte sich das Flugzeug zur Seite und schwankte heftig hin und her. Ausrüstungsgegenstände flogen in alle Richtungen. Sara sah genau in dem Augenblick auf ihre Armbanduhr, als die digitale Anzeige auf 21:10 Uhr sprang. Noch zwei Minuten zu leben. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis sie landeten. Sie zog die Schnüre der Matchbeutel straff und trug sie zu den Sitzen.
Das Flugzeug neigte sich gleichzeitig nach backbord und sackte heftig nach unten. Sara fühlte sich für einen kurzen Moment schwerelos. Der Boden verschwand unter ihren Füßen. Dann kam er plötzlich wieder hoch und krachte ihr ins Gesicht. Ihr wurde schwindlig vor Schmerz, sie fühlte sich wie betrunken. Sie konnte nicht mehr klar sehen. Sie blinzelte ein paarmal, versuchte aufzustehen.
Jemand rief ihren Namen. Rhumkorrf. Sara schüttelte den Kopf, langsam gelang es ihr wieder, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
»Dreißig Sekunden bis zur Landung.« Das hörte sich an wie Alonzo … aber er war … im Cockpit.
»Sara, stehen Sie auf!«, schrie Rhumkorrf. »Nein, nicht bewegen, ich komme.«
»Bleiben Sie sitzen!« Mit einem Schlag war ihr Verstand wieder klar. Wenn das Flugzeug noch einmal so absackte, würde auch Rhumkorrf sich irgendwo den Kopf stoßen und das Bewusstsein verlieren.
»Zwanzig Sekunden.« Alonzos Stimme aus den Lautsprechern. Er musste die Gegensprechanlage repariert haben. Sara hatte kostbare Zeit verloren. Wieder senkte und hob sich das Flugzeug unter ihr. Sie ignorierte die Matchbeutel und kroch los, musste kriechen, denn sie konnte sich unmöglich auf den Beinen halten. Sie zog sich hoch in einen Sitz, der sich wie ein wildes Tier hin und her zu werfen schien.
»Zehn Sekunden«, rief Alonzo. Sein Tonfall war erschreckend unbeteiligt.
Sie schloss den ersten Gurt, in ihrem Kopf kreischte und hämmerte es. Ihre Hände gehorchten ihr nur langsam.
»Fünf … »
… du wirst das nicht überleben, wenn das Flugzeug aufschlägt, du wirst hin und her geschleudert werden und sterben …
»Vier … »
Bleib ruhig. Greif dir den Gurt, lass den Verschluss einrasten …
»Drei … »
… wir werden durch das Eis brechen und im eiskalten Wasser ertrinken …
»Zwei … »
Ihre Hände fanden den letzten Verschluss, der mit einem Klicken die Enden des letzten Gurtes verband.
»Eins … »
… das ist es, oh warum hast du mich nicht gerettet Colding, warum, warum, wa –
Der freie Fall endete mit einem Aufprall, der jedes Atom ihres Körpers durchschüttelte. Sie waren ein klein wenig zu steil hereingekommen, und sie ging bereits im Geist den Schaden durch. Die Nase des Flugzeugs würde sich nicht hochklappen lassen, was bedeutete, dass sie die vordere Rampe nicht benutzen konnten. Waren die Tanks aufgerissen worden? Würden sie Feuer fangen und das ganze Flugzeug in Brand setzen? Würde die C-5 seitlich wegkippen?
Das heftige Rütteln der Maschine drückte sie gegen die Gurte. Fünf endlose Sekunden verstrichen, erfüllt von kreischendem Metall, das über das unnachgiebige Eis schrammte.
Als die C-5 langsamer wurde, warf sie der Schwung heftiger gegen die Gurte als je zuvor. Zehn Sekunden später war die Schlidderpartie zu Ende, und ihr Körper sackte zurück in den Sitz. Sie riss die Verschlüsse auf und sah auf die Uhr. 21:10 Uhr. Es hatte sich wie eine qualvolle Ewigkeit angefühlt, doch die Notlandung hatte weniger als eine Minute gedauert.
Sie rannte in Richtung Heck. Der Lärm der schreienden Kühe und ihrer um sich tretenden Hufe klang ihr in den Ohren. Sie schlug auf den Knopf, um die Heckluke zu öffnen. Die hydraulischen Getriebe heulten auf, als die großen Türen sich öffneten und die metallene Laderampe sich langsam herausschob und absenkte. Wie Schwaden eines Gases tanzte der Schnee auf dem Wind in das Innere des Flugzeugs. Das Aufheulen der Bö hörte sich fast genüsslich an, als warte sie nur darauf, sich erneut auf die Menschen in dem gewaltigen Flugzeug stürzen zu können.
Sara drehte sich von dem hereinbrechenden Blizzard ab und griff nach dem Hörer der Gegensprechanlage.
»’Zo, alles in Ordnung bei dir?«
»Mir geht’s gut. Heilige Scheiße, wir leben noch!«
»Hilf Miller, Cappy runterzuschaffen, los, los, los!«
Sara sprintete durch den Gang zurück zu den Sitzen. Rhumkorrf war bereits aufgestanden und hatte sich auf wackligen Beinen in Bewegung gesetzt. Er stützte sich am Labortisch ab, stolperte auf die Heckrampe zu. Sie stürmte an ihm vorbei zu Tim, öffnete die Gurte, die den bewusstlosen jungen Mann in seinem Sitz hielten und nahm ihn wieder in ihren Feuerwehr-Tragegriff. Sie drückte sich hoch, schob sich das Gewicht auf der Schulter zurecht und …
… spürte, wie der Fußboden von schweren Schritten erschüttert wurde.
Sie drehte sich um und sah zur Heckrampe. Eine riesige schwarz-weiß gefleckte Kuh, die Augen vor Panik weit aufgerissen, schoss auf sie zu. Sara rannte quer durch den Gang in Richtung Laborbereich und sprang auf den Tisch. Beeinträchtigt durch Tims zusätzliches Gewicht, gelang ihr der Sprung nicht wie geplant. Der junge Mann rutschte ihr aus den Händen über den Tisch hinweg und krachte zu Boden. Die Kuh raste an ihr vorbei, bohrte ihre Hufe in das gummiüberzogene Deck. Der Körper des mächtigen Tieres streifte Saras Füße, bevor sie sie von der Tischkante wegziehen konnte. Die Kuh stürmte an den Sicherheitssitzen vorbei und prallte so heftig gegen die hochgeklappte vordere Rampe, dass der Aufprall das gesamte Flugzeug erschütterte. Sie stolperte zurück, drehte sich dann heftig um und verletzte sich an einem der Sitze. Blut spritzte über das schwarz-weiße Fell und strömte zu Boden, als die Kuh auf die Heckrampe zurannte, die sich noch immer absenkte.
Kreischende Winde in Hurrikanstärke bliesen durch die sechs Meter breite Hecköffnung und wehten immer mehr Schnee in den Frachtbereich. Zwei weitere Kühe stürmten auf die Rampe zu in Richtung Freiheit – hinaus aus dem entsetzlichen Flugzeug. Bei ihrem Versuch, ins Freie zu gelangen, rammten sie sich immer wieder gegenseitig. Der Huf einer Kuh verfing sich im Kadaver von Miss Patty Melt. Das Tier stürzte hart, sein Bein brach mit einem Geräusch, das sich wie ein Schuss anhörte. Erfüllt von Angst und Schmerz stieß die Kuh ein lautes Heulen aus und versuchte mühsam, sich wieder aufzurappeln, doch das gebrochene Bein konnte ihr Gewicht nicht mehr tragen.
Sara sah, wie Rhumkorrf von Box zu Box ging, die Türen öffnete und mit einem Druck auf den entsprechenden Knopf die Geschirre der Tiere löste. Langsam senkten sich die schweren Leinengurte drei, vier Zentimeter, so dass die Hufe der Tiere einen festen Stand auf dem Deck gewannen; dann lösten sich die Geschirre ganz und fielen schlaff zu Boden. Die Tiere stürmten aus den schmalen Boxen und rasten in einer Stampede auf die Rampe zu.
»Was zum Teufel machen Sie denn da?«, schrie Sara über den kreischenden Wind und die schreienden Tiere hinweg.
Doch Rhumkorrf antwortete nicht. Der Wind wirbelte seine über die Halbglatze gekämmten Haare hin und her. Einige Kühe schafften es bis zur Rampe, andere blieben verwirrt und verängstigt stehen.
Von oben hörte Sara das Quietschen der Aufzugsmotoren. Die Plattform senkte sich. Sie sah Alonzo und Miller auf dem Metallgitter stehen. Zwischen sich hielten sie eine Trage, auf der Cappy lag. Die Plattform würde sie auf der anderen Seite des Mittelgangs am Labortisch absetzen.
»Sara!«, schrie Alonzo. Wegen des Windes und der Kühe konnte sie ihn kaum hören. »Was soll denn das?«
»Schnell, wir müssen los!«
Langsam sank die Plattform tiefer. Zuerst waren nur die Füße der Männer zu sehen, dann die Schienbeine und dann die Knie.
Panisch rannte eine Kuh von der offenen Heckluke weg in die falsche Richtung. Sie prallte so heftig gegen den schwarzen Labortisch, dass Sara auf den am Boden liegenden Tim geschleudert wurde. Die Kuh krachte noch einmal gegen den Tisch, der umstürzte. Sara gelang es gerade noch, die Hände hochzureißen, bevor die schwere Tischkante auf sie niederschoss. Mit zitternden Muskeln versuchte sie, den Tisch beiseitezuschieben.
Sie hörte ein metallisches Rasseln, die erschrockenen Rufe der Männer, ein vor Schmerz aufheulendes Tier. Dann brach das Geräusch der jaulenden Aufzugsmotoren ab und setzte gleich darauf wieder neu ein.
Nein! Alonzo fuhr wieder nach oben!
Sara schrie auf und drückte mit ihren zitternden Armen noch heftiger gegen die Tischkante. Der Tisch glitt ein kleines Stück zurück, es gelang ihr, ihre Beine aus der Gefahrenzone zu ziehen, bevor sie losließ. Die schwere schwarze Tischplatte krachte wie eine Guillotine zu Boden. Doch immerhin schützte die jetzt senkrecht stehende Platte Sara vor der blutenden, rasenden, über dreizehnhundert Pfund schweren Kuh.
»Alonzo, komm zurück!«
Sara erkannte gerade noch, wie schräg über ihr ein Fuß vom Gitter verschwand, dann nichts mehr. Sie hatte zu spät gerufen. Die Plattform befand sich wieder auf dem Oberdeck. Von der Ecke, an der die Kuh gegen das Metall geprallt war, tropfte Blut herab. Alonzo trug Cappy zur Heckleiter, auf der Suche nach einem sichereren Weg nach unten. Sara warf einen Blick auf die Uhr. 21:11 Uhr.
Eine Minute.
Wie viel von dieser letzten Minute war bereits vergangen? Fünf Sekunden? Zehn? Die Zeit war abgelaufen. Sara spürte, wie ihr plötzlich heiß und unkontrollierbar Tränen über die Wangen strömten.
Ihre Crew würde es nicht schaffen.
Keine Zeit keine Zeit keine Zeit …
Bevor sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sie sich Tim wieder auf die Schultern gehoben. Sie ging um den Tisch herum und rannte mitten in die Stampede. Brüllende schwarz-weiße Körper hoben und senkten sich neben ihr, rammten sie, schleuderten sie von einer Seite zur anderen, doch sie weigerte sich zu stürzen, weigerte sich zu sterben.
Keine Zeit keine Zeit keine Zeit …
Sie spürte, wie sich der Untergrund veränderte, als sie vom gummiüberzogenen Boden im Inneren des Flugzeugs auf die unter ihren Füßen widerhallende Stahlrampe trat und gleich danach eiskaltes, mehrere Zentimeter hohes Wasser unter ihren Sohlen wegspritzte. Wirbelnder Schnee tanzte im kegelförmigen Licht, das aus dem Inneren der C-5 nach außen drang. Eine breite, lange, nasse Rinne zog sich durch das schneebedeckte Eis. Wasser blubberte aus tausend kleinen Rissen nach oben und bildete eine schimmernde Oberfläche, die sich immer weiter ausbreitete und die fallenden Schneeflocken verschlang. Wie ein weißes Tuch hüllte der Schnee sie ein, legte sich um ihre Augen und ihren Mund.
Wie lange noch wie viele Sekunden noch werd’s nicht schaffen werdsnichtschaffen …
Sie wandte sich nach links, von der Rinne weg, und kämpfte sich ohne nachzudenken durch den hüfthohen Schnee. Sie fror nicht, und sie hörte die Kühe nicht mehr. Sie ging einfach immer weiter, weg vom Flugzeug, weg vom Tod, auf das Leben zu.
Wir sterben sowieso jeden Augenblick kann es jetzt –
Ein Knall, ein donnerndes Dröhnen, dann flog sie durch einen Hochofen-Hitzeschwall. Sie schlug hart auf und schlidderte mit dem Gesicht voran über das schneebedeckte Eis.
Schließlich kam Sara mühsam wieder auf die Beine und drehte sich um. Die Explosion hatte die C-5 unmittelbar hinter dem Cockpit und hinter den Flügeln auseinandergerissen – Magnus hatte also noch eine zweite Bombe angebracht. Grelle Flammen schossen neun Meter in die Höhe und erleuchteten die stürmische zugefrorene Bucht mit ihrem flackernden Glanz.
Links neben ihr lag Tim bewegungslos auf dem Rücken. Ihre Crew war entweder bereits tot, oder sie verbrannte gerade. Und sie konnte absolut nichts dagegen tun. Es gab überhaupt nur noch einen Menschen, den sie retten konnte – Tim Feely. Mit einer Bewegung, die sie inzwischen gut beherrschte, nahm sie ihn wieder auf ihre Schultern. Wie konnte er ihr nur jemals leicht vorgekommen sein? Sie trug seine reglose Last, wobei sie sich mit halben Schritten durch den hüfthohen Schnee schob.
Hinter sich hörte sie eine weitere Explosion, als die Tanks in Flammen aufgingen. Inzwischen war sie schon etwas weiter entfernt, so dass sie den mächtigen Wirkungen der Druckwelle entging. Sie drehte sich ein letztes Mal um und warf einen gequälten Blick zurück. Die brennende C-5 schien zu zucken wie eine sterbende Antilope unter dem Todesbiss eines Löwen. Es dauerte einen Augenblick, bis Sara begriff, warum: Das Flugzeug brach durch das geborstene Eis. Zuerst verschwand das Heck; sein Gewicht war schließlich zu hoch geworden für die immer dünner werdende Eisschicht. Ein tiefes, widerhallendes Knacken, als die Eisplatte brach, und dann ein Knirschen, als sich das Metall durch die gefrorene Oberfläche der Bucht schob. Schließlich versank das glühende Metall mit einem lauten Zischen im Wasser. Es dauerte nur Sekunden, dann war das Heck verschwunden.
Sara starrte noch immer auf die Bucht hinaus. Ihre Augen suchten den blendenden Schnee ab, in der Hoffnung auf ein Wunder, in der Hoffnung, einen ihrer Freunde zu sehen. Vielleicht hatten sie es ins Freie geschafft, vielleicht waren sie auf der anderen Seite des Flugzeugs.
Das vibrierende Knacken ging weiter. Die Mitte des zerfetzten Flugzeugs sackte ein Stück weit nach unten; hielt sich noch einen Augenblick lang, gestützt von den brennenden, flach auf dem Eis liegenden Flügeln, doch dann knarrten die Flügel, sie bogen sich und rissen schließlich an ihren Befestigungspunkten ab, als der Rumpf ins Wasser glitt. Die massiven Boeing-Düsen kamen als Nächstes. Sie brachen durch das Eis und zogen den größten Teil der Flügel mit sich. Einige Teile blieben über die Oberfläche der Bucht verstreut zurück, doch der Schnee sammelte sich bereits auf ihnen und hüllte sie ein.
Die C-5 war so gut wie verschwunden. In vier bis fünf Stunden wäre der Ort ihrer Notlandung nichts weiter als eine Ansammlung merkwürdig geformter Schneewehen. Sara hörte ein letztes Zischen, als das übrige Stück glühenden Metalls ins Wasser sank. Dann gab es nur noch das Geräusch des Blizzards.
Nein, da war doch noch etwas zu hören – das ferne Rufen einer muhenden Kuh.
Sara erschauderte. Sie waren wieder auf der Insel, wo jemand unbedingt – unter allen Umständen – ihren Tod wollte. Keine Decken, keine Nahrung, kein Schutz vor dem Blizzard bis auf ihren schwarzen Parka. Und sie konnte nicht einmal das Ufer sehen.
Tiere haben Instinkte, die ich nicht habe … die Kühe werden das Ufer finden.
Sie war bereits erschöpft. Sie wusste nicht, wie lange sie Tim noch tragen konnte. Sie mussten aus der Bucht verschwinden und irgendwo Schutz vor dem Wind finden, oder sie würden genauso sicher sterben, wie wenn sie es nie aus dem Flugzeug herausgeschafft hätten. Sara schob sich die menschliche Last auf ihrer Schulter zurecht, stemmte sich gegen den Wind und ging auf die fernen Rufe der Kühe zu.