9. November: Trinken bis zum Umfallen
Irrsinn. Tim Feely arbeitete inzwischen seit zwei Jahren mit Jian zusammen, und deswegen traute er sich zu, Irrsinn zu erkennen, wenn er damit konfrontiert wurde. Und was war das alles hier? Genau, Irrsinn.
Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte Erika Hoel Single Malt aus seinem Bauchnabel geleckt. Ganz langsam. Das war gut. Es war scharf, machte Spaß und es war sexy. Klar, wenn man monatelang auf einer eisigen Insel festsaß, dann war das Scheiße im Quadrat, aber wenn man mit einer holländischen Wildkatze zusammen war, dann wurde alles ein kleines bisschen erträglicher.
Und seither? Explosionen. Sabotage. Brady Giovanni verbrannt, und zwar extra knusprig. Die holländische Wildkatze hatte versucht, Jian mit einer Feuerwehraxt zu erwürgen. Colding blutüberströmt. Ein riesiges Flugzeug und eine verdammt geheime Insel voller Yooper. Es war wie in einem James-Bond-Film, nur dass durch Inzucht verblödete Hinterwäldler die Hauptrolle spielten. Und was wahrscheinlich am schlimmsten war: Er musste Erikas Pflichten übernehmen.
Er brauchte einen Drink. Vielleicht würde er irgendwo im Landhaus einen finden, und hoffentlich, bevor er eine Pistole fand, denn wenn er dieser überaus munteren Frau mit Lockenwicklern noch eine Minute länger zuhören musste, würde er sich direkt ins Gesicht schießen.
»Das hier ist meine Lieblingsaussicht auf der ganzen Insel«, sagte Stephanie. »Es ist die hintere Veranda.«
»Tatsächlich?«, sagte Tim. »Ich schätze mal, das ist ein guter Name für eine Veranda, die sich hinter dem Haus befindet.«
Stephanie lachte. Ihr Ehemann, der Ex-Supersportler, lachte nicht. Er bedachte Tim mit einem Blick, der unmissverständlich sagte: Vorsicht, Arschloch. Er war nicht so kräftig, wie Brady gewesen war, doch er war kräftig genug. Tim beschloss, vorsichtig zu sein.
Doch ob er nun einen Kater hatte oder nicht, die Aussicht von der weitläufigen Veranda aus raubte Tim wirklich den Atem. Das Landhaus war ein Juwel, das auf einer Krone aus goldenen Sanddünen ruhte, die sich, bedeckt von einzelnen Schneeflecken, sanft zur Küste hinabzogen.
Ein wenig Sand und Schnee wurden über die Steinstufen geweht, die fast bis direkt an den Strand führten. Weiße Schaumkronen auf dem Wasser reichten bis zum Horizont. Trotz der anbrandenden Wellen gab es Hunderte von Stellen, an denen das Meer scheinbar statische Wirbel bildete – nämlich dort, wo sich die zahllosen Granitfelsen befanden, die jedes Schiff zum Sinken bringen würden. Zweihundert Meter von der Küste entfernt erhob sich ein einzelner Felsen über achtzehn Meter hoch aus dem Wasser. »Was ist denn das für ein großer Felsen, der aussieht wie ein Pferdekopf?«
»Das ist Horse Head Rock«, sagte Stephanie.
Wie hätte er auch sonst heißen können. Black Manitou, ein Ort wahrer Poesie.
»Kommen Sie mit. Es gibt noch so viel, was wir Ihnen zeigen müssen.«
Ein breites, vom Boden bis zur Decke reichendes Panoramafenster befand sich am Ende der Veranda. Glastüren führten in eine großzügig angelegte Lounge voller Ledersessel und teuer wirkender Tische. Ein langes Bücherregal aus Mahagoni, auf dem alte Lederbände standen, zog sich um einen großen Flachbildfernseher. Eine dazu passende Mahagonibar mit Marmortheke und Zierleisten aus Messing beherrschte den Raum. Dahinter – oh danke, Gott, danke – befand sich ein gut ausgeleuchteter, offener Barschrank aus Glas, der mit Hunderten von Flaschen gefüllt war.
Tim ging direkt auf den Barschrank zu. Auf einem langen weißen Tuch waren einsame Gläser aufgereiht, die nur darauf warteten, dass man ihnen freundlich die Hand gab. Er nahm sich ein Glas und begann, die Flaschen durchzusehen.
»Es ist noch ein wenig früh für einen Drink, oder?«, sagte James.
»Für einen guten Schluck ist immer Platz, großer Mann.«
Tim sah, dass eine Whiskymarke vorherrschte; sie nahm ein ganzes Regal ein. »Hier gibt es so viel Yukon Jack, dass man damit bis zum Jüngsten Gericht auskommen müsste. Allerdings nur, wenn Jesus Christus bis zum Umfallen mittrinkt.«
»Die würde ich nicht anrühren«, sagte Stephanie leise. »Die gehören Magnus.«
Ah, Magnus. Na schön, dann würde Tim sie eben stehen lassen und zur nächsten Marke übergehen.
»Ach du meine Güte«, sagte Tim, als er eine Flasche Caol-Ila-Scotch aus dem Regal nahm. »Komm zu Papa.« Er schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug. Die Flüssigkeit brannte sich durch seinen Körper. Das erste Glas war nichts weiter als Medizin gegen seinen Kater. Erst beim zweiten Glas zählte der Geschmack.
»Mister Feely«, sagte James. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht … Wir haben noch einige Arbeiten zu erledigen.«
Tim ließ die Flasche auf der Theke stehen. Er folgte James und Stephanie aus der Lounge. Der Rest des Gebäudes verriet überall den eleganten Stil der Jahrhundertwende – vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert wohlgemerkt, nicht vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten. Wandverkleidungen aus Teak, Applikationen aus Mahagoni, ein Kristalllüster in jedem Zimmer. Zu seiner Zeit musste dieser Ort absolut angesagt gewesen sein.
Doch trotz seines Stils und der Wärme, die das Gebäude ausstrahlte, ließ sich das Alter nicht ganz übersehen. An einigen Stellen hatte sich der Fußboden etwas abgesenkt, die Teakpaneele waren nicht mehr bündig. In jeden Flur und in jedem Zimmer waren Hinweise auf kleinere Reparaturarbeiten zu erkennen. Die jahrzehntelange Beanspruchung hatte ihre Spuren hinterlassen.
»Dreißig Gästezimmer«, sagte Stephanie. »Speisesaal, Küche und so weiter. Im Untergeschoss befinden sich die ehemaligen Personalunterkünfte, die inzwischen als Lagerräume dienen, eh? Dazu ein Überwachungsraum, den wir allerdings nicht betreten können, denn nur Clayton kennt den Geheimcode für die Tür. Wir zeigen Ihnen Ihr Zimmer, und dann machen wir uns wieder auf den Weg.«
Sein Zimmer. Perfekt. Zeit für ein kleines Nickerchen – und zwar nicht in einem verfluchten Sitz der Air Force, den der Marquis de Sade entworfen hatte. Noch ein paar Drinks, und dann ein köstlicher Schlummer. Er leerte sein Glas.
»Mister Feely, ich brauche Sie!« Ein rauer deutscher Akzent, eine Stimme, als jage man einen Dolch in Tims Ohren. Sein Herz sank ihm in die Hose, als hätten ihn seine Eltern gerade beim Betrachten einiger freizügiger Zeitschriften erwischt. Er drehte sich um und sah Claus Rhumkorrf, der, die Hände auf die Hüften gestützt, im Flur stand.
»Mister Feely, trinken Sie etwa?«
Tim betrachtete das leere Glas in seiner Hand, als sei er überrascht, es dort zu finden. »Was? Das hier? Ich habe gerade gesehen, wie es irgendwo herumlag, und da wollte ich ein verantwortungsvoller Bürger sein. Ordnung muss doch sein, nicht wahr?«
»Wir sind bereit, mit der Implantation zu beginnen«, sagte Rhumkorrf. »Kommen Sie mit zum Flugzeug. Unverzüglich.«
Rhumkorrf drehte sich um und stürmte den Flur hinab. Stephanie zuckte mit den Schultern und streckte den Arm aus, die Handfläche nach oben gedreht. Tim gab ihr das Glas. Dann folgte er Rhumkorrf.