24. November: Sie verstehen das

Implantation + 15 Tage

 

Der Schnee war zwar nicht mit einem mächtigen Sturm gekommen, doch gekommen war er trotzdem. Mal waren es zwei Zentimeter, mal fünf; während der letzten Wochen hatte es immer nur leicht, aber dafür regelmäßig geschneit. Deshalb bemerkte Colding auch erst jetzt, dass es gut fünfzehn Zentimeter waren, die alles bedeckten.

Und die Flocken fielen weiter.

Er stand am Strand und sah zu, wie Claus Rhumkorrf versuchte, Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Hinter und über ihnen erhob sich die weitläufige rückwärtige Veranda des Landhauses. Vor ihnen: Wasser, weiße Schaumkronen und Horse Head Rock. Rhumkorrf hob einen flachen Stein vom Boden auf. Der Stein glitt zweimal aus seiner in einem Fäustling steckenden Hand, bevor es ihm gelang, ihn so fest zu packen, dass er ihn werfen konnte. Der Stein hüpfte nur ein einziges Mal über das Wasser, bevor er in einer gut einen Meter hohen Welle versank.

»Für so etwas muss das Wasser flacher sein«, sagte Colding.

»Sind Sie jetzt auch noch Physiker?«

»Ich bitte Sie, Doc. Reden Sie mit mir. Wir müssen Jian helfen.«

Rhumkorrf zuckte mit den Schultern. »Druck und Stress verstärken ihre Symptome, und wie man so sagt: Das alles setzt uns mächtig zu. Wir können nur bis zu einem gewissen Grad etwas für sie tun.«

»Sie weichen mir aus, und das wissen Sie.«

Noch immer starrte Rhumkorrf hinaus auf das Wasser. Er schien Horse Head Rock zu fixieren, der sich in etwa zweihundert Metern Entfernung aus den Wellen erhob.

»Es ging ihr monatelang gut«, sagte Colding. »Und jetzt hat sie so sehr zu kämpfen. Sie hat Halluzinationen. Wir müssen dem ein Ende machen, bevor sie wieder versucht, sich umzubringen.«

»Ich habe ihre Dosis erhöht.«

Rhumkorrf versuchte, einen weiteren Stein aufzuheben, doch der rutschte ständig aus seinen übergroßen Wollfäustlingen. Nach dem dritten Versuch gab er auf, streckte sich und starrte hinaus auf die schäumenden Wogen.

Irgendetwas stimmte nicht. Rhumkorrf war der Visionär, der Planer, doch bei diesem Projekt geschah nichts ohne Jians Genie. Trotzdem schien Rhumkorrf nicht im Geringsten darüber besorgt, dass sich die biochemischen Verhältnisse in Jians Körper verändert hatten und dass er möglicherweise nur unter großen Mühen eine neue Medikation finden würde, die bei ihr wirkte.

»Wenn es sein muss, ziehe ich jemanden hinzu«, sagte Colding. »Einen weiteren Arzt. Jemanden, der ihr wirklich helfen kann.«

Plötzlich war zu erkennen, dass Rhumkorrf Angst hatte, er wirkte fast panisch. »Wenn Sie noch einen Arzt hierherholen oder sie aufs Festland bringen, werden die Amerikaner uns finden und die Station dichtmachen.«

Colding hob die Hände, die Handflächen nach vorn gedreht. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun, wenn Sie ihr nicht helfen können?«

»Erledigen Sie Ihren Job«, schrie Rhumkorrf. »Sorgen Sie für unsere Sicherheit, sorgen Sie dafür, dass man uns nicht findet, bis ich meine Arbeit abgeschlossen habe. Jians Aufgabe besteht darin, mich bei der Schaffung des Stammvaters aller Säugetiere zu unterstützen. Das macht sie im Augenblick ganz hervorragend. Vielleicht müssen wir den kleinen Nachteil, den das für sie mit sich bringt, einfach akzeptieren.«

Dieser miese Typ gab keinen Rattenarsch auf Jians Gesundheit. Für ihn zählte einzig und allein das Experiment.

»Sie sind Arzt«, sagte Colding. »Eigentlich sollten Sie Menschen helfen.«

»Aber genau das mache ich. Ich helfe Millionen Menschen. Ist Ihnen denn noch nicht aufgefallen, P.J., dass Jian gerade dann am brillantesten ist, wenn sie in diesen Zustand gerät? Es geht um unser aller Wohl. Gerade Sie sollten das verstehen.«

Colding starrte den kleinen Mann an. Im Augenblick hatte er sogar die Kälte vergessen. Langsam begriff er. Rhumkorrf machte sich keine Sorgen darüber, ob er ein neues Medikament für Jian finden würde, weil er wusste, dass die Medizin, die sie bereits nahm, ihr helfen würde … wenn sie sie in einer ausreichenden Dosis bekam.

»Sie Dreckschwein«, sagte Colding. »Sie haben ihre Dosis herabgesetzt.«

Rhumkorrf zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Horse Head Rock zu.

Plötzlich konnte Colding kaum mehr denken. Er wollte Rhumkorrf die Zähne eintreten. »Wie lange geht das schon so?«

»Fünf Wochen. Es musste sein, und es hat funktioniert. Sie verstehen das.«

Coldings linke Hand schoss nach vorn und packte Rhumkorrfs Nacken. Er drückte zu und zog den kleineren Mann zu sich heran.

»Fassen Sie mich nicht – «

Rhumkorrf konnte den Satz nicht beenden, denn Coldings rechte Hand schloss sich um seinen Hals und drückte gegen den Adamsapfel. Rhumkorrfs Finger versuchten, die Hände wegzuziehen, doch er fand keinen Halt. Eine Erinnerung schoss Colding durch den Kopf. Er dachte an Magnus auf Baffin Island, der nur ein wenig fester zugedrückt hatte, damit Andy allen Widerstand aufgab. Coldings Hände umschlossen den Hals enger. Er schüttelte Rhumkorrf, sein Kopf zuckte hin und her.

Rhumkorrf rührte sich nicht mehr. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, sah er durch seine verrutschte Brille.

»Erledigen Sie das«, sagte Colding. »Oder ich erledige Sie.«

Er schob Rhumkorrf von sich weg – ein wenig zu heftig. Der kleinere Mann stolperte, stürzte und rutschte über den schneebedeckten Sand. Er stützte sich mit nach hinten gestreckten Händen auf und blickte zu Colding hoch. Plötzlich sah Colding die Szene mit Rhumkorrfs Augen, sah einen größeren, stärkeren Mann, der ihn überragte und bereit war, ihm Schmerzen zuzufügen.

Seine Vernunft kehrte zurück und mit ihr eine tiefe Verlegenheit.

»Claus … ich … »

»Bleiben Sie mir vom Leib«, sagte Rhumkorrf. »Ich werde Jians Medikation ändern. Bleiben Sie mir einfach nur vom Leib.«

Mühsam stand er auf und rannte auf die Stufen des Landhauses zu, wobei er einen weiten Bogen um Colding machte.

Colding wusste nicht, was ihm mehr zu schaffen machte: dass er die Nerven verloren und Hand an Rhumkorrf gelegt oder dass er für einen kurzen Augenblick Magnus Paglione als Beispiel für vorbildliches Verhalten betrachtet hatte.

»Fuck«, sagte er.

Er wartete noch ein paar Sekunden, damit Rhumkorrf genügend Abstand zu ihm gewinnen konnte. Dann ging er auf die Treppe zum Landhaus zu.

Zuerst würde er nach Jian sehen, dann würde er Sara suchen.

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