1. Dezember, 12:25 Uhr

Sanft schüttelte eine Hand ihre Schulter.

Sara wollte nicht aufwachen. Ein Bett, und so dicke Decken, dass sie beinahe schwitzte. Normalerweise hätte sie sich bei einer solchen Wärme unwohl gefühlt, doch im Augenblick kam es ihr so vor, als hätte sie noch nie etwas so Luxuriöses und Wunderbares erlebt.

»Sara, wachen Sie auf, eh?«

Ihre Lider zuckten. Sie öffnete die Augen und sah Claytons Gesicht mit den grau melierten Bartstoppeln, das direkt über dem ihren schwebte. Er saß auf dem Bett. Auch Tim sah zu ihr herunter. Unter seinem linken Arm steckte eine Krücke, und in seiner rechten Hand hielt er ein zur Hälfte abgenagtes Hühnerbein. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen. Seine Wundnaht sah zwar noch immer ziemlich übel aus, doch die Schwellung darunter war zurückgegangen.

Sara setzte sich auf und genoss das einfache Vergnügen, einmal nicht zu frieren. »Was ist passiert? Bin ich nackt?«

»Du bist in Ohnmacht gefallen«, sagte Tim. »Clayton hat dich in den Wagen getragen und uns dann zu seinem Haus gefahren. Wir beide haben dich ausgezogen, deine Kleider waren nass. Clayton war ein vollendeter Gentleman, aber ich habe dich in die Nippel gekniffen.«

»Ja sicher doch«, sagte Clayton.

Sara rieb sich die Augen. Sie sah Clayton an. Ihre Beretta steckte im Bund seiner dicken Schneehose.

»Starren Sie auf die Waffe? Das hoffe ich, denn wenn es mein Ding ist, das Sie anstarren, könnte Colding vielleicht sauer werden, eh?« Er zog die Beretta aus dem Hosenbund und reichte sie ihr mit dem Griff voran. »Versprechen Sie, sie nicht mehr auf mich zu richten?«

Sara nickte und nahm die Pistole.

Offensichtlich gab es wenigstens einen Menschen, dem sie trauen konnte.

Clayton schien überaus zufrieden darüber, die Waffe nicht mehr bei sich tragen zu müssen. »Tim hat mir von der Bombe erzählt. Ich wusste, dass Magnus ein übler Schweineficker ist, der sich gerne in Kotklumpen wälzt, aber ich hätte nicht gedacht, dass er so weit gehen würde. Wo sind Sie eigentlich gelandet?«

»In der Rapleje Bay«, sagte Sara. »Auf dem Eis.«

»Kein Scheiß?«

»Kein Scheiß.«

»Und jetzt liegt das Flugzeug immer noch dort?«

»Ich glaube, der größte Teil ist durch das Eis gebrochen, als die Bombe hochging.«

»Das bezweifle ich«, sagte Clayton. »Das Ding ist einfach zu groß. Sobald ich kann, werde ich hochfahren und mir das Ganze mal ansehen. Gut möglich, dass Magnus schon bald eine Runde mit dem Schneemobil drehen wird. Glücklicherweise führt keiner der geräumten Wege an der Rapleje Bay vorbei. Wenn er sich an die übliche Strecke hält, müsste alles klappen, selbst wenn noch ein Teil des Flugzeugs zu sehen ist.«

Sara nickte. »Und dann? Was zur Hölle sollen wir tun, Clayton?«

»Wir müssen euch von der Insel schaffen. Die Kühe sind bei Sven. Sobald Magnus das herausfindet, wird er nach Überlebenden suchen. Die Telefonleitungen sind unterbrochen, aber so etwas lässt sich nie lange geheim halten.«

Sara erinnerte sich an das Monster, das aus dem aufgerissenen Bauch der Kuh geglitten war. »Wir müssen Sven sagen, dass er sich von den Kühen fernhalten soll.«

»Sich von den Kühen fernhalten?«, sagte Clayton. »Wie kann eine Kuh denn gefährlich sein?«

»Nicht die Kühe sind gefährlich«, antwortete Tim. »Sondern das, was in ihnen heranwächst.«

»Und was wächst in ihnen heran?«

»Monster«, sagte Sara.

»Ach so«, sagte Clayton. »Na, dann weiß ich ja Bescheid.«

»Wir dürften eigentlich keine Probleme bekommen«, sagte Tim. »Die Kühe werden nicht mehr intravenös ernährt, was dazu führt, dass die Föten verhungern. Nach allem, was wir gesehen haben, werden die Kühe einfach sterben, und die Föten werden mit ihnen zugrunde gehen.«

Sara schüttelte den Kopf. »Nein. Dieses Ding ist aus dem Körper rausgekommen und hat Cappy angegriffen.«

»Der Bauch der Kuh war bereits aufgerissen«, erwiderte Tim. »Das Baby hätte sowieso nicht lange überlebt.«

Clayton sah erst Tim an, dann Sara. »Ein Monster kam aus einer Kuh und hat Cappy gebissen und was ist dann passiert?«

»Es hat Cappy fast den Arm abgebissen, also habe ich es erschossen.«

»Oh Scheiße«, sagte Clayton. »Ich denke, ich werde Sven wirklich sagen, dass er sich von den Kühen fernhalten soll.«

Tim biss ein Stück von seinem Hühnerbein ab und sprach dann mit vollem Mund. »Im Augenblick ist es wohl ratsam, eher übervorsichtig zu sein. Auch wenn die Föten ohne die zusätzliche Versorgung mit Nährstoffen nicht lange überleben können. Am besten kommt niemand in die Nähe der Kühe. Die Muttertiere sterben, die Föten sterben, und die Sache ist erledigt. Alle Schwierigkeiten beseitigt.«

Clayton kratzte sich über seine Bartstoppeln. Es hörte sich an, als rieb er über Schmirgelpapier. »Ich werde Sven Bescheid sagen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir euch von der Insel schaffen müssen. Ich denke, ich kann dafür sorgen, dass ein, zwei Tage lang niemand etwas von den Kühen oder der Notlandung mitbekommt. Vielleicht sogar so lange, bis mein Sohn mit seinem Boot hier ist, um euch aufs Festland zu bringen. Ich werde mit Colding sprechen. Hoffentlich kann er Magnus irgendwie ablenken.«

Als sie Coldings Namen hörte, wurde Sara sich schmerzlich ihrer Einsamkeit bewusst, doch gleichzeitig erwachte ihr Misstrauen. »Nein. Wir können Colding nicht informieren.«

Clayton blinzelte ein paarmal. Dann legte er eine Hand auf Saras Schulter. »Sind Sie sicher, dass Sie ihm nichts sagen wollen? Er macht sich schreckliche Sorgen um Sie.«

Sara wollte, dass Colding Bescheid wusste; sie hätte ihn am liebsten noch in dieser Sekunde bei sich gehabt, aber das wäre alles andere als klug gewesen. »P. J. wollte, dass wir in ein Flugzeug steigen, in dem eine Bombe versteckt war. Und er selbst ist am Boden geblieben.«

Tim öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt dann aber inne und nahm einen weiteren Biss von seinem Hühnerbein. Tief in ihrem Inneren wusste Sara, dass Colding alles für sie tun würde, doch die Tatsachen und ihre Gefühle schienen einfach nicht zusammenzupassen … und drei tote Freunde waren eine verdammt ernstzunehmende Tatsache.

Eine Windbö ließ das Schlafzimmerfenster erzittern. Draußen flogen einige bauschige Schneeflocken vorbei.

Clayton erhob sich. »Wenn Sie das so wollen, soll’s mir recht sein. Heute Nacht werden wir einen weiteren Sturm bekommen. Er dürfte ziemlich heftig werden. Ich weiß nicht, ob Gary bei diesem Wetter zur Insel rausfahren kann. Ihr beide bleibt heute Nacht besser hier und ruht euch aus. Morgen werde ich euch in der alten Stadt verstecken, eh? Doch jetzt muss ich erst mal die Telefonleitungen in Ordnung bringen, damit Sven mich anrufen kann, wenn er mich braucht. Nehmt euch ein paar trockene Kleider aus dem Schrank und holt euch aus dem Kühlschrank, was ihr wollt. Aber seid leise. Wenn irgendjemand anklopft, dann antwortet einfach nicht.«

Er tätschelte Sara auf die Schulter und verließ das Schlafzimmer. Sie schob die Decken zurück und setzte sich auf. Tim tat so, als sehe er nicht zu ihr hin, als er Claytons Schrank durchsuchte. Er warf ihr ein Flanellhemd und eine Jeans zu, die sie rasch anzog.

»Sara«, sagte Tim. »Ist das die, für die ich sie halte?« Er starrte ein gerahmtes Foto an, das auf Claytons Kommode stand.

Sara stand auf und sah hin. »Ich will verdammt sein.«

Die Aufnahme zeigte Marilyn Monroe und einen deutlich jüngeren Clayton Detweiler, die in einen leidenschaftlichen Kuss versunken waren.

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