8. November: Rhumkorrf ist die Rettung

Das eindringliche Brummen der fliegenden C-5 erfüllte die Stille des Labors, doch Claus nahm es kaum wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Monitor an der Flugzeuginnenwand, was ebenso für Jian und Tim galt.

Wieder befand sich das aus 150 Rechtecken gebildete Gittermuster vor ihnen. Neunzehn Einheiten waren schwarz.

131/150.

Sie alle sahen immer wieder auf ihre Uhren und auf das Zählwerk des Monitors, sie suchten den Raum sogar nach zusätzlichen Uhren ab. So lange hatte es noch nie gedauert. In diesem Stadium waren in früheren Tests weniger als zehn Eizellen übrig gewesen.

Ein weiteres Rechteck wurde schwarz.

130/150.

Die drei Forscher hielten ihren Atem an und warteten auf die unvermeidliche Kaskade aus schwarzen Rechtecken. Eine Kaskade, zu der es nicht kam.

»Mister Feely«, sagte Claus, »geben Sie mir die Zeit.« Er hätte die Zeit von der in den Bildschirm integrierten Uhr ablesen können, doch es gelang ihm einfach nicht zu glauben, was er sah. Irgendwo musste es einen Fehler geben. Tim nahm die offizielle Zeit, und die war es, die Claus hören wollte. Früher hatte Erika die offizielle Zeit überwacht, doch sie war nicht mehr Teil des Projekts. Jetzt waren ihre Pflichten – und zwar ausnahmslos – auf Tim übergegangen.

»Vierundzwanzig Minuten, dreizehn Sekunden«, sagte Tim.

Claus verspürte einen Hauch von Hoffnung. Vielleicht … vielleicht. Er sah weiter auf den Monitor und wartete. Es erschienen keine schwarzen Rechtecke mehr. Die Embryonen vibrierten, als ihre Zellen sich immer weiter teilten und problemlos das Morula-Stadium erreichten. Einige der Rechtecke zeigten sogar, wie sich Morulas und Makrophagen einträchtig nebeneinander befanden.

Keine weiteren Angriffe mehr.

Niemand sprach. Claus fiel plötzlich auf, dass das Brummen der Triebwerke das einzige Geräusch im Labor war.

»Zeit?«

Tim wollte antworten, doch plötzlich fing er an zu würgen und hielt sich die Hand vor den Mund. Erika hatte nicht nur einen überlegenen Intellekt besessen, sie war offensichtlich auch in der Lage gewesen, den Alkohol besser bei sich zu behalten.

»Achtundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden«, sagte Tim, als er sich etwas erholt hatte. »Exakt.«

In Rechteck Nummer achtunddreißig zitterte die Eizelle: eine weitere erfolgreiche Mitose. Die Makrophagen bewegten sich ziellos hin und her.

Claus hatte es geschafft. Er hatte die Immunreaktion überwunden.

Seine Strategie war riskant gewesen: Indem er Jians Medikamente reduziert hatte, hatten sich ihre manisch-depressiven Symptome verstärkt, doch gleichzeitig war ihr Geist freier geworden. Schon immer hatte sie die kreativsten Lösungen gefunden, wenn sie sich am Rand des Wahnsinns bewegte. Schon bald könnte er – möglicherweise – ihre Dosis wieder auf den üblichen Wert erhöhen, aber jetzt noch nicht. Nicht, wenn er sie in Bestform brauchte. Als Nächstes war die Implantation vorgesehen. Wenn es dabei zu Problemen kam, brauchten sie eine schnelle Lösung. Um Himmels willen, sie waren schließlich auf der Flucht vor den Regierungen der Welt – jetzt war das Wichtigste, dass es schnell ging.

Abgesehen davon wurden Jians Alpträume zwar schlimmer, aber Halluzinationen hatte sie erst seit kurzer Zeit wieder. Wahrscheinlich blieb ihm noch etwa eine Woche, bevor sie wieder versuchen würde, sich umzubringen. Vielleicht weniger. Aber dieses Risiko musste er eingehen, es ging schließlich um Unsterblichkeit. Er zählte weitere sechzig Sekunden ab, nur um sicherzugehen.

Keine neuen schwarzen Rechtecke.

»Es ist ein Erfolg«, sagte er. »Wir müssen die Eizellen für die Implantation vorbereiten.

Er wünschte sich, dass Erika das miterlebt hätte. Trotz ihrer schrecklichen Taten war sie eine brillante Wissenschaftlerin. Aber gut, dann würde sie eben die Artikel in den wissenschaftlichen Zeitschriften lesen. Vielleicht würde er ihren Namen sogar in einigen der weniger wichtigen Forschungsberichte stehen lassen.

Jian jedoch würde ohne Einschränkung an zweiter Stelle genannt werden. Sie hatte es verdient. Er sah, wie sie an dem Verband um ihren Hals herumzupfte, einem Verband, der die Quetschungen bedeckte, die Erika ihr zugefügt hatte. Frauen. Sie waren alle verrückt.

»Jian, was ist anders?«, fragte Claus. »Was haben Sie gemacht?«

»Die vier neuen Proben waren eine große Hilfe, Doktor Rhumkorrf. Aber ich hatte auch eine ganz simple Idee, auf die wir bis dahin noch nicht gekommen waren. Wir wollen innere Organe gewinnen, und wir haben alles so kodiert, dass diese mit menschlichem Gewebe kompatibel sind. Was den Rest des Körpers betrifft, so gehen wir Stück für Stück vor, wir ersetzen eine kleine Proteingruppe nach der anderen und versuchen, das Puzzlestück zu finden, das uns noch fehlt, um die Kompatibilität zu erreichen. Dass ich eine Idee hatte, liegt an Mister Feely.«

»An mir?«, fragte Feely.

»Ja. Mir wurde klar, dass es ein Organ gab, das für unsere Bedürfnisse nicht von Bedeutung ist. Ich habe den Computer angewiesen, die gesamte DNS für dieses Organ auszutauschen und dann einhunderttausend Generationen einer Testevolution durchzuführen. Es scheint, dass die DNS, die mit diesem Organ verbunden ist, der verantwortliche Auslöser für die Immunreaktion war.«

»Aber welches Organ …«,begann Claus, verstummte allerdings sogleich wieder. Nein. So einfach konnte es nicht sein. Oder doch? Er hatte sie gebeten, einen Schritt zurückzutreten und auf völlig neue Art an die Dinge heranzugehen. Genau das hatte Jian getan, und sie hatte etwas gefunden, das ihnen allen schon vor Monaten hätte auffallen sollen.

»Und«, fragte Tim, »um welches Organ handelt es sich?«

»Um das größte Organ«, sagte Claus, bevor Jian die Worte aussprechen konnte. »Die äußere Körperschicht. Die Haut.«

Tim sah von Claus zu Jian. »Wirklich?«

Jian nickte. Sie lächelte sogar ein wenig. »Der Stammvater aller Säugetiere wird das Fell einer Kuh haben.«

»Und das ist schon alles?«, fragte Tim. »Damit ist das Problem gelöst?«

Natürlich war das Problem damit noch nicht gelöst. Der junge Mann verfügte nicht einmal ansatzweise über Erikas Brillanz. »Sie sollten wirklich nicht so dumm sein, Mister Feely. Wir haben es bisher nur geschafft, die Immunreaktion zu umgehen. Dadurch sind wir in der Lage, die Eizellen zu implantieren, sie zu überwachen, die Reaktionen zu messen und die Zellen gegebenenfalls zu modifizieren. Wir werden alle Embryonen wahrscheinlich innerhalb weniger Tage nach der Implantation schon wieder verlieren. Als wir das Quagga geklont haben, haben wir über zwölfhundert Blastozysten implantiert, bevor es auch nur einer einzigen gelang, bis zur Geburt zu überleben. Für diesen Teil des Quagga-Projekts war Doktor Hoel verantwortlich, Mister Feely. Jetzt sind Sie es.«

Tims Augen wurden größer. »Aber … aber ich bin doch nur Jians Assistent. Wir müssen jemanden holen, der Erika ersetzt.«

»Es gibt niemanden«, sagte Claus. »Wir sind isoliert, und wir müssen im Verborgenen bleiben. Herzlichen Glückwunsch, Mister Feely, Sie sind gerade befördert worden.«

»Aber … aber ich kann das nicht. Sie hat eine Spezies wieder zum Leben erweckt, die ausgestorben war. Ich kann nicht – »

»Sie können, und sie werden«, sagte Claus. »Es ist Zeit, dass Sie erwachsen werden, Mister Feely. Den Tod von Millionen Menschen zu vermeiden, liegt jetzt direkt in Ihren Händen.«

Tim blinzelte. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, musste jedoch plötzlich würgen. Er rannte zu einem Papierkorb und übergab sich.

Implantiert
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