7. November: Sie hat Eier
Die winzige, dahintreibende Zellkugel konnte nicht denken, konnte nicht reagieren. Sie konnte nicht fühlen. Hätte sie das gekonnt, dann hätte sie nur eine einzige Empfindung gehabt …
Angst.
Angst vor dem Monster, das zu ihr herantrieb. Amorph, heimtückisch und erbarmungslos tastete das Ungeheuer mit seinen Tentakeln um sich, berührte die Zellkugel und untersuchte sie.
Jedes Mal, wenn eine der Zellen ihre Mitose beendete und sich in zwei Tochterzellen teilte, vibrierte die dahintreibende Kugel ein wenig. Und das geschah schnell … viel schneller als bei jedem anderen Tier, jeder anderen Lebensform. Es gab nichts, was sich so schnell, so effizient teilte. Die Geschwindigkeit war so hoch, dass jede einzelne dieser lebenden Kugeln alle zwei oder drei Minuten vibrierte, weil sich die Zellen teilten und sich ihre Anzahl immer wieder verdoppelte.
Jede dieser dahintreibenden Kugeln war zunächst nichts weiter als eine einzige Eizelle einer Kuh gewesen. Und jetzt? Jetzt konnte man streng genommen nur noch die äußere Membran rinderartig nennen. Im Inneren jedoch befand sich ein einzigartiges Genom, und das bestand größtenteils aus etwas ganz anderem.
Das amorphe Monster? Ein Makrophage, ein weißes Blutkörperchen, ein Jäger und Killer, der aus dem Blut derselben Kuh stammte und zu der hybriden Eizelle in eine Petrischale gegeben worden war.
Knochenlos und formlos tasteten sich die Tentakel des Monsters voran – wie intelligentes Wasser. Sie streichelten die sich so unglaublich schnell teilende Eizelle, registrierten bestimmte Chemikalien, prüften wie die Eizelle schmeckte. Und das aus einem einzigen Grund:
Um zu sehen, ob die Eizelle körpereigen war.
Das war sie nicht. Die Eizelle war fremd.
Und alles Fremde musste zerstört werden.
Jian wusste bereits in diesem frühen Stadium, dass ihnen wieder einmal ein Misserfolg bevorstand.
Zusammen mit Claus Rhumkorrf, Erika Hoel und Tim Feely betrachtete Jian den riesigen Monitor, der im Genetiklabor, das bis zur Decke mit den verschiedensten Geräten angefüllt war, eine ganze Wand einnahm. In der oberen rechten Ecke des Monitors befanden sich zwei grüne Zahlen: 72/150. Auf dem ganzen Rest des gewaltigen Bildschirms bildeten Rechtecke in einer Größe von fünfundzwanzig mal zweiunddreißig Zentimetern ein Gittermuster. Mehr als die Hälfte der Rechtecke war schwarz. Die übrigen zeigten jeweils die stark vergrößerte, grobkörnig-graue Aufnahme eines Embryos.
Die »150« stand für die Anzahl der Embryos, die zu Beginn des Experiments am Leben gewesen waren. Fünfzig Kühe, drei genetisch veränderte Eizellen von jeder Kuh. Jede dieser Zellen teilte sich, ohne dass sie befruchtet worden wäre. Sobald sich diese Zelle genau wie eine befruchtete Zelle (eine sogenannte Zygote) in zwei Tochterzellen teilte, wurde sie zu einem Embryo, einem wachsenden Organismus. Jeder Embryo befand sich in einer Petrischale voller Nährlösung und Elementen des Immunsystems, die von derselben Kuh stammten: Makrophagen, natürliche Killerzellen und T-Lymphozyten. Diese Elemente waren gewissermaßen ein Spezialkräftekommando des Körpers, das Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger ausschalten sollte.
Die »72« stand für die Anzahl der Embryos, die noch immer am Leben und noch nicht von den gefräßigen weißen Blutzellen zerstört worden waren.
Jian sah zu, wie die Anzeige auf 68/150 sprang.
Rhumkorrf schien vor Wut zu zittern, und jedes Mal, wenn die Zahl weiter fiel, steigerte sich die Frequenz dieses Zitterns ein wenig. Er war kaum größer als Jian, doch sie war mindestens einhundert Pfund schwerer. Hinter seiner dicken, schwarz gerahmten Brille wirkten seine Augen sehr groß, und es war, als quollen sie aus ihren Höhlen. Je wütender er wurde, umso heftiger zitterte er. Je mehr er zitterte, umso mehr rutschten seine quer über den Kopf gekämmten Haare zur Seite und legten seinen glänzenden, fast kahlen Schädel frei.
65/150.
»Das ist lächerlich«, sagte Erika. Ihr gepflegter holländischer Akzent war voller Abscheu. Jian starrte auf die immer so sittenstreng auftretende Frau. Sie hasste Hoel – nicht nur, weil diese ein richtiges Miststück war, sondern auch, weil sie so hübsch und so feminin aussah, was man von Jian nicht gerade behaupten konnte. Hoel trug ihr silbergraues Haar zu einem straffen Knoten gebunden, wodurch ihr hochmütiges Gesicht völlig frei lag. Man sah die Fältchen, die eine Frau von zweiundvierzig Jahren unweigerlich hatte, doch keine davon erinnerte auch nur im Entferntesten an eine Lachfalte. Hoels Haut war so bleich, dass Jian sich oft fragte, ob diese Frau während der letzten dreißig Jahre jemals etwas anderes gesehen hatte als das Innere eines tageslichtlosen Labors.
61/150.
»Zeit?«, fragte Rhumkorrf.
Jian, Tim und Erika sahen automatisch auf ihre Uhren, doch die Frage galt nur Erika.
»Einundzwanzig Minuten, zehn Sekunden«, sagte sie.
»Holt die Versager vom Bildschirm«, sagte Rhumkorrf mit zusammengebissenen Zähnen. Wortlos gab Tim Feely die entsprechenden Befehle ein. Die schwarzen Rechtecke verschwanden. Einundsechzig jetzt viel größere Rechtecke blieben zurück.
Tim war Jians Assistent, ein Biologe mit beeindruckenden Fähigkeiten in Bioinformatik. Natürlich besaß er nicht Jians Niveau, doch sein multidisziplinärer Ansatz bildete eine Brücke zwischen Jians Geschicklichkeit am Computer und Erikas biologischem Fachwissen. Er war größer als Rhumkorrf, aber nur etwas. Jian hasste es, immer der massigste Mensch im Raum zu sein, obwohl zwei Männer und zwei Frauen an dem Projekt beteiligt waren.
Jian konzentrierte sich auf eines der Rechtecke. Der winzige, hilflose Embryo bestand aus einem grauen, fast durchsichtigen Zellhaufen, der von einem weißlichen Kreis umgeben war. Sobald er sechzehn Zellen umfasste, lautete die Bezeichnung nicht mehr Embryo, sondern Morula, entsprechend dem lateinischen Wort für Maulbeere, denn in diesem Zustand ähnelte er einer solchen Frucht. Üblicherweise dauerte es einige Tage, bis ein Säugetier-Embryo das Morula-Stadium erreichte, doch Jians Kreaturen brauchten dafür nur zwanzig Minuten.
Wenn man die Morula sich selbst überließ, teilte sie sich weiter, bis aus ihr eine hohle Zellkugel wurde, die man als Blastozyste bezeichnete. Doch um weiter zu wachsen, musste sich eine Blastozyste im Uterus des Muttertiers einnisten. Und das war vollkommen unmöglich, solange das Immunsystem der Kuh den Embryo als schädigenden Fremdkörper betrachtete.
54/150.
Jian konzentrierte sich auf ein einzelnes Rechteck. Links der Morula glitt ein Makrophage ins Bild. Er bewegte sich wie eine Amöbe, während er seine Pseudopodien ausbildete und damit umhertastete.
Überall auf dem wandgroßen Monitor verschwanden blinkend weiße Rechtecke, und Schwärze trat an ihre Stelle.
48/150.
»Verdammt«, zischte Rhumkorrf. Jian wunderte sich, dass seine Aussprache so deutlich war, obwohl er seine Zähne so heftig zusammenbiss.
Chemikalien steuerten das Verhalten des Makrophagen: Er kam in seiner Umgebung mit bestimmten Molekülen in Berührung und reagierte auf sie. Die äußere Membran der Morula, die Zona pellucida, war dieselbe Eizellenmembran, die der Kuh entnommen worden war. Dies bedeutete, dass sie zu 100 Prozent natürlich war, sie war ein eigener Körperteil dieser bestimmten Kuh und wurde somit von den Makrophagen fast nie angriffen. Was sich jedoch innerhalb dieser Hülle befand, war etwas, das Jian geschaffen hatte … Jian und ihre Gottesmaschine.
34/150.
»Schafft auch die weg«, befahl Rhumkorrf.
Tim gab die Befehle ein. Wieder verschwanden die schwarzen Rechtecke. Die übrig gebliebenen hellgrauen Rechtecke wurden noch größer.
Unverzüglich wurden auch einige dieser größeren Rechtecke nach einem kurzen Aufblinken schwarz.
24/150.
»Fuck«, fluchte Erika in entschieden unkultiviertem Ton.
Innerhalb der Morula begann eine Zelle zu zittern. Sie knickte in sich zusammen, so dass die ursprüngliche Kugel jetzt die Form eines Stundenglases hatte. Mitose. Der rankenförmige Teil eines Makrophagen erreichte die Morula und berührte sie. Fast war es, als streichle er sie zärtlich.
14/150.
Der gesamte amorphe Körper des Makrophagen glitt ins Bild – eine graue, formlose Masse.
9/150.
Die Rechtecke wurden eins nach dem anderen dunkel. Ihre Schwärze verspottete Jian und erinnerte sie an ihren Mangel an Fähigkeiten, an ihre Dummheit, an ihr Versagen.
4/150.
Der Makrophage glitt näher an die Morula heran. Noch einmal zitterte die sich teilende Zelle, und dann waren aus dieser einen Zelle zwei Zellen geworden. Wachstum, Erfolg – aber es war zu spät.
1/150.
Die rankenförmigen Ausbuchtungen des Makrophagen umkreisten die Kugel, berührten deren Rückseite und umschlossen sie. Die Ranken vereinten sich und hüllten die Beute vollständig ein.
Das Rechteck wurde schwarz. Auf dem Monitor blieben nichts als ein Gittermuster aus weißen Linien und eine grüne Zahl zurück.
0/150.
»Nun, das war ja wirklich spektakulär«, sagte Rhumkorrf. »Absolut spektakulär.«
»Oh bitte«, sagte Erika, »ich will wirklich nichts mehr davon hören.«
Rhumkorrf drehte sich zu ihr. »Du wirst dir das sehr wohl anhören. Wir müssen Ergebnisse liefern. Verdammt nochmal, Erika, du hast deine ganze Karriere auf diesem Verfahren aufgebaut.«
»Das war etwas anderes. Quagga und Zebra sind genetisch fast identisch. Das, was wir hier schaffen, ist künstlich, Claus. Wenn Jian kein geeignetes Genom produzieren kann, dann hat das Experiment von Anfang an einen Fehler.«
Jian hätte sich am liebsten irgendwo versteckt. Rhumkorrf und Erika hatten früher einmal ein Verhältnis gehabt, aber das war vorbei. Jetzt stritten sie sich wie ein geschiedenes Ehepaar.
Erika deutete ruckartig mit dem Daumen auf Jian. »Es ist ihre Schuld. Sie schafft es einfach nicht, mir mehr zu bieten als ein Embryo mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit von fünfundsechzig Prozent. Ich brauche aber mindestens neunzig Prozent, um überhaupt eine Chance zu haben.«
»Ihr beide seid dafür verantwortlich«, sagte Rhumkorrf. »Irgendetwas fehlt – oder wir übersehen etwas. Spezifische Proteine produzieren Signale, die die Immunreaktion auslösen. Ihr müsst herausfinden, welche Gene für diese Proteine verantwortlich sind, die uns immer in die Quere kommen.«
»Wir haben uns das angesehen«, sagte Erika. »Wir sind es immer und immer wieder durchgegangen. Der Computer führt die Analyse durch und wir entwickeln ständig neue Änderungen, aber das Ergebnis ist immer dasselbe.«
Rhumkorrf strich sich langsam mit der Hand über den Kopf, wobei er die verrrutschten Haare größtenteils wieder zurückstrich. »Wir sind viel zu nahe dran. Wir müssen unser Denken ändern. Der entscheidende Fehler liegt direkt vor unseren Augen, aber wir sehen ihn einfach nicht.«
Tim stand auf und streckte sich. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen, dichten blonden Locken, wobei er Rhumkorrf direkt ins Gesicht sah. Jian fragte sich, ob Tim das bewusst tat, um sich über Rhumkorrfs dünner werdendes Haar lustig zu machen.
»Wir sind das schon hundertmal durchgegangen«, sagte Tim. »Ganz abgesehen von meiner eigenen Arbeit sehe ich mir inzwischen auch noch jeden einzelnen Schritt von Jian und Erika an.«
Erika schnaubte wütend: »Als ob du meine Arbeit auch nur verstehen könntest, du Idiot.«
»Halt die Klappe!«, sagte Jian. »Sprich nicht so mit Tim.«
Höhnisch grinsend sah Erika von Jian zu Tim. »Ich dachte immer, du bist schon erwachsen, Tim. Brauchst du wirklich eine dicke alte Frau, die deine Kämpfe für dich austrägt?«
Tim blieb vollkommen ruhig – bis auf seine rechte Hand, die nach oben wippte und Erika den Mittelfinger zeigte.
»Das reicht, Mister Feely«, sagte Rhumkorrf. »Wenn Sie nicht genügend im Kopf haben, um zu dieser Arbeit beizutragen, dann sollten Sie wenigstens den Mund halten und Ihr wertloses Gehirn darauf konzentrieren, Ihren kleinen Computer laufen zu lassen.«
Tim ballte die Fäuste. Jian fühlte mit ihm. Wahrscheinlich war Tim bisher überall, wo er hinkam, der intelligenteste Mensch gewesen, und er hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Hier jedoch war er der dümmste, und Claus sorgte dafür, dass er das nie vergaß.
»Mir ist klar, dass wir alle frustriert sind«, sagte Rhumkorrf, »aber wir müssen lernen, in ganz neue Richtungen zu denken. Wir stehen kurz vor dem Durchbruch, habt ihr nicht auch das Gefühl?«
Sein glubschäugiger Blick wanderte durch den ganzen Raum und entlockte den anderen ein verspätetes Nicken. Sie standen wirklich kurz vor einem Durchbruch, und gerade das konnte einen verrückt machen. Jian schaffte es einfach nicht, das fehlende Puzzleteil zu finden. Sie war fast so weit, dass sie sich deswegen wieder in die Zeit zurücksehnte, in der sie noch keine Medikamente genommen hatte – Tage, an denen ihr Ideen freier und schneller gekommen waren. Aber das ging nicht mehr. Sie wusste nur zu gut, wohin das führte.
Rhumkorrf nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Ich möchte, dass ihr alle über etwas nachdenkt.« Er setzte die Brille wieder auf. »Wir haben eine Stunde gebraucht, um dieses Experiment durchzuführen. In dieser Stunde sind mindestens vier Menschen an Organversagen gestorben. Vier Menschen, die überlebt hätten, wenn es möglich gewesen wäre, das Organ zu ersetzen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sterben fast einhundert Menschen. Vielleicht solltet ihr das im Kopf behalten, bevor ihr wieder aneinander herumnörgelt.«
Jian, Tim und sogar Erika sahen zu Boden. »Was auch immer nötig sein sollte«, sagte Rhumkorrf, »was auch immer nötig sein sollte, wir werden diese Sache zu einem guten Ende führen. Sicher, der Immunreaktionstest war zum sechzehnten Mal ein Misserfolg. Aber mehr auch nicht. Arbeitet jetzt alle in euren Zimmern weiter. Wenn wir aufhören, einander anzublaffen, dann finden wir vielleicht dieses allerletzte Hindernis und können es eliminieren.«
Jian nickte, verließ das Labor und ging in ihr kleines Apartment. Sechzehn Immunreaktionstests, sechzehn Misserfolge. Sie musste eine Möglichkeit finden, damit Nummer siebzehn funktionierte, sie musste einfach, denn das Leben von Millionen Menschen hing von ihr ab, von ihr allein.