30. November: Der Anruf

Implantation + 21 Tage

 

Jian schlurfte durch den Korridor; sie machte so kleine Schritte, dass sie nur langsam vorankam, während ihre Hände manisch eine Flasche Dr Pepper der Länge nach durch die Luft wirbelten. Schließlich erreichte sie ihr Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann ging sie zur Frisierkommode. Sie verschob die Kommode nicht, sondern packte sie und hob sie hoch. Die Anstrengung entlockte ihr ein leichtes Grunzen, als sie das Möbelstück direkt hinter der Tür absetzte. Sie musterte das Bett mit den vier Pfosten. Dann zwängte sie sich zwischen Bett und Wand und begann zu schieben. Die Holzbeine des Bettes strichen knirschend über den polierten Steinfußboden. Das Bett ließ sich wie ein Keil dicht hinter der Frisierkommode platzieren.

Jian setzte sich an ihren Computertisch und rief das Programm auf, das sie zwei Tage zuvor geschrieben hatte. Es gab nichts, was sie sonst noch hätte tun können. Rhumkorrf wollte nicht auf sie hören. Nicht auf sie, nicht auf Tim. Colding würde nichts unternehmen. Sie hatte keine andere Wahl.

Sie gab mehrere Befehle ein. Das Programm öffnete ein Fenster mit den Worten: BEREIT KONTAKTSEQUENZ EINZULEITEN.

Sie drückte auf Enter.

 

Im Überwachungsraum saß Andy Crosthwaite zusammengekauert hinter seinem Monitor. Neben ihm lag seine große Tüte mit Pornoheften, deren robustes braunes Packpapier nach vielen Reisen abgegriffen und fast schon durchsichtig war. Doch Andy sah sich nicht die neueste Ausgabe von Juggs oder Gallery an. Er hatte die Hälfte des Manuskripts von Heiße Mitternacht gelesen. Niemand hätte schockierter über die Tatsache sein können, dass der gute alte Gun ein so verdammt gutes Buch geschrieben hatte, als Andy – und darüber, dass ausgerechnet er, Andy, einem schmalzig-romantischen Vampirroman so viel Aufmerksamkeit schenkte. Aber das Ding war nicht nur schmalzig. Gun hatte dafür gesorgt, dass in seinem Buch mehr Fickszenen vorkamen als im Pay-TV nach Mitternacht.

Andy wollte nicht, dass irgendjemand sah, wie er dieses Buch las – ganz besonders nicht Magnus, der seine Nase ständig in irgendeinen Shakespeare steckte. Andy selbst hatte nie viel Shakespeare gelesen, doch er wusste auch so, dass der alte Engländer nicht über Stalljungen mit rubinrot glitzernden Pimmeln schrieb, die in Wahrheit Killervampire waren. Gunther, alter Junge, das Ding hier war einfach genial … einfach ge-ni-al.

Ein langgezogenes Piepsgeräusch lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Hauptmonitor. Ein Fenster öffnete sich. Zwei Zeilen waren zu lesen.

ABSCHALTUNG STÖRSENDER EINGELEITET ABSCHALTUNG STÖRSENDER VOLLSTÄNDIG

»Was soll der Scheiß?«

Er schob die Seiten von Gunthers Roman zusammen und legte sie auf die große Tüte mit seinen Pornos. Dann stürzte er sich auf die Tastatur. Er rief das Hauptsicherungsmenü auf, klickte das Icon des Störsenders an und öffnete damit das Kontrollfenster. Natürlich teilte ihm der Zustandsbericht mit, dass der Störsender ausgeschaltet war. Er drückte auf die entsprechende Taste, um ihn wieder einzuschalten.

ZUGANG VERWEIGERT

Andy hatte plötzlich ein flaues Gefühl in der Brust.

Die automatische Aufzeichnung eingegebener Befehle zeigte ihm zwei neue Mitteilungen an:

TRANSMITTERAKTIVIERT TELEFONNETZWERK AKTIVIERT … EINWAHL …

Andy drehte sich zum Monitor um, der mit den Kameras verbunden war und zappte sich durch die Kanäle. C-5-Cockpit: leer. C-5-Labor: Rhumkorrf, der an einem Labortisch arbeitete, kein Computer in seiner Nähe. C-5-Veterinärbereich: Tim in Box vier, wo er sich um eine Kuh kümmerte, ebenfalls kein Computer in der Nähe. Magnus’ Zimmer: leer. Coldings Zimmer: Colding schlafend in seinem Bett. Jians Zimmer …

Was sollten all diese Möbel direkt hinter ihrer Tür? Und sie selbst? Sie saß an ihrem verrückten Computertisch.

»Verfluchte Scheiße.«

Eine weitere Mitteilung erschien auf dem Bildschirm.

SPRECHVERBINDUNG EINGERICHTET ANRUFER ID: USAMRIID

»Ach du Scheiße!« Andy packte das Telefon gab die Nummer von Magnus’ Zimmer ein. Während das Klingelzeichen erklang, drückte er auf einen Knopf der Computertastatur und aktivierte den Monitor, der die sichere Satellitenverbindung anzeigte.

VOICE OVER IP SIGNAL ENTDECKT. GESPRÄCH ÜBERWACHEN? JA/NEIN

Er klickte Ja an, um mitzuhören. Er rief das Kontrollfenster des Transmitters auf und gab unterbrechen ein, obwohl er wusste, was er zu sehen bekommen würde.

ZUGANG VERWEIGERT

Magnus antwortete immer noch nicht.

»Verfluchte Scheiße nochmal.« Andy drehte den Ton der Monitore hoch.

 

Beim siebten Klingeln meldete sich eine freundliche Stimme. »USAMRIID, wie kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme klang metallisch, als sie aus den kleinen Lautsprechern des Computers kam.

»Ich möchte Paul Fischer sprechen.«

»Pardon, Ma’am?«

»Ich muss Paul Fischer sprechen. Zhe shi hen jin ji.«

»Ma’am, ich – «

»Fischer. Ich muss mit Paul Fischer über Probleme sprechen, die bei unseren Experimenten mit transgenen Organismen aufgetreten sind. Wenn Sie sich die Zeit nehmen, um diesen Anruf zurückzuverfolgen, bin ich tot, bevor irgendjemand mir antworten kann.«

Es entstand eine kurze Pause. »Bleiben Sie einen Augenblick dran, Ma’am.«

Jian starrte auf den Computerbildschirm, doch sie sah kaum etwas. Immer wieder stand ihr die geisterhafte Vision des Fötus mit den nadelspitzen Zähnen vor Augen, der nach der faseroptischen Kamera geschnappt hatte.

 

Magnus schloss den Knopf an seiner Hose, zog den Reißverschluss zu und ging aus seinem Badezimmer zum Telefon auf dem Schreibtisch, das seit einer Minute ununterbrochen läutete.

»Hier Magnus.«

»Verdammt, wo hast du nur gesteckt?« Andy kreischte so laut, dass Magnus zusammenzuckte und den Hörer vom Ohr weghielt.

»Hör auf zu schreien«, sagte Magnus. »Ich habe geschissen.«

»Und unterdessen scheißt uns Jian auf den Kopf. Ich glaube, sie hat eine Verbindung nach Manitoba aufgebaut, und von dort aus ruft sie Fischer an!«

Magnus griff in die Schublade seines Schreibtischs und zog eine Beretta 96 heraus.

»Kannst du unseren Transmitter abschalten?«

»Nein! Sie hat meinen Zugang irgendwie gesperrt, und sie hat auch den Störsender ausgeschaltet. Ich kann ihn nicht wieder online bringen.«

Magnus klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und überprüfte das elf Patronen fassende Magazin. Voll. »Spricht sie gerade mit ihm?«

»Ich glaube, sie ist in der Warteschleife.«

»Wo sind die anderen? Wo ist Colding?«

Eine kurze Pause. »Er schläft. Rhumkorrf und Tim sind in der C-5. Sara und ihre Crew erledigen einige Wartungsarbeiten. Gunther dreht ein paar Runden mit dem Schneemobil, glaube ich. Ich weiß nicht, wo Clayton steckt, aber möglicherweise ist er bei Gunther.«

Magnus dachte einen Augenblick nach. Dann griff er noch einmal in die Schreibtischschublade und nahm eine zweite Beretta heraus. »Hör zu, Andy. Nimm eine Sechsundneunzig aus dem Regal im Überwachungsraum. Lass sie verschwinden und sorg dafür, dass sie nicht wieder auftaucht und im Regal eine deutliche Lücke zu sehen ist.«

»Kapiert.«

Magnus schob die zweite Beretta hinten in seinen Gürtel und ging hinaus in den Flur.

 

»Sind Sie noch dran, Ma’am?«

»Ja.«

»Ich werde Sie jetzt verbinden. Bitte bleiben Sie am Apparat.«

Die Verbindung klang plötzlich ein wenig anders. Zunächst war etwas mehr statisches Rauschen zu hören, dann erklang die Stimme eines Mannes.

»Hier Colonel Paul Fischer.«

»Hier ist Doktor Liu Jian Dan. Hören Sie genau zu.«

Sie nahm ein aufgeregtes Zischen wahr, unmittelbar bevor er antwortete. »Jian Dan, hören Sie, wir haben Sie überall gesucht und – «

»Klappe halten!« Ihre Geduld war erschöpft. Sie hatte fast keine Zeit mehr. Zu viel Stress. Schon bald würden sie kommen – die Ratten, die Spinnen und die Mischmasch-Kreatur mit Zähnen und Klauen. »Halten Sie die Klappe und hören Sie mir zu! Sie sind zu groß.«

»Was ist zu groß?«

»Sie. Der Code ist falsch. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, aber sie werden uns alle töten.«

»Doktor, bitte beruhigen Sie sich – «

Die Tür zu ihrem Zimmer wackelte im Türrahmen. Fünf heftige Schläge. So laut! Jian schrie auf und machte einen Schritt vom Computer weg. Ihre Hände packten dichte Büschel ihres zerzausten schwarzen Haares. Wieder wackelte die Tür, sie vibrierte unter jedem der rasch aufeinanderfolgenden, heftigen Schläge.

»Ma’am? Doktor?« Fischers Stimme erklang aus den Lautsprechern. Sie kam von weit her, war kaum zu hören und ging fast unter im Lärm, den das Hämmern und die Schreie Jians machten.

 

Magnus gab das energische Klopfen auf und schlug gegen die Tür, wobei er all seine Kraft in seine Rechte legte. Das Holz brach mit einem lauten Knall, der sich wie ein Schuss anhörte. Ein weißer, gezackter Riss erschien in der dicken braunen Tür. Magnus holte aus und schlug wieder zu – diesmal sogar mit noch mehr Kraft. Seine Faust drang durch das Holz, blutige Striemen beschmierten das unregelmäßig geformte Loch. Er warf einen raschen Blick auf seine Faust. Die Haut über seinen Knöcheln war gerissen. Ein fünf Zentimeter langer Holzsplitter steckte zwischen seinem Zeige-und seinem Mittelfinger. Blut rann seine Hand hinab.

Magnus zog den Splitter aus dem Fleisch und warf ihn beiseite. Dann griff er durch das Loch und riss ein dickes, menschenkopfgroßes Stück Holz aus der Tür heraus.

Er machte einen Schritt nach vorn und sah in Jians Zimmer.

 

Das alles war zu viel für ihren angespannten Zustand. Mit jedem Hämmern an der Tür verlor sie weiter die Fassung, bis sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war. Als Magnus ins Zimmer spähte, erkannte Jian kein menschliches Gesicht mehr – sie sah nur noch den breiten schwarzen Kopf mit bösartig grinsenden Augen und langen Zähnen, von denen der Speichel troff.

Das Mischmasch-Gesicht aus ihren Alpträumen.

Doktor Liu Jian Dan schrie zum letzten Mal in ihrem Leben.

Ruhig zielte Magnus mit seiner Beretta durch das Loch und feuerte. Die Kugel durchdrang Jians Schläfe oberhalb des linken Auges. Sie zerschmetterte den Knochen, wirbelte durch ihr Gehirn und trat an ihrem Hinterkopf in einer roten und rosafarbenen Wolke wieder aus. Gelatineartige Tropfen spritzten gegen die Wand.

Der Schuss riss sie einen Schritt nach hinten und erstickte den Schrei in ihrem Hals. Knochensplitter und Hirnmasse hingen aus ihrem zerfetzten Hinterkopf, doch es gelang Liu Jian Dan noch einmal, einen kleinen Schritt nach vorn zu machen und eine Sekunde lang ihr Gleichgewicht zu halten. Dann fiel sie mit dem Gesicht voran auf den Boden.

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