1. Dezember, 7:15 Uhr
Hatte sie auf einem Bett aus stumpfen Nägeln geschlafen? Jede Zelle ihres Körpers schmerzte, pulsierte, kreischte und jammerte. Sie roch nach Schweiß und schmutzigem Heu, und beides verband sich mit dem unverwechselbaren Geruch von Kühen und Kuhscheiße, so dass sogar ihre Nase etwas fand, über das sie sich beklagen konnte.
Sara drückte sich auf einen Ellbogen hoch. Sie wollte schlafen, tagelang, sogar wochenlang, aber sie musste etwas tun. Sie sah Tim Feely an – plötzlich lohnte sich der ganze Schmerz.
Er saß auf seinem Hintern, hatte die Knie gegen die Brust gedrückt, den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Er schwankte leicht hin und her.
»Tim?« Ihr Hals war so trocken, dass sie nur ein Krächzen zustande brachte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Er sah auf. Eine große rote und purpurfarbene Prellung zog sich vom Haaransatz bis zum Kinn über die rechte Seite seines Gesichts. Getrocknetes Blut bedeckte die schwarze Naht auf seiner Stirn. Beide Augen waren von dunklen Ringen umgeben.
»Verdammt weit davon entfernt, bei mir ist so gut wie nichts in Ordnung«, sagte Tim. »Wie lange war ich bewusstlos?«
Sara holte tief Luft. Dann erzählte sie Tim mit knappen Worten alles, was sie wusste – Jians Tod, Colding, der gewollt hatte, dass das Flugzeug trotz des Sturms startete, Magnus’ Bombe, die Notlandung und der mühsame Weg bis zu Svens Scheune.
Tim schwieg einen Augenblick, hörte sich alles an. Vorsichtig rieb er sich über das geschwollene Knie. »Dann sind also alle tot, außer dir und mir. Und auch ich wäre tot, hättest du meinen Arsch nicht meilenweit durch einen Blizzard geschleift?«
Sara nickte.
»Danke«, sagte Tim. Er hätte es nicht einfacher ausdrücken können, doch sein von Dankbarkeit und schierer Verwunderung erfüllter Blick sprach Bände. »Das hört sich so an, als hätte Rhumkorrf die Sache wirklich absolut vermasselt. Ich hoffe, er ist tot.«
Sara hoffte es auch. Rhumkorrfs Aktionen hatten zum Tod ihrer Freunde geführt. »Ich hab’s unmittelbar vor der Explosion nach draußen geschafft«, sagte sie. »Sonst habe ich niemanden gesehen.«
Sie sah sich zum ersten Mal genauer in der Scheune um. An sich nichts Ungewöhnliches: ein viereinhalb Meter breiter Mittelgang, der so groß war, dass man mit einem Farmtraktor hindurchfahren konnte. Jeweils fünfundzwanzig Boxen auf jeder Seite. Ein gut gefüllter Heuboden über jeder Boxenreihe, und über allem ein hohes, gewölbtes Dach, das von dicken Holzbalken getragen wurde. Ein paar kleine Vögel flatterten dort oben herum, ihr zartes Zwitschern verlieh ihrer düsteren Lage eine seltsam optimistische Note. Aus den meisten Boxen ragten große Kuhköpfe, die arglosen schwarzen Augen starrten neugierig zu den auf dem Boden liegenden Fremden hinüber. In der ersten Box auf der linken Seite des großen Schiebetors befand sich keine Kuh, sondern ein brandneues Arctic-Cat-Schneemobil. Auch kein richtiger Trost: Zwar konnten sie damit Svens Scheune verlassen – doch wo sollten sie hin?
»Wir können nicht hierbleiben, Tim. Was macht dein Knie?«
»Das ist völlig im Arsch. Gut möglich, dass die Kniescheibe gebrochen ist. Auf jeden Fall kann ich es nicht belasten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin fast draufgegangen, als ich deinen Arsch hierhergeschleppt habe. Du kommst mit mir, und du wirst laufen. Ich helfe dir, aber du kommst mit mir.«
»Und was ist mit dem Sturm? Hier drinnen ist es warm.«
»Viel Wind höre ich nicht mehr, also dürfte der Sturm vorbei sein. Das bedeutet, dass Sven schon bald hierherkommen wird, um nach den Kühen zu sehen.«
»Aber das wollen wir doch gerade, oder? Wir brauchen Hilfe. Ich bin verletzt. Ich brauche einen Arzt.«
Sara rieb sich die Augen. Nur ein Überlebender außer ihr. Warum konnte es nicht Alonzo oder einer der beiden Zwillinge sein, jemand, der Mumm hatte. Aber es war ausgerechnet dieser Waschlappen. »Tim, hör mir zu. Wenn Magnus herausfindet, dass wir noch am Leben sind, wird er nach uns suchen. Wir sind immer noch viel zu nahe beim Flugzeug. Wir müssen von hier verschwinden und versuchen, Colding zu finden. Vielleicht können wir das Schneemobil nehmen.«
Tim musterte das Arctic Cat, aber in Gedanken war er anscheinend schon weiter. »Aber es war doch Colding, der uns befohlen hat, zu fliegen. Wie kannst du ihm noch vertrauen?«
Sara holte tief Luft. Sie konnte Colding nicht vertrauen. Aber die Nächte, die sie zusammen verbracht hatten, die Dinge, die er ihr gesagt hatte … zumindest war das Risiko bei ihm nicht so groß wie bei Gunther oder Andy oder gar Clayton. »Ich weiß nicht, ob wir ihm trauen können.«
Das von draußen kommende Bellen eines Hundes ließ sie erstarren.
Das Scheunentor glitt einen Spalt weit auf. Sara packte Tim bei der Hand und zog ihn in eine Box, als das Tor noch ein wenig weiter geöffnet wurde und die morgendliche Wintersonne ein strahlendes goldenes Rechteck auf den Boden der Scheune warf.
Sven Ballantine lehnte sich zum dritten Mal gegen das Tor. Der aufgetürmte Schnee blockierte den Eingang und hatte es fast zufrieren lassen. Es ließ sich nur so weit bewegen, dass Sven sich durch die Öffnung schieben konnte. Mookie flitzte zwischen seinen Beinen hindurch und stürmte in die Scheune, wobei sie heftig mit dem Schwanz wedelte. Sie sprang von einer Kuh zur anderen, als wolle sie ihre Freunde begrüßen, die sie während des Sturms vermisst hatte. Sie musterte jedes Tier einen kurzen Augenblick, um es wissen zu lassen, dass sie wieder da war und wieder das Sagen hatte.
»Immer mit der Ruhe, Mädchen«, sagte Sven. »Ich bin sicher, sie vermissen dich auch, eh?«
Und dann hörte Sven Ballantine ein Muhen.
Wenigstens dachte er, das er eines gehört hätte, denn es kam nicht aus der Scheune.
Er blickte zurück durch das offene Tor über sein weites, von blendend hellem Schnee bedecktes Feld. Die leicht gewellte Oberfläche reflektierte das Sonnenlicht, ein Feld aus gefrorenen weißen Wogen, das sich bis zu den mächtigen Bäumen am Waldrand zog.
Muuuuh.
Da war es wieder. Er hatte es sich nicht eingebildet.
Mookie fing an zu bellen, ihr langgezogenes ro-ro-ro-ro, das üblicherweise für vorwitzige Eichhörnchen und aufmüpfige Kaninchen reserviert war. Doch Sven drehte sich nicht um, und so sah er auch nicht, dass Mookie mit gesträubtem Fell vor zwei erschöpften Menschen stand, die sich in einer Box versteckten, indem sie sich neben den schwarz-weißen Beinen der Bewohnerin zusammenkauerten.
Ro-ro-ro rororo.
»Still, Mädchen«, sagte Sven.
Muuuuh.
Diesmal war es unverkennbar. Und es handelte sich nicht nur um eine Kuh, sondern um mehrere.
Roro-ro roro-ro.
»Verdammt nochmal, Mookie, halt die Klappe!«
Dass sie so heftig angeschrien wurde, schien Mookie so schmerzlich zu treffen wie der Schlag mit einer zusammengerollten Zeitung. Ihr Kopf sank zu Boden, ihr Schwanz verschwand zwischen den Hinterbeinen.
Sven trat aus der Scheune. Suchte das gleißende Feld ab, ob sich dort etwas bewegte. Er musste die Augen zusammenkneifen, um wenigstens einen Teil des reflektierten Lichts abzuschirmen. Da … Kühe. Am Rand seines Felds.
Sven schob das Scheunentor noch ein wenig weiter auf, ging dann nach innen und setzte sich auf das Arctic Cat. Es sprang beim ersten Versuch an. Das Geräusch des Motors lockte Mookie weg von den beiden Menschen, die ihr Herrchen nicht zu bemerken schien. Die Hündin bellte das Schneemobil an und zog drei rasche Kreise.
Sven steuerte die Maschine langsam aus der Scheune und gab dann Vollgas. Mookie rannte ihm nach. Sie bellte die ganze Zeit über.