In jungen Jahren war ich mehrmals in Indien. Das Land zog mich an und erschreckte mich. Am beeindruckendsten fand ich den religiös motivierten Gleichmut der Inder. Viele Männer saßen reglos im Staub der Straßen, kauten Bethel, spuckten ihn wieder aus und redeten nicht. Wie war es ihnen möglich, die Nichtigkeit der Welt und ihre eigene nichtige Rolle darin dermaßen gelassen hinzunehmen? Ich gebe zu, dass ich die indischen Verhältnisse nicht ohne Herablassung und innere Besserwisserei ertragen konnte. Natürlich glaubte ich zu wissen, was die indischen Politiker anders und besser machen mussten, um ihr Land von der Lethargie zu befreien, ich war ein normal hochmütiger europäischer Schlauberger. Und natürlich war ich sicher, dass die indischen Zustände eine rein subkontinentale Angelegenheit seien und sonst nirgendwo anzutreffen waren. Wenn ich heute durch Frankfurts Straßen gehe, fühle ich mich zuweilen an Indien erinnert. Was ich nie für möglich gehalten habe, ist eingetreten: Auf manchen Straßen herrschen fast indische Zustände. In gewisser Weise sind die hiesigen Entwicklungen sogar dramatischer als die indischen. Ein gewöhnlicher indischer Bettler ist ein armer Brahmane, still, mager, reglos und sauber. Er sitzt aufrecht auf dem Boden und schaut voller Gottgefälligkeit in die Welt, von der er sich Hilfe erhofft. Dagegen sind die meisten Frankfurter Bettler nicht nur verkommen, sondern auch körperlich zerrüttet. Sie sind unfreiwillig zu Boden gesunken, ihre Körper sind zur Seite eingeknickt, sie leben zwar noch, haben aber kein Fünkchen Lebenswille mehr in sich. Die Erklärung ist einfach: Sie sind nicht nur arm, brotlos und ausgezehrt, sondern durch jahrelangen Konsum von Drogen und Alkohol so entkräftet, dass sie nicht einmal mehr sitzen können. Ich halte es für wahrscheinlich, dass es diese »unreine« Vergangenheit ist, die unseren sonst so spendierfreudigen Zeitgenossen den Griff in ihren Geldbeutel verleidet. Wir wollen, wie die Inder, dass der Bettler eine reine Figur sei, die ihrer Entsagung wegen nicht nur unterstützt, sondern sogar verehrt wird. Wir wollen, wie die Inder, einen ebenso edlen Bettler, wenn möglich sogar mit geistigem Hintergrund, wir wollen nicht wissen, dass der Drang nach Reinheit und Unberührtheit ein Hauptanliegen des Hinduismus ist. Wir wollen nicht wissen, dass dieser tief religiöse Hintergrund mit unseren kapitalistischen Verhältnissen nicht kompatibel ist, und deswegen können wir auch nicht wissen wollen, dass unser Glück nicht Sache einer Religion, sondern Teil eines immer unbekannten Schicksals ist, über das uns kein Hohepriester ein Sterbenswörtchen verrät.