Obwohl er keine Ahnung hat, ist der frisch angekommene Provinzler oft der heftigste Propagandist der Großstadt, in der er künftig leben wird. Er schämt sich ein bisschen seiner bedeutungslosen Heimat und ist froh, dass er ihr entkommen ist. Jedenfalls sagt er das. Er wird Jahre brauchen, bis er seine Überschätzungen der Stadt als solche durchschaut. Aber dann erinnert er sich in liebevollem Ton an seine anfänglichen Erwartungen. Der Provinzler ist bereit, sich in der Fremde über seine alte Heimat lustig zu machen, was er sich zu Hause nicht getraut hat. Jetzt sitzt er in der U-Bahn und lernt die Namen der Haltestellen. Ich erinnere mich oft an meine ersten Jahre in Frankfurt und wie heftig ich anfangs glaubte, niemals in dieser Stadt »anzukommen«. Ich ließ mir, wie so oft, von der Literatur helfen, zum Beispiel von den Romanen von Thomas Wolfe, F. Scott Fitzgerald oder Sherwood Anderson. Die Ankunft eines schüchternen Fremden in einer neuen Stadt ist ein uramerikanisches Thema. Die Wahrheit ist: Die Lektüre dieser Romane half mir nicht. Was sich stattdessen ereignete, war eine Erfahrungsspaltung. Ich fand die Romane gut, aber sie hatten eben nichts mit mir und Frankfurt zu tun. Ich war nicht einmal in der Lage, über mein Problem mit Kollegen zu reden. Auch sie waren neu hier, auch sie waren fremd, auch sie waren Provinzler, aber auch sie waren überwiegend stumm. Mir war erst geholfen, als ich eines Tages bemerkte, dass auch die neue große Stadt eine Provinzstadt ist. Dabei macht es Frankfurt seinen Bewohnern leicht, die Atmosphären von Weltstadt und Provinznest miteinander zu vermischen – und die Vermischung nicht anstößig zu finden. Als Kind öffnete ich frühmorgens alle Schubladen, weil mir auch unsere Wohnung fremd war. Der Anblick der frischen Wäsche, der Blusen und Hemden in den Schubladen beruhigte mich. Meine Mutter fragte mich, warum ich die Schubladen herauszog. Natürlich konnte ich nicht antworten. Ich wusste noch nicht, was Fremdheit war, obgleich ich schon in ihr lebte. Heute bin ich froh, dass ich als Kind nicht reden konnte. Meine Mutter wäre fassungslos gewesen, wenn ihr kleiner Sohn über Fremdheit gesprochen hätte. Leider hat Frankfurt auch keine Schubladen, dafür aber ein paar sehr lange Straßen, die großen Schubladen ähneln. Zum Beispiel die Berger Straße und die Leipziger Straße, die langsam aus der Stadt hinausführen bis in die immer noch bäuerlichen Randgebiete hinein, wo die Stadt buchstäblich auf dem Acker endet. Die Transformation der Stadt in ein paar Spargelfelder ist ein bedeutsames Erlebnis, das ich von Zeit zu Zeit wiederhole. Irgendwann hatte ich dabei den Einfall, dass die Provinzfrage eine Scheindebatte ist, bei der es nicht um die Klärung von äußerer Realität geht. Die Empfindung, ein Provinzler zu sein, ist nichts weiter als eine Metapher für einen namenlosen inneren Mangel, für den es keinen äußerlichen Ort gibt. Es ist deswegen sinnlos und töricht, nach einem Repräsentanten zu suchen, den es »wirklich« gibt. Es ist ebenso sinnlos, immerzu nach innen zu schauen, um den Ort eines privaten, persönlichen Mangels doch noch zu entdecken. Er ist zwar da, aber er lässt sich nicht blicken.