Frankfurts vielleicht heikelstes Kapitel ist die Zeil. Die Straße wird allgemein für das Zentrum der Stadt gehalten, weil hier tagtäglich abertausende von Menschen unterwegs sind und immer nur eines wollen: kaufen, kaufen, kaufen. Angeblich wird allein in dieser Straße ein Prozent des Bruttosozialprodukts der Bundesrepublik erwirtschaftet. Wenn nicht alles täuscht, geniert sich die Stadt dieser Straße inzwischen ein wenig. Die Schlichtheit des Anschaffens macht sie auch ein bisschen ordinär. Man gibt sich Mühe, das Fließband-Image der Straße zu mildern beziehungsweise aufzulockern. Noch vor wenigen Jahren war die Zeil eine Art Abstellplatz für ältere Kaufhäuser; ihre verregneten Fassaden sahen aus, als seien sie erst kürzlich von durchziehenden Hunden angepinkelt worden. So schlimm ist es heute nicht mehr. Im Gegenteil, auch billige Warenhäuser wollen heute schick aussehen. Eine Doppelreihe schattenspendender Bäume zieht sich die ganze Fußgängerzone entlang, ein großer Brunnen und eine Steinplastik mildern das architektonische Einerlei. Aber behoben ist das Problem Zeil damit nicht. Vermutlich ist die Strasse nicht zu retten; die baulichen Glanzlichter, die die Uniformität der Fassaden inzwischen auflockern, verschlimmern das Problem sogar, weil sie das Moment des baulichen Durcheinanders für das Auge verstärken. Ein Bau kann noch so aufregend / erstaunlich / interessant gemeint sein, aber wenn immerzu Menschen mit großen Plastiktüten aus diesem hervorkommen oder in diesem verschwinden, ist das nicht aufregend / erstaunlich / interessant, sondern lähmend / eintönig / ermüdend.
Geschäfte für den sogenannten Normalbedarf des bürgerlichen Lebens – also Schuhmachereien, Eier-Butter-Milch-Läden, Wollgeschäfte, Schreibwarenläden, Zeitungskioske – haben sich aus dem inneren Kern der Stadt weitgehend zurückgezogen oder (wie soll man sagen?) sind dem Druck und der finanziellen Übermacht der Großanbieter gewichen. Stattdessen hat sich, wie in anderen Städten auch, eine Art Monokultur des schönen Scheins etabliert. Enorm zugenommen hat die Zahl der Modegeschäfte, Frisiersalons und Parfümerien. In allen Läden sieht man das gleiche Publikum: Viele Frauen, die mit ihrer Normalnatur nicht mehr zufrieden und um eine Nachbesserung besorgt sind. Sowohl die Frisiersalons als auch die Parfümerien erkennt man schon von weitem an ihren überhellen Interieurs. Sie sind bis in die letzte Ecke ausgefüllt von gleißendem, fast weißem Licht. Merkwürdig ist, dass das Personal in den Frisiersalons und in den Parfümerien dem Stilideal der Frauenpropaganda oft nicht entspricht. Die dort arbeitenden Frauen sind oft blasse, ungeschminkte, zurückgenommene weibliche Wesen. Sie tragen unauffällige schwarze Kostümchen, sind unaufdringlich, scheu und warten, bis sie angesprochen werden. Die Frauen, die in ihre Läden kommen, sind das genaue Gegenteil: Stark geschminkt, auffällige Frisur, werthaltige Kleidung, auf dem Arm häufig ein Hündchen oder eine Riesendogge im Schlepptau. Die Tiere sind harmlos, flößen aber Furcht ein, weil sie sich in der Überhelligkeit selbst fürchten. Auch die allerzahmsten haben gewisse Nachteile. Selbst gepflegte Hunde riechen. Ihre Besitzerinnen geben sich Mühe, die Tiere von der Harmlosigkeit des Raums zu überzeugen, aber es klappt nicht immer. In ihrer Nervosität fangen manche an zu bellen – und verschrecken die andere, die hundelose Kundschaft. Auch dann, wenn sie von ihren Frauchen extra mit Parfüm behandelt worden sind, haben sie oft starken Mundgeruch. Schweren Herzens hat sich eine große Parfümerie entschlossen, ein Schild in das Schaufenster zu stellen: Hunde bitte draußen bleiben. Manche Tierfreundin hat darauf mit Verstimmung reagiert – und den Laden gewechselt.