Frühmorgens, zwischen sechs und sieben, lege ich ein verzittertes, ausdrucksstarkes Stück auf, sagen wir: die »Lyrische Suite« von Alban Berg, und warte, was passiert. Ich sitze am Schreibtisch und suche nach Wörtern. Nein, ich suche eigentlich nicht, ich warte und lausche. Diese Bedürftigkeit löst jeden Übermut auf. Ich schaue umher und erwarte Anstöße. Deswegen sehe ich auch auf die Straße hinunter, die um diese Zeit noch unbelebt ist. Das heißt, ganz unbelebt ist sie nicht. Zum Beispiel ist die Zeitungsausträgerin unterwegs. Sie zieht einen immer noch stabilen Kinderwagen aus den siebziger oder achtziger Jahren hinter sich her. Er ist bis zum Rand mit frischen Zeitungen gefüllt. Die Räder des Kinderwagens bringen ein wimmerndes Quietschen hervor, das auf wunderliche Weise in die Suite von Berg eindringt. Zuweilen fällt der Schlüsselbund der Zeitungsausträgerin zu Boden. Obwohl die Frau dick ist, bückt sie sich leicht. Dann öffnet sie eine Flasche Bier. Sie trinkt gern frühmorgens im Halbdunkel und schaut dabei schweifend die Hauswände entlang. Die Vermischung der Details ist anregend. Ich merke, die Bilder sprechen in mich hinein und bereiten den Beginn der Arbeit vor. In der Frühe habe ich eine mehr sozial, am Abend eine eher poetisch gestimmte Aufmerksamkeit. Das Spiel der Eindrücke entscheidet oft über den ersten Satz. Plötzlich ist es passiert. Die Musik von Berg und das Quietschen auf der Straße schlagen ein Thema an. Der Augenblick der Arbeit ist der Augenblick des Glücks. Und der Augenblick des Glücks ist der Augenblick der Verwandlung: Ich werde derjenige, der in Kürze schreiben wird. Entscheidend ist oft die Gleichzeitigkeit von anregenden und lächerlichen Einzelheiten. Nur in der Literatur fällt Wissen von größter Bedeutsamkeit mit Wissen von größter Nichtigkeit in eins zusammen. Der künstlerische Akt folgt der Ästhetik eines Tricktheaters, das seinen Spielplan nicht veröffentlicht. Obgleich immer wieder das gleiche Stück gespielt wird: Wie ein Text seiner Verlockbarkeit in den Ausdruck folgt.
Vermutlich ist der Schreibende das Gefäß einer Reizung, für die er sich immer besser präparieren lernt. Aus diesem Grund ist es irreführend, sich Literatur nur aus Sprache bestehend vorzustellen. Ohne die dauernde Wechselbelebung zwischen äußeren Bildern, ihrem verzögerten inneren Echo und deren Drang nach Gestaltung würde niemand schreiben wollen. Deshalb gehört die biertrinkende Zeitungsausträgerin in meinen Text, obwohl sie in diesem nicht erscheinen wird. Aber auch das ist noch nicht sicher. Die Frau ist für etwa eine halbe Stunde hinter einer Mauer verschwunden. In dieser Zeit wird es taghell. Die Suite von Berg ist zu Ende. Es wird nicht lange dauern, dann werden Schwalben durch die Straßen flirren. Ihr Sirr-sirr-sirr klingt begütigend, wie nur ein Klang begütigend klingen kann. Auf der Straße hält ein Auto, ein junger Mann steigt aus. Es ist vermutlich der Sohn der Zeitungsausträgerin, der hier auf seine Mutter wartet. Ich habe noch nicht angefangen zu arbeiten. Die Zeitungsausträgerin kommt rechts hinter einem Mietshaus hervor. Der Kinderwagen ist jetzt fast leer. Der junge Mann hebt den Kinderwagen in das Auto. Die Frau leert die Bierflasche und schaut auf den Boden. Zurück bleibt das Zittern der Suite und das Quietschen des Kinderwagens, mit dem ich anfangen werde, wenn ich anfangen kann. Allerdings ist der Lärm auf der Straße schon fast zu stark. Diese Betriebsamkeit passt nicht zu meiner tastenden Stimmung. Der junge Mann fährt mit der Zeitungsausträgerin davon. Frau Riedinger zieht die Rolläden ihres Gemüseladens hoch. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise öffnet sie ihren Laden erst gegen neun. Aber es scheint nichts Ungewöhnliches passiert zu sein. Kaum ist der Rolladen oben, springt Frau Riedingers Hund hinaus auf die Straße. Er läuft fast den ganzen Tag entweder aus dem Geschäft hinaus oder in das Geschäft hinein. Draußen oder drinnen legt er sich eine Weile hin, dann steht er wieder auf und geht raus oder rein. Gibt es nervöse Hunde? Der Auftritt des Hundes verändert meine Stimmung, obwohl mich der Hund auch unterhält. Nervosität bei Hunden wirkt komisch und beruhigt die Nervosität der Menschen. Ich merke, dass meine Zitterlaune eine Spur komödiantisch wird. Die Mischung Zittern / Quietschen / Komik bringt eine gewisse Verzagtheit hervor, mit der ich nicht gerechnet habe. Früher, wenn ich mich als Kind langweilte, ging ich durch die Wohnung und öffnete die Schubladen. Ich fuhr mit der Hand in die Schubladen hinein und griff nach den Dingen. Und schon bald endete die Langeweile, und es begann die Unterhaltung mit einem Wäschestück meiner Mutter, meistens mit einem Büstenhalter. Heute genügt es, dass ich die Schublade meines Arbeitstischs ein wenig aufziehe und den Einfall des Lichts in die Schublade beobachte. Im Augenblick hellt das Licht nur die Borsten eines älteren Rasierpinsels auf, von dem ich nicht mehr weiß, warum ich ihn nicht wegwerfe. Die leichte Verzagtheit hält an. Aber das macht nichts, im Gegenteil. Ich habe es gern, wenn die Arbeit mit ihrer eigenen Schüchternheit beginnt.