Ich war zehn Jahre alt, als ich zu glauben begann, dass in Kürze ein Krieg ausbrechen würde. Deswegen wollte ich, dass meine Eltern mir von den Kriegen erzählten, die sie selbst erlebt hatten. Von einem kommenden neuen Krieg wussten sie nichts. Kind, was dir alles im Kopf herumgeht, sagte meine Mutter. Vater schüttelte den Kopf und winkte ab. Dann, plötzlich, gab es in der DDR einen Volksaufstand. Wir lebten im Westen und schauten uns die Bilder im Fernsehen an. Zum ersten Mal sah ich fahrende Panzer in einer Stadt und Männer, die Steine von der Straße aufhoben und gegen die Panzer warfen. Hier! rief ich meinen Eltern entgegen, der Krieg ist nah! Erzählt mir alles, was ihr von dem Krieg wisst! Jetzt lachten meine Eltern gemeinsam und schickten mich ins Bett.

Ich schnitzte mir einen Stock und nahm ihn mit in die Schule. Der Lehrer war vernünftig und sah ein, dass ich mich für den kommenden Krieg mit einer Waffe ausrüsten musste. Er verlangte nur, dass ich mich während des Unterrichts von meinem Stock trennte. Ich stellte ihn in einer Ecke ab, so dass ich ihn bei einem Angriff sofort zur Hand haben würde. Ich war mit mir übereingekommen, dass ich den kommenden Krieg nicht mitmachen wollte. Ich war zur Flucht entschlossen. Ich wollte Deutschland über Frankreich verlassen und von Marseille auf einem Frachter nach Südamerika fliehen. Neuerdings musste ich in der Schule Englisch und Französisch lernen. Ich saß ruhig in meiner Bank und weigerte mich, mich für Fremdsprachen zu interessieren, die ich im Dschungel nicht brauchen konnte. Der Religionslehrer wollte, dass wir Kinder schöne Lieder sangen. Ich verstand die Lieder nicht, aber ich sang mit. Ein Lied hieß »Wem Gott will rechte Gunst erweisen …« Warum sollten wir Gott eine Gunst erweisen, was war überhaupt eine Gunst, und wie erwies man sie einem Gott? Ich fragte auch den Religionslehrer nach dem kommenden Krieg, er schüttelte den Kopf wie Vater und hob den Taktstock zum Weitersingen.

Fast täglich las ich Tarzanhefte, die mir mein Freund Günter auslieh. Günter war bereit, mit mir zu fliehen. Das Beste an Tarzan war, dass er sich an langen Lianen von Baum zu Baum schwang. Das wollte ich im Dschungel genauso machen. Wir würden uns eine Baumhütte bauen, dort würden wir den Krieg überleben. Am Ende des Unterrichts nahm ich meinen Schulranzen und meinen Stock und ging nach Hause zu meinen ahnungslosen Eltern. Das heißt, ich machte ein paar Umwege, um mir zerstörte Häuser anzuschauen, die vom vorigen Krieg übriggeblieben waren. Diese fast ganz kaputten Häuser gefielen mir. Von einem war nur die vordere Mauer übriggeblieben. Durch die leeren Fenster sah man den Himmel, auf den Fenstersimsen wuchs Gras, der Eingang war zugemauert. Zusammen mit Günter würde ich demnächst auf das Trümmergelände hinter dem Haus vordringen.

Unterwegs sah ich zwei Jungen in meinem Alter, die neben einer Regenpfütze knieten. Als ich näher kam, sah ich, dass sie Ameisen fingen und sie dann in die Pfütze warfen. Sie hatten Vergnügen daran, die Ameisen gegen ihren Tod kämpfen zu sehen. Die kleinen Tiere waren kraftvoll und zäh. Keine einzige Ameise schien den Kampf gegen den Tod zu verlieren. Sie rackerten sich nah an den Rand der Pfütze heran und wurden sogar noch kräftiger, als sie Boden unter ihren Beinen spürten. Da griff einer der Jungen mit der Hand in die Pfütze, erfasste eine der nassen Ameisen und warf sie auf mich. Ich erschrak, obwohl die Ameise mich verfehlte. Schon griff der Junge nach der nächsten Ameise. Da erhob ich meinen Stock und hielt ihn drohend gegen ihn. Tatsächlich ließ er daraufhin das Tier in die Pfütze zurückfallen und sah mich erstaunt an.

Ich ging wortlos weiter, wie Tarzan. Ich kam nach Hause wie ein Krieger. Der schlägt sich durch, sagte Vater und lachte anerkennend. Seine Bemerkung gefiel mir. Endlich fängt er an, vom zukünftigen Krieg zu erzählen, dachte ich. Aber ich hatte mich geirrt, er fing wieder nicht an. Es war schön, ein Kinderkrieger zu sein. Ich hatte keine Feinde und konnte mich in aller Ruhe auf den Krieg vorbereiten.

Meine Mutter erzählte immer wieder die Geschichte von dem ersten Wort, das ich als Kind aussprach. Als ich noch sehr klein war, saß ich mit meinen Eltern immer wieder in unserem verdunkelten Wohnzimmer. Mutter hatte mich auf dem Schoß und hielt sich den rechten Zeigefinger auf den geschlossenen Mund. Der Finger auf den Lippen war das Zeichen, dass ich ebenfalls den Mund halten sollte. Vater saß mit uns im dunklen Wohnzimmer und sah auf den Boden, dann zu seiner Frau und mir und dann wieder auf den Boden. Von fern hörten wir das Näherkommen der Bomber. Sie warfen ihre Bomben auf unsere Stadt und flogen dann weiter. Bisher hatten wir Glück gehabt. Mutter sah mich an und lächelte im Halbdunkel und inmitten des näherkommenden Gedröhns. Es war wieder ein Kampfverband, das heißt mehrere Flugzeuge, vielleicht zehn oder zwanzig, die in einer geschlossenen Formation nebeneinander herflogen und auf ein Signal hin ihre Klappen öffneten. Da sagte ich zum ersten Mal das Wort Fanderband. Als die Flugzeuge weg waren und wir wieder einmal Glück gehabt hatten, knipste Vater das Licht an, Mutter hob mich in die Höhe und küsste mich mehrmals quer über das Gesicht. Aus Begeisterung benutzte sie selbst anstatt des Worts Kampfverband mein eigenes erstes Wort Fanderband. Sie war glücklich, dass ich ein so kompliziertes Wort aussprach, auch noch auf so originelle Weise falsch.

Später, nach den Schulaufgaben, ging ich auf die Straße und suchte nach Ingeborg. Sie war so alt wie ich und interessierte sich für meine Fluchtpläne. Außer Marseille gab es noch eine andere Fluchtmöglichkeit. Man musste früh aufstehen und nach Hamburg kommen und von dort mit einem Schiff nach Australien. Ingeborg wusste nicht, wo Australien liegt, ich erklärte es ihr. Sie erzählte ihren Eltern kein Wort von unseren Absichten, was ich gut fand. Ingeborg war mir zugetan und wollte immerzu neue Einzelheiten über den Krieg und unsere Flucht hören. Ich wollte Ingeborg soweit bringen, dass sie bereit war, mit mir zu verschwinden. Bald fing sie ebenfalls an, vom Krieg zu sprechen. Vermutlich erzählte sie nur weiter, was sie zu Hause von ihren Eltern gehört hatte. Auch sie hatte, genau wie ich, ein Lieblingskriegswort: das Wort Haubitze. Ingeborg lachte jedesmal, wenn sie es aussprach. Erst viel später ging mir auf, dass sie einen Großvater gehabt haben musste, der ihr vom Ersten Weltkrieg erzählt hatte; denn im Zweiten wurde meines Wissens nicht mehr mit Haubitzen Krieg geführt.

Zum Dank für ihre Erzählungen machte ich Ingeborg mit ein paar Überlebenstricks vertraut. Ich sagte ihr, dass sich den Tag über eine Menge Staub auf unseren nackten Unterarmen ansammelte. Wenn man starken Hunger empfindet und nichts zu essen hat, kurz: wenn man sich im Krieg befindet, kann man sich zur Not den Staub von den Unterarmen lecken. Man streckt die Zunge heraus, soweit es geht, und zieht mit der Zunge eine schmale Spur den Arm hinauf. Der Staub schmeckt silbrig und fremd, aber der Geschmack stillt den Hunger, jedenfalls für eine Weile. Am späteren Nachmittag lud ich Ingeborg zu einem Ausflug in die Innenstadt ein. Ich will dir etwas zeigen, sagte ich. Ingeborg wollte wissen was, ich sagte es ihr nicht.

Ich führte sie in die Kaufhäuser beziehungsweise zu den Fahrstühlen, die es dort gab. In fast allen Fahrstühlen arbeiteten damals bein- oder armamputierte Männer als Fahrstuhlführer. Wenn ihnen ein Bein fehlte, lehnten sie in einer Ecke der Fahrstuhlkabine und bedienten die Knöpfe. Männer, denen nur ein Arm oder eine Hand fehlte, hatten es leichter. Wenn wir die Fahrstühle wechselten, erklärte ich Ingeborg, dass die Männer ihre Körperteile im Krieg verloren hatten. Wir wollten einen Fahrstuhlführer fragen, aber dann trauten wir uns nicht. Während des Heimwegs erzählten wir uns, was wir machen würden, wenn uns im kommenden Krieg etwas abgeschossen würde. Ingeborg versprach, dass sie mich sofort mit ihrem Taschentuch verbinden würde. Ich versprach, dass ich sie auf die Arme nehmen und ins nächste Krankenhaus tragen würde. Wir waren der Meinung, dass man trotz eines fehlenden Beins oder Arms sehr gut weiterleben konnte. Kurz vor der Heimkehr hatten wir Hunger. Wir setzten uns auf ein Gartenmäuerchen und leckten unsere Arme. Wieder hatte uns niemand vom Krieg erzählt, aber wir hatten seinen Geschmack im Mund.