Vermutlich kennt jeder das Moment der plötzlichen inneren Überforderung durch die Stadt, die gleichzeitig Lust macht. Wir befinden uns in einer Art Straßenrausch, das heißt, wir wissen nicht genau, was mit uns los ist. Das Wort Straßenrausch stammt von Siegfried Kracauer. Auch er hat offengelassen, was genau er mit dem Wort meinte. Es steckt darin (wie in jedem Rausch) der Augenblick der Abstoßung und der Augenblick der Anziehung. Eine Weile ist es unterhaltsam, sich in den überfüllten Straßen zu bewegen. Es macht Vergnügen, den entsetzlichen Straßenmusikern zuzuhören. Zum Beispiel einem älteren Mann mit einer riesigen Trommel vor dem Bauch, einer Klarinette in den Händen und einem Blechring an den Füßen. Wie soll man nur das Geräusch nennen, das der Mann hervorbringt? Es ist eine Kakophonie, ein schwer zu fassendes Scheppern, an dem allenfalls Kinder Spaß haben. Ich empfand den Mann aus einem anderen Grund als interessant. Er erinnerte mich an ähnliche Männer in der Nachkriegszeit, die mit Drehorgeln in den Hinterhöfen unterwegs waren. Ihre Musik war bedrückend und jammervoll. Die Drehorgeln waren eigentlich kaputt und hätten nicht mehr verwendet werden dürfen. Aber es gab außer der Kriegsnot auch noch die Nachkriegsnot. Oft fehlte den Drehorgelmännern ein Arm oder ein Bein. Oder es war ein Teil ihres Kiefers weggerissen oder ein Ohr. Dafür hatten sie ein Äffchen auf ihrer Drehorgel sitzen, das sich permanent selbst lauste. Es war an einer sehr kurzen Leine angebunden. Das Tier konnte die Drehorgel nicht verlassen. Nach einiger Zeit öffneten sich die Fenster und die Balkontüren, und es zeigten sich Ehefrauen und Mütter. Die Kinder konnten vom Hof aus dabei zusehen, wie die Mütter zwei Groschen in Zeitungspapier wickelten und das kleine Päckchen in den Hof hinunterwarfen. Mehr als einmal sah ich dabei meine eigene, nicht spendable Mutter. Wir hatten selbst viel zu wenig Geld, aber meine Mutter wollte einmal in der Woche als huldreicher Engel erscheinen. Den grössten Eindruck machte sie auf mich. Selbst am Abend, wenn sie wieder die graue Nachkriegsfrau war, konnte ich noch die Engelsaugenblicke imaginieren. Die Leute hier sind nicht im Straßenrausch, allenfalls im Kaufrausch. Die meisten haben strenge, ein wenig angestrengte Gesichter, der Tumult des Konsums peinigt die Züge. Nicht weit von hier, hinter der Peterskirche, gibt es einen kleinen Friedhof. Es dauert nicht einmal zehn Minuten, dann sitze ich zwischen vielen Gräbern auf einer verkommenen Holzbank. Außer mir sind nur zwei Frauen unterwegs. Der Vorteil eines Friedhofs ist: Es gibt hier keinen Würstchenstand, keinen Ballonverkäufer, keinen Marktschreier, keinen Mann mit Trommel und Klarinette. Nur die beiden ältlichen Engel mit Gieskannen und kleinen Rechen.