Wiedererkannt habe ich sie an einer Angewohnheit, die sie schon mit neunzehn hatte: Sie zupfte sich leidenschaftlich mit Daumen und Zeigefinger an ihren Ohrläppchen. Sogar im Konzertsaal oder im Theater, fein zurechtgemacht, konnte sie von ihrer Unart nicht lassen. Sie saß ruhig auf ihrem Stuhl, lauschte konzentriert, und zupfte sich. Die Leute ringsum schauten ihr schon zu, es machte ihr nichts aus. Ich liebte sie mit der ausweglosen Unwissenheit eines Zwanzigjährigen. Mehrmals hatte ich ihr schon gesagt, dass sie bald die langgezogenen Ohren einer Oma haben werde. Es nützte nichts. Jetzt ist sie tatsächlich Oma geworden. Ihr Haar, das einmal blond und geschmeidig war, ist jetzt weiß und strohig. Sie bindet es immer noch, wie damals, zu einem Pferdeschwanz. Sie trägt einen prall gefüllten Rucksack und schiebt ein Fahrrad über den Markt. Ihre Ohrläppchen sind ungewöhnlich lang. Ich habe mich insofern geirrt, als dass niemand Anstoß nimmt an ihren langen Ohrläppchen, nicht einmal ich. Weil sie durch das Zupfen länger als gewöhnlich sind, haben sie auch Falten geworfen. Das ist die einzige Überraschung: dass auch Ohrläppchen Falten werfen. Einerseits will ich mit ihr sprechen, andererseits weiß ich, dass es vielen Menschen peinlich ist, von Mitwissern ihrer Jugend angesprochen zu werden. Es ist nicht so, dass nicht auch ich mich erheblich verändert hätte, vermutlich noch stärker als sie. Ich bin nicht mehr schlank (auch sie ist füllig), ich bin von starkem Haarausfall gezeichnet (sie nicht), ich gehe vornübergebeugt (sie nicht), ich trage eine Brille (sie nicht). Nein, mit dem Jüngling von damals habe ich nichts mehr zu tun. Ich komme meiner Liebesoma ziemlich nahe. Sie hat nicht die geringste Ahnung, dass sie von einem Schwärmer ihrer Jugend betrachtet wird. Mit einiger Mühe nehme ich es hin, dass sie mich nicht erkennt, obwohl ich darüber gleichzeitig froh bin. Nein, es überwiegt das Bedürfnis, wiedererkannt zu werden. Aber sie interessiert sich nur für Radieschen, Orangen, Kohlrabi und Mohrrüben. Wahrscheinlich versorgt sie den Haushalt eines Sohnes oder einer Schwiegertochter und muss um die Mittagszeit ein paar Kinder bekochen; wahrscheinlich würde sie davon sofort erzählen.