Ich achte darauf, öffentliche Großstadttoiletten nicht benutzen zu müssen. Aber niemand hat, trotz aller Selbstbeobachtung und Selbstbeherrschung, seine Verdauung völlig im Griff. Irgendwann, in der Nacht auf dem Heimweg zum Beispiel, nötigt uns der Körper, eine dieser Horrortoiletten frequentieren zu müssen. Obwohl wir wissen, was uns erwartet, werden wir, sind wir erst an Ort und Stelle, von einem doch wieder neuen Schrecken heimgesucht. Ist es der Schmutz, die Verkommenheit, der Geruch, das Elend der Körperflecken, das eingetrocknete Blut oder die plötzliche Verlassenheit, die aus den Einzelheiten hervorgeht? Oder gibt es eine Erfahrungsmitte, einen Zentralschrecken, der uns momentweise zu einem psychischen Krüppel macht? Die Zelle besteht aus einem länglichen, schmalen Gang und ist – in den meisten Fällen – mit einmal weiß gewesenen Kacheln ausgeschlagen. Die Kacheln sind vermutlich eine Art Notwehr gegen die Verschandler gewesen, die hier ihre große halbe Stunde erleben – oder erleben würden, wenn die Wände normale Wände wären und beschriftet beziehungsweise bemalt werden könnten. So aber ist die Toilette (wie eine Gefängniszelle) rundum mit abwehrbereiten Platten ausgestattet, die jeden Filzstiftangriff überleben. Mit einer Ausnahme: die Tür. Sie ist nicht verkachelt, sie ist aus Holz oder Presspappe, sie kann bemalt und beschmiert werden. Wer hier seine Notdurft verrichtet, muss lesen, was dem deutschen Schlichtmann in einer Toilette so einfällt. Dabei ist es immer dasselbe: weit offene weibliche Geschlechter, die gerade von einem großen männlichen Organ penetriert werden. Nein, noch peinlicher sind die Bekanntschaftsanzeigen, die neben den Zeichnungen untergebracht sind. Bildhübscher Schwuler hält jederzeit seinen Arsch hin (Telefon…). Sabine, 13, lässt sich in den Mund ficken. (Telefon …). Plötzlich ertönt eine Art Glücksmusik aus einem winzigen Lautsprecher. Sie erinnert mich an die schmusigen Töne von Billy Vaughn oder James Last aus den sechziger Jahren. Offenbar ist die Musik als Versöhnungsangebot gemeint. Das Erhabene in der Moderne entsteht durch den ungeplanten Zusammenprall von Elend und Kitsch. Natürlich ist dieses Erhabene nicht wirklich erhaben. Es ist die Erhabenheit des Bedrängtseins und der Überforderung. Hat das schon mal jemand untersucht? Ich würde den Ort gerne länger studieren, aber ich halte ihn nicht länger aus, ich muss fliehen, sofort.