Zum Glück hat Frankfurt bisher der Versuchung widerstanden, sich Literaturstadt zu nennen. Es gibt (oder gäbe) dafür ein paar deutliche Anreize. Immerhin lockt Jahr für Jahr die Buchmesse hunderttausende von Ausstellern und Besuchern in die Stadt. Verwenden ließe sich auch der Hinweis, dass der vermutlich bedeutendste deutsche Dichter ein Frankfurter war und hier seine Jugend verbrachte und außerdem ein heute noch oft gelesenes Werk über diese Jugend geschrieben hat. Merkwürdigerweise ist Frankfurt – trotz Goethe, trotz Adorno, trotz Schopenhauer, trotz Struwwelpeter – eine Stadt ohne literarischen Ruf geblieben. Für Frankfurt beruhigend muss man dazu sagen: Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Literaturstadt, obwohl es da und dort nicht an Versuchen mangelt, die eine oder andere Gloriole in die Welt zu setzen. In keinem einzigen Fall richten sich die Städte nach solchen Marketingansprüchen. Zum Beispiel ist die irische Hauptstadt Dublin stolz darauf, gleich drei weltberühmte Autoren (James Joyce, Samuel Beckett, Oscar Wilde) für ihre Heimatdichter halten zu dürfen. Aber Dublins Vitalität weist jeden musealen Anstrich energisch zurück. Auch in Lissabon regt sich dann und wann das Verlangen, sich die Schleife einer Literaturhauptstadt umbinden zu lassen, weil der kaum zu überschätzende Fernando Pessoa dort geboren wurde und viele Jahre lang in einem bedrückend belanglosen Büro gearbeitet hat. Ähnlich heftig bemüht sich das italienische Triest darum, noch heute davon zu profitieren, dass der grandios bescheidene Italo Svevo ein Sohn der Stadt war und seine Nachkommen noch heute dort leben. Wer Dublin, Lissabon oder Triest heute besucht, atmet erleichtert auf, dass diese Städte trotz aller Anstrengungen ihrem literarischen Ruhm entkommen sind. So ergeht es auch Frankfurt. Niemand spricht von Goethe, niemand von Adorno; alle sprechen von der Bankenstadt, der Autostadt, der Messestadt.