Die Zeit der Deutschen

Es ist schön, die Bleigewichte einer Pendeluhr aufzuziehen. Man kann sich einbilden, das eigene Schicksal in der Hand zu haben.

Heute haben wir eine elektrische Uhr aufgehängt, wie sie unsere Besucher haben. Die geht nach heutiger Zeit. Und daran sind nur unsere Besucher schuld, mit Verlaub gesagt.

Ich mache niemand einen Vorwurf, aber ich widersetze mich dieser Uhr. Ich schaue sie an und ziehe ganz automatisch ein oder zwei Stunden ab.

Mein persönlicher Zeitmesser ist und bleibt mein Körper. Die beschauliche Ortszeit, der Lauf der Sonne, regelt mein Leben. Die großartigen elektronischen Neuerungen der letzten Jahre sorgen doch nur dafür, dass wir herumhetzen. Das hält einen ganz schön auf Trab. Nach der offiziellen Zeit ist bald wieder Weihnachten. Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich alt bin. Die offizielle Zeit treibt und treibt uns.

Richtet man sich nach der Sonne, lebt man im Rhythmus mit der Zeit, man hat Zeit in der Zeit. Heutzutage hat man schon in der Jahresmitte, also im Juli zum Beispiel, den Eindruck, dass das Jahresende vor der Tür steht. Kaum kommen die Urlauber hier an, reden sie schon wieder von der Abreise.

Man könnte meinen, dass wir keine Zeit mehr haben. Das macht einen ganz kirre. Die Geschwindigkeit macht uns schwindlig, wir kriegen den Drehwurm. Die Leute funktionieren, und das gibt ihnen das Gefühl, dass sie Fortschritte machen. Aber in Wirklichkeit geht das Jahr heute nach, nicht vor, es geht nach.

Das gibt einem ganz schön zu denken, wenn es darum geht, wo du dich vom Acker machst.

Tief wie deine Furchen, gerade wie die meinen, ein bisschen krumm also, so lenkst du deine Schritte auf dein Ende zu. Da kannst du ruhig suchen, ob du etwas findest, damit du nicht unter die Erde musst, aber wenn du lebst, dann wirst du so enden. Und die Uhr sagt dir da auch nichts anderes. Sie schert sich nicht drum. Die alten Pendeluhren sind dafür das beste Beispiel. Sie sind auf Jahrhunderte ausgelegt!

Früher war ein Tag genau ein Tag, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt richten sich sogar die Jahreszeiten nach der elektronischen Uhr. Doch einem Huhn oder einer Kuh brauchst du nichts zu erzählen, die fallen auf so etwas nicht herein. Sie richten sich nach dem Stand der Sonne. Kühe fressen am Abend, wenn es kühl ist, nicht in der prallen Mittagssonne. Da halten sie ihr Mittagsschläfchen.

Die offizielle Zeit und ich kommen nicht gut miteinander aus. Häufig irre ich mich sogar in der Uhrzeit. Diese künstliche Zeit schafft meiner Meinung nach nur Missverständnisse. Am Schluss denkt man wie die, die sich nach dieser Zeit richten, nur damit man nicht ganz vom Leben ausgeschlossen ist. Es gibt nichts Dümmeres als um drei Uhr zum Fischen zu gehen, wenn die Ebbe um eins einsetzt. Das geht in die Hose. Wenn ich zum Beispiel um zwei Uhr Besuch bekommen soll, schaue ich auf die Uhr und sehe, es ist Mittag. Also alles in Ordnung, kein Grund zur Eile. Aber dann vergesse ich mitzurechnen. Der Besuch kommt, und wenn ich ihn dann zum Auto bringe, ist es drei Uhr nachmittags.

Daher richte ich den Blick immer auf meine Orientierungspunkte, meine Landmarken, die Felsen, die gegenüber vom Haus liegen, vor allem, wenn ich zum Fischen will. Aber zum Henker, plötzlich ist der Felsen überflutet und das war’s dann. Mein Hummerloch liegt unter Wasser. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Seit ich mich wie die anderen Leute nach der offiziellen Zeit richte, passe ich nicht mehr so gut auf. Früher, als ich noch nicht im Ruhestand war, haben mir der Stand der Sonne und mein Magen gesagt, wie spät es ist.

Mit der Ortszeit, der wahren Sonnenzeit, haben wir Alten sogar den Besatzern Widerstand geleistet. Als die Boches 1940 hier aufkreuzten, haben sie uns auch ihre Zeit aufgezwungen. Kaum waren sie da, zack, haben sie uns auch schon eine Stunde abgezogen. Daran erinnert sich keiner mehr, doch damals hat uns das schier verrückt gemacht, gerade auf dem Land. Niemand hätte sich gedacht, dass jemand so blöd sein könnte. Wir mussten die Besatzung über uns ergehen lassen, unser Vieh an die neue Zeit gewöhnen, und als es dann auch noch die Sperrstunde gab, brach das Chaos aus: bei der Milch, beim Schlaf, bei den Hühnern, die nicht in den Stall wollten. Ich hatte also nicht die geringste Lust, mich für den Rest meines Lebens nach der Zeit der Deutschen zu richten. Es war schon schwierig genug, nach ihrem Abzug alles wieder in den Griff zu bekommen 

Der Krieg nagt an einem, auch wenn er vorüber ist. Er macht dich alt, und zurück bleibt die Angst vor dem Hass zwischen den Menschen.

Ich habe nicht die geringste Lust, mich wieder auf die Zeit der Deutschen einzustellen.